Erziehung
Co-Regulierung: Was ist das wirklich?
Von Veronica Bonilla Gurzeler
Co-Regulation ist zu einem Trendwort in der Erziehungswelt geworden. Viele Eltern versuchen es, die meisten scheitern. Was steckt wirklich hinter dem Begriff?
Co-Regulation sei zum neuen Modewort in der Kindererziehung geworden, schrieb kürzlich die New York Times. Und auch im deutschsprachigen Raum taucht der Begriff in jedem aktuellen Erziehungsratgeber auf, etwa bei Nora Imlau (siehe Monatsgespräch ab Seite 30), Susanne Mierau, Nicola Schmidt oder bei Katja Seide, um nur einige zu nennen. Sie alle vertreten einen bindungs- und bedürfnisorientierten Erziehungsstil, der auf Einfühlsamkeit, Respekt und Gleichwürdigkeit beruht. Entscheidend dabei ist: Wenn das Kind weint und starke Gefühle hat, wird es damit nicht allein gelassen oder gemassregelt, sondern es wird eben co-reguliert. Meistens von seinen Eltern, die seine Gefühle wertfrei anerkennen und sich in angemessener Form um seine Bedürfnisse kümmern. So weit, so sinnvoll, wäre das in der Umsetzung nur nicht so sauschwer.
Lebensbedrohliche Gefühle
Bevor das Wort Co-Regulation im Kinderzimmer ankam, tauchte es in der Traumatherapie auf. Expert:innen auf dem Gebiet der Co- und Selbstregulation, wie die Berlinerin Kati Bohnet, arbeiten auch mit traumatisierten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Am Telefon erklärt die Traumatherapeutin, warum Co-Regulation so wichtig ist: «Neugeborene können anfangs weder ihre Temperatur selber regulieren noch ihre Emotionen. Rasch empfinden sie körperliche oder emotionale Zustände als lebensbedrohlich», sagt Kati Bohnet. «Als Erwachsene haben wir gegenüber dem Kind einen Erfahrungsvorsprung», erklärt Bohnet. Wir wissen, dass es – in der Regel – in den nächsten fünf Minuten weder verhungern noch verdursten oder erfrieren wird. Während wir herauszufinden versuchen, was es braucht, stimmen wir uns mit beruhigenden Worten auf das Baby ein oder nehmen es auf den Arm. Dadurch teilen wir ihm über unser eigenes Nervensystem unseren eigenen Zustand mit: «Ja, du empfindest das gerade als bedrohlich, aber ich kann dir versichern, so bedrohlich ist es gar nicht. Wenn du dieses Gefühl empfindest, dann bedeutet das, dass du wahrscheinlich Hunger hast und ich dir gleich was zu essen gebe. Dann wird es wieder besser.» So vermitteln Erwachsene dem Kind ein Gefühl von Sicherheit. «Physiologisch gesehen aktivieren Momente intensiver Emotionalität unser Reptiliengehirn», schreiben die US-amerikanischen Traumaexpert:innen Kathy L. Kain und Stephen J. Terrell in ihrem Buch «Bindung, Regulation und Resilienz». Von diesem ältesten Teil des Gehirns wird das vegetative Nervensystem gesteuert, auch autonomes Nervensystem genannt. Es regelt Abläufe im Körper, die man nicht mit dem Willen oder dem Verstand beeinflussen kann, wie Blutdruck, Puls, Atemfrequenz, Körpertemperatur, Verdauung oder Stoffwechsel, aber auch den sogenannten Kampf-Flucht-Reflex, auch bekannt als Säbelzahntiger-Reflex.
«Dieser wird im selben Moment ausgelöst, in dem eine Bedrohung wahrgenommen wird», so Kain und Terrell. Der Mensch wird dadurch befähigt, sich in Gefahrensituationen entweder zu verteidigen oder sich schnellstmöglich aus dem Staub zu machen. Erscheint das aussichtslos, bleibt noch der Totstellreflex: Man erstarrt und dissoziiert – das Bewusstsein entfernt sich aus dem Körper.
Sichere Bindung
Weil Säuglinge schon geringfügige Störungen als potenziell lebensgefährlich empfinden und sich nicht selbst beruhigen können, sind sie auf die feinfühlige Zugewandtheit der Eltern oder Bezugspersonen angewiesen, um eine gute Selbstregulation entwickeln zu können. Ohne diese sind sie ihren intensiven Gefühlen schutzlos ausgeliefert. Die sichere Bindung zu mindestens einem Erwachsenen ist für sie deshalb enorm hilfreich in diesem Prozess. Nur durch die liebevolle Zuwendung einer vertrauten Person kann sich ihr alarmiertes Nervensystem beruhigen. Erfährt das Kind regelmässig Co-Regulation, können sich neuronale Pfade oder Synapsen bilden und es lernt mit der Zeit, sich selber zu beruhigen. Laut Kain und Terrell ist die Fähigkeit zur Selbstregulation massgeblich für die Verarbeitung der Umwelteindrücke, die Unterscheidung zwischen echten und wahrgenommenen Bedrohungen sowie für die Selbstbeherrschung verantwortlich. Mehr noch: «Die Selbstregulationsfähigkeit ist notwendig, um gesunde Beziehungen einzugehen und gehört zu den Schutzfaktoren, die mit der Entwicklung von Resilienz verbunden sind.»
Selbst ruhig bleiben? Schwierig!
Manche Kinder finden schon mit drei bis fünf Jahren bei kleinen Irritationen allein wieder zurück in einen entspannten Zustand. Andere brauchen deutlich länger. Wie gut das Kind darin wird, hängt auch von der Fähigkeit der Bezugsperson ab, die Bedürfnisse des Kindes zu verstehen und dabei selbst ruhig zu bleiben. Denn Co-Regulation sei eine wechselseitige Interaktion zwischen Kind und Bezugsperson, schreiben Kain und Terrell. Letztere nimmt die Alarmsignale des Babys wahr, gerät vielleicht selbst kurz in einen Alarmzustand. Indem sie sich um das Kind kümmert und seine Gefühle anerkennt, beeinflusst sie auch ihren eigenen Zustand und wird ein bisschen ruhiger. Diese Entspannung überträgt sich von ihr auf das Baby – wie bei einem Tanz fliesst sie zwischen den beiden hin und her. Im besten Fall! Im schlechteren wiegeln sich die negativen Gefühle gegenseitig immer höher. Aus Angst wird Wut und Geschrei, Erschöpfung. Weil uns manchmal schlicht schleierhaft ist, was der Säugling oder das Kleinkind braucht. Weil es schon der dritte Schreianfall an einem einzigen Vormittag ist. Weil es an Zeit mangelt, die eigenen Nerven auf dem Zahnfleisch laufen oder mehrere Geschwister gleichzeitig lautstark ihre Bedürfnisse anmelden – und niemand da ist, der einen unterstützen könnte.
Kati Bohnet, Trauma-Expertin
Das kennt Kati Bohnet nur zu gut. «Ich war mit zwei kleinen Kindern selber früh alleinerziehend. Da hat manchmal nur die «Klo-Regulation» geholfen, erinnert sie sich. Also raus aus dem Stressgeschehen, sich einen Moment an einen ruhigen Ort wie das Klo zurückziehen. Durchatmen, sich spüren und im besten Fall selber beruhigen. Kati Bohnet findet es auch legitim, ein Kind kurzzeitig vorm TV zu parken, bevor man komplett ausraste und es anschreie. «Wir müssen uns erst selbst regulieren, damit wir andere co-regulieren können.»
Kommt dazu, dass die meisten Menschen als Kinder nicht optimal co-reguliert worden sind. Was dann passiere, zeige ein Blick auf unsere Gesellschaft, so Bohnet: «Wenn wir nicht mehr herunterfahren können, werden Angst und Stress immer mehr, bis es schliesslich zu Krankheit, Burn-out oder Kollaps kommt.» Um das zu verhindern, entwickeln wir alternative Regulationsstrategien: Wir treiben Sport, gehen in den Wald oder lenken uns mit Medienkonsum ab. Weniger gesund sind Nikotin, Medikamente, Alkohol und andere Drogen, die beim Stressabbau helfen sollen. «Auch exzessives Arbeiten, Shoppen, Feiern oder Essen sind Möglichkeiten, um nicht zu spüren, wie es uns wirklich geht.»
Wie umgehen mit den eigenen Gefühlen?
Die gute Nachricht: «Auch wenn wir schon älter sind oder die Kinder schon grösser, können wir noch lernen, uns auf gesunde Art zu regulieren», sagt Bohnet. Nämlich durch ganz viel zugewandte menschliche Interaktion in einem sicheren Rahmen, durch das bewusste Wahrnehmen und Akzeptieren der eigenen Gefühle und Empfindungen, aber auch durch regelmässige Übungen für das Nervensystem. Es sei ein bisschen wie mit dem Erlernen einer Sprache: «Am Anfang des Lebens geht es eher mühelos und schnell, später muss man sich regelmässig hinsetzen und üben.»
Lohnen tut es sich allemal, denn: «Nur wenn wir gut stehen, können wir andere gut halten», sagt Kati Bohnet.
Schmetterlingsübung
Verschränke die Arme vor der Brust und leg die Handflächen auf die Oberarme. Jetzt abwechslungsweise die linke und die rechte Handfläche wie Schmetterlingsflügel heben und senken. Dabei kannst du die Augen schliessen und wenn du magst, dazwischen ein paar Sekunden pausieren, dabei tief ein- und ausatmen.
Ohren kneten
Mit Daumen und Zeigefinger kannst du sanft deine Ohren kneten: vom Ohrläppchen, der inneren und äusseren Ohrmuscheln entlang bis zum oberen Ohransatz.
Gurgeln
Eignet sich als Ritual nach dem Zähneputzen oder vor dem Ins-BettGehen: Mit warmem Wasser und nach hinten gebeugtem Kopf gurgeln. Oder eine Minute lang mit einem Strohhalm in ein halbgefülltes Wasserglas blasen.
Summen
Summe in allen Tonlagen, werde leiser oder lauter, so wie es sich für dich gut anfühlt. Spüre, wie sich die Vibrationen vom Kehlkopf im ganzen Körper ausbreiten. Du kannst mit geöffnetem oder geschlossenem Mund summen oder zwischen beidem wechseln.
Schöne Dinge zählen
Wenn Wut oder Angst hochsteigt. Lass deinen Blick durch den Raum schweifen und zähle alle schönen Dinge, die du siehst. Oder zähle alles Rote. Oder spielt gemeinsam «Ich sehe etwas, das du nicht siehst».
Tipp
Kati Bohnet: «Die Reise des Schmetterlings», Mitmach-Buch für Kinder. Mehr Übungen: helperscircle.de