Erziehung
«Wie erziehe ich meine Söhne zu guten Männern?»
Ist es heute schwerer, ein Junge zu sein als ein Mädchen? Unsere Autorin macht sich Gedanken darüber, wie sie ihre Buben zu guten Männern erzieht. Und was Mannsein heute bedeutet.
Ich habe zwei Söhne im Abstand von zwei Jahren geboren. Ich war drauf genauso wenig vorbereitet, wie wenn ich Mädchen bekommen hätte. Aber bei Mädchen hätte ich gewusst, was ich mir für sie erhoffe: dass sie wilde Mädchen und mutige Frauen werden, dass sie diese Welt für sich erobern, dass ihnen niemand sagt, ihre Träume seien zu gross, ihre Erwartungen zu hoch, dass sie sich durchsetzen und dies gerne auch laut.
Aber was wünsche ich mir für meine Söhne?
Die gleichen Wünsche klingen für einen Bub formuliert schwer nach klischierter Männlichkeit. Nach dieser Art breitbeiniger, selbstgefälliger Weltmännischkeit, die nie zögert, nie Fehler begeht, niemals anderen Recht gibt und Frauen schon gar nicht. Meine Söhne sollen keine solchen Männer werden – aber was dann? Wie man heute Töchter aufzieht, wie man sie ermutigt und stark machen kann – darüber liest man viel. Wie aber zieht man starke, selbstbewusste Söhne gross, in einer Welt, die männliche Dominanz ablehnt?
«Er darf bloss kein Arschloch werden», sagte sich die Feministin und Autorin Shila Behjat, als sie zum ersten Mal schwanger war und die Frauenärztin beim Ultraschall sagte, sie sehe «da unten was». Mittlerweile ist die deutsche Journalistin Mutter zweier Söhne und hat das Buch «Söhne grossziehen als Feministin» herausgebracht. Sie schreibt darin auch dagegen an, dass ihre beiden Söhne vorverurteilt werden, als laute und wilde Kerle, die sofort alles kaputtmachen und ständig streiten. Dass sie bemitleidet werde, zwei Söhne grosszuziehen, weil das anstrengend und so viel schwieriger sei, als Mädchen zu haben. Diese Sätze kenne ich gut. Ohne meine Jungs überhaupt zu kennen, gehen viele Menschen davon aus, dass sie schwierig sind, laut, sich nonstop prügeln, wenn sie nicht gerade einen Ball irgendwohin pfeffern.
Genderklischees belasten heute vor allem Jungs
Tja, was soll ich sagen, das Schicksal wollte es so, dass einer meiner Söhne ein Bub ist wie aus dem Klischee-Handbuch. Er ist laut, willensstark. Er weiss immer ganz genau, was er will und er bekommt es meistens. Er hat Ausdauer, er ist mutig, fast schon angstfrei. Einer dieser «wilden» Jungs, die spätestens ab dem Kindergarten nicht mehr herzig, sondern durchaus auch «ein bisschen ein Problem für den Klassenzusammenhalt» seien, wie es eine Lehrerin mal formulierte. Um dann noch dranzuhängen, dass es in dieser Klasse auch einfach zu viele starke Jungs habe. Man stelle sich vor, sie hätte das gleiche gesagt, aber Mädchen gemeint. Ich bin es leid, dass meine Söhne in Genderklischees gesteckt werden, völlig egal, ob sie ihnen entsprechen oder nicht. Es wird ihnen nicht gerecht, wie es Mädchen nicht gerecht wird, sie generell als sensibel und sozial zu beschreiben. Zwei Eigenschaften, die beide auch auf meinen «wilden» Sohn zutreffen, denn das eine schliesst das andere nicht aus.
Mithu M. Sanyal, Autorin und Feministin
Als ich meinen Söhnen erzähle, dass ich diesen Text schreibe, finden sie das Thema komisch. Ich frage zuerst den Zehnjährigen, was für Begriffe ihm zum Wort «Mann» einfallen. «Stark», sagt er, ohne eine Sekunde zu zögern. Danach folgt längeres Schweigen. «Männer sind doch nicht nur stark! Wie wäre es mit hilfsbereit oder liebevoll?», frage ich nach. Beide schauen mich skeptisch an. Dann holt der Zwölfjährige entnervt Luft und erklärt, meine Aufgabenstellung sei völlig unzulässig. «Du musst sagen, welche Person du meinst und dann kann ich sie mit Worten beschreiben, aber einfach «Mann», das heisst doch gar nichts, ein Mann kann alles sein.» Ich schaue ihn an und bin einmal mehr von diesem jungen Menschen überrascht, der so wenig sagt und so viel überlegt. Der mit seiner ruhigen, scheuen Art das Gegenteil seines jüngeren Bruders ist, und der noch nie einem Bubenklischee entsprochen hat. Der schon im Kindergarten gesagt hat, dass er keine Lieblingsfarbe habe, weil alle Farben schön seien, dass er keinen besten Freund wolle, weil alle seine Freunde seien. Der eines Tages für sich alleine beschloss, kein Fleisch mehr zu essen, einfach weil es besser so sei.
Du bist ein Bub und das Auto macht brummm
Meine Söhne sind dafür verantwortlich, dass sich meine Kategorien von männlich und weiblich immer mehr auflösen. Sie denken nicht in Genderschubladen. Das tut anfänglich kein Kind, aber alle Kinder suchen nach Ordnungsprinzipien, um die Welt zu verstehen, Gesetzmässigkeiten zu finden. Und eine der ersten, die wir ihnen anbieten, ist jene des Geschlechts. Du bist ein Bub, du trägst hellblaue Bodys und das ist ein Auto, brummmm. Das erste Wort meines jüngeren Sohnes war Zug. Nicht, weil er mit seinem männlichen Hirn scheinbar eine angeborene Affinität für Mobilität hat, sondern, weil wissenschaftlich längst erwiesen ist, dass Bezugspersonen mit männlichen Babys häufig über Züge, Flugzeuge und Autos reden, sie ihnen zeigen, Geräusche dazu machen. Die Bilderbuchsammlung meiner Söhne sah in ihren ersten Jahren aus wie die Sammlung eines Automobilfanatikers mit Vorliebe für Blaulichtorganisationen – bis ich anfing, bewusst Gegensteuer zu geben. Ich las ihnen «Pippi Langstrumpf», «Ronja Räubertochter» und «Sams» vor, begann, für sie TV-Serien zu suchen, in der auch mal Mädchen oder Frauen die Heldinnen sind. Ich gendere zu Hause Berufsbezeichnungen konsequent und lasse fast schon aus Prinzip meinen Mann alle Geburstagskuchen backen. Es hat sich gelohnt. Viele Dinge, die für mich noch geschlechtlich verhaftet waren, erleben sie neutral. Fussballspielende Mädchen, Feuerwehrfrauen, weinende oder schöppelende Männer.
Ich sehe aber auch, wie andere Menschen meine Buben darauf trimmen, mehr auszuhalten, tougher zu sein. «Du bist doch kein Mädchen», «sei keine Sissi», haben sie schon öfter gehört, als mir lieb ist. Und wehe, einer meiner Jungs kam früher im Sandkasten einem Mädchen zu nah, mopste dessen Schaufel oder warf Sand. Die Interventionen der Mädcheneltern waren stets heftig. Als müssten sie ihre Mädchen schon jetzt vor der potenziell männlichen Gefahr retten. Aber auch so, als würden sie ihren Mädchen keinesfalls zutrauen, sich selbst zu wehren. Wie denn auch in dieser Welt, wo Frauen doch meist die Opfer und Männer die Täter sind. Ich habe diese Mädchenmütter immer verstanden. Habe meine Buben stets harsch zurechtgewiesen. Keine Gewalt, niemals und schon gar nicht gegen Mädchen. Doch ich zementierte damit auch die Geschlechterklischees. Sie lernten im Sandkasten, dass sie das starke Geschlecht sind.
Wir müssen Buben mehr wie Mädchen behandeln
«Wo Mädchen auf ihren Körper und ihr Aussehen reduziert werden, werden Jungen von ihrem Körper entfremdet, wenn es darum geht, ihn zu schmücken und sich daran zu erfreuen», schreibt die Autorin Mithu M. Sanyal in ihrem berühmt gewordenen Essay «I will always love my male child». Buben dürften ihre Körper nutzen, um damit auf Bäume zu klettern, sich im Sport zu messen oder sich gegenseitig zu schlagen – «aber ihre Körper werden seltener gestreichelt, geschmeichelt und geschmückt», führt sie weiter aus. Und sie hat recht. Mit männlichen Babys wird weniger gesprochen, sie werden früher beim Spielen alleingelassen. Bei Streitereien unter Buben greifen Erwachsene später ein. Und vor allem Väter haben grosse Mühe, zu ihren Söhnen zärtlich zu sein, wenn diese aus dem Kleinkindalter raus sind. Wie sagte die grossartige US-Frauenrechtlerin Gloria Steinem schon vor vielen Jahren: «Schön, dass wir angefangen haben, unsere Töchter wie unsere Söhne zu erziehen. Aber es wird erst funktionieren, wenn wir auch unsere Söhne mehr wie unsere Töchter behandeln.»
Ich möchte für meine Söhne eine Welt, in der sie alles sein können. Stark und verletzlich, mutig und ängstlich, Hebamme und Feuerwehrmann. Ich werde alles daran setzten, sie zu warmherzigen, offenen, bewussten Menschen zu erziehen. Im Gegenzug erwarte ich, dass sie als genau diese Menschen erkannt werden und nicht für das, was sie äusserlich darstellen, pauschal verurteilt werden. Ich hoffe, das ist nicht zu viel verlangt.
Katja Fischer De Santi ist seit Mai 2022 Chefredaktorin von «wir eltern». Davor war sie 15 Jahre lang als Gesellschaftsjournalistin bei verschiedenen Tageszeitungen in leitenden Funktionen tätig. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Buben am Bodensee, weil dort die Gedanken so weit schweifen können.