Erziehung
Verwöhnen wir unsere Kinder zu sehr?
Wächst da gerade eine Generation der Wattierten heran? Warum wir unseren Kindern mehr zutrauen – und auch zumuten sollten.
Ich war ein verwöhntes Kind. Ich wollte Ski in Rot, ich bekam Ski in Rot. Wollte ich Tanzunterricht, gabs Tanzunterricht. Partys waren okay, knutschen war okay. An fixe Aufgaben daheim kann ich mich nicht erinnern. Und wirklich niemals wurde ich gezwungen, etwas zu essen, das ich nicht essen wollte. Nein, nicht mal probieren. Wofür ich bis heute dankbar bin, denn damals gab es tatsächlich noch so Abscheulichkeiten wie «gekochte Zunge».
Verwöhnen, wo ist das Problem? Dachte ich bis vor Kurzem. Und gähnte, las ich wieder mal irgendwas über die segensreiche Wirkung von Ämtli-Listen für Kinder oder die düsteren Folgen eines sonnigen Lebenswegs. Was für ein langweiliger Unsinn! Ja, so dachte ich. Bis, ja bis, mir ein paar Zahlen und Fakten unterkamen:
• Ein Drittel der Erstklässler kann sich nicht selbst die Schuhe binden.
• Pampers verkauft inzwischen Windeln für Siebenjährige. Und grosse Windeln werden offenbar derart häufig genutzt, dass jüngst ein Schulleiter in der «Aargauer Zeitung» klagte, seine Primarschüler erschienen zuweilen gewickelt zum Unterricht.
• 36 Prozent der sechs- bis achtjährigen Schüler:innen bewältigen den Schulweg nicht allein, sondern werden von Eltern begleitet oder chauffiert.
• Jedes fünfte Kind zwischen sechs und zehn Jahren kann nicht schwimmen.
• 90 Prozent der Mütter und Väter helfen ihren Kindern, sagen Studien, regelmässig bei den Hausaufgaben.
Ach, es könnte endlos so weitergehen: Vierjährige im Buggy, die niemanden mehr stutzig machen. Steigende Umsätze bei Kinderhotels mit Rundumbespassung, die eigene Spielideen und kindliches Zeitmanagement überflüssig machen wie Schnee zu Pfingsten. Oder die geplanten Änderungen bei den Fussballminis. Da haben nämlich die Erwachsenen Folgendes ausgetüftelt: 4 Tore, 0 Torwart – auf dass niemand damit klarkommen muss, traurig, weil torlos, vom Platz zu trotten. Unnötig zu erwähnen, dass auch die Reservebank (zu deprimierend!) in den Schredder soll. Stattdessen: alle spielen, alle schiessen, alle siegen.
Claudia Roebers, Professorin für Entwicklungspsychologie.
Die «Rasenmäher-Eltern»
Das sind Befunde, die einen doch ins Grübeln bringen. Was ist das, was da passiert? Wächst da eine Generation der Wattierten heran? Der Unselbstständigen? Werden die Kinder heillos verwöhnt? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Denn in Wirklichkeit gibt es Verwöhnen und Verwöhnen.
Es Kindern liebevoll nett zu machen, ist nicht das Gleiche, wie sie unselbstständig zu halten, indem man ihnen jedes Steinchen aus dem Weg räumt. Jedem störenden Grashälmchen den Garaus macht. Und weil diese Mütter und Väter inzwischen nicht nur rare Einzelexemplare sind, gibt es sogar einen Sammelbegriff für sie: «Rasenmäher-Eltern»
«Ja, aber wo ist jetzt genau der Unterschied zum anderen Verwöhnen?», höre ich schon erste maulige Zwischenrufe. Ganz einfach: Wir «alteingesessen Verwöhnten» spielten nur dann in der Mannschaft, wenn wir gut genug waren. Sonst: Reservebank. Das fanden unsere Eltern gerecht und zuckten mitleidig, jedoch kurz, die Achseln. Wir hatten vielleicht Ski nach Wunsch, gurkten damit aber nicht eskortiert von Mama oder Papa in tellerflachen Kinderskigebieten herum, sondern fuhren dort, wo es unseren Eltern Spass machte.
Vielleicht mussten wir nicht das Altpapier bündeln, aber an ihrem Feierabend unsere Uffzgis zu erledigen, wäre ihnen nicht in den Sinn gekommen. Dein Zoo, deine Affen. Langeweile im Urlaub? Pech. «Denk dir was Schönes aus, dann hast du was ganz Frisches», hat mir meine Mutter in solchen Fällen vergnügt zugerufen, eine weitere Schicht Tiroler Nussöl aufgetragen und sich dann auf ihrer Sonnenliege von der anderen Seite gegrillt. Thema beendet. Und manchmal – ich trau mich gar nicht das zu sagen – frag ich mich heute auf Einladungen mit zehn Erwachsenen und einem einzigen Kind, weshalb die ganze Runde stumm «Der Dummi mit dem Flummi» aus der Toniebox hören muss, statt dass das Kind sich mal eine Weile selbst beschäftigt. Vielleicht nämlich, sei hier die steile These aufgestellt, vielleicht ist fehlende Selbstständigkeit gar keine Begleiterscheinung von Verwöhnen, sondern von Eltern, die sich selbst zu wenig verwöhnen.
Etwas mehr Eltern-Egoismus tut gut
Kann es sein, dass vor lauter es-gut-machen-Wollen, vor lauter Bindungsorientierung und Attachement Parenting, eine Portion gesunder Egoismus der Eltern über Bord geht und eben das für die Kinder gar nicht so toll ist? Hat die Psychologin Stefanie Stahl recht, wenn sie im «wir eltern-Interview» sagt, sie habe den Eindruck, heutige Mütter und Väter hätten das Gefühl, ihre berufliche Abwesenheit kompensieren zu müssen, «weshalb sie die gesamte Freizeit ausschliesslich auf die Kinder ausrichten.»
Ist es möglich, dass die «intensivierte Elternschaft», die die amerikanische Soziologin Judith Treas in einer Metastudie festgestellt hat, zwar ein von besten Absichten getragener Trend westlicher Industrieländer ist, aber auch ein Trend mit Kollateralschäden? Unselbstständigen Kindern beispielsweise?
Nur zur Klarstellung: Nein, niemand will zurück in finstere Zeiten autoritärer Erziehung. Und: Ja, es ist superschön, dass junge Eltern sich richtig ins Zeug legen und trotz gestiegenen Pensums der Berufstätigkeit mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen als jemals zuvor. Übrigens laut Bericht des deutschen Bundesfamilienministeriums täglich jeweils eine halbe Stunde länger als noch vor zehn Jahren, Akademikereltern eine ganze Stunde länger. Korrekter müsste es jedoch heissen: Es wäre superschön, wenn denn sämtliche Beteiligten die gemeinsame Zeit heiteren Herzens genössen und wenn das von 65 Prozent aller Eltern angestrebte zweitwichtigste Erziehungsziel«Selbstständigkeit des Kindes» erreicht würde – den ersten Platz belegt Ehrlichkeit – Dies aber ist beides sehr oft nicht der Fall.
Eltern in ständigem Alarmmodus
Vielmehr schreibt die emeritierte Pädagogikprofessorin Margrit Stamm in ihrem Blog, die Angst heutiger Eltern um ihr Kind hätte ein «fast schon schizophrenes Niveau» erreicht und der Wunsch, sämtliche Gefahren zu vermeiden – wie aufgeschürftes Knie, Magenverstimmung oder Sturz vom Velo – sei eine grössere Gefahr als die Gefahr selbst. Mit anderen Worten: Mütter und Väter sind nicht happy mit all dem wohlmeinenden Umflattern ihrer Kinder und durch den ständigen Alarmmodus ebenso gestresst wie dünnhäutig, während den Kindern wichtige Erfahrungen vorenthalten werden.
Denn zum Selbstständig- und Erwachsenwerden gehören nun einmal auch negative Erlebnisse. Und zwar eigene, selbst gemachte und bewältigte negative Erlebnisse. Schrammen, Frust, Schweissausbruch beim Reinwurschteln in die Skibindung, Angst vor dem Nachbarsdackel, vergeigte Prüfungen, sich mal verlaufen und zusehen, wie der Angeschwärmte die Klassenkameradin küsst. Mit Zunge. Doch mit Widrigkeiten angemessen umzugehen, kann nur lernen, wem Widrigkeiten zugemutet werden.
Oder wie sagt es die Paletten-Doktorfisch-Dame in «Findet Nemo» so schön zu Nemos Papa, der sein Söhnchen vor allen Gefahren beschützen möchte: «Du kannst doch nicht zulassen, dass ihm nie etwas passiert. Dann passiert ihm doch nie etwas.»
Christine Neresheimer, Entwicklungspsychologin und Dozentin an der PH Zürich, sieht das wie die Fischdame. Nur wissenschaftlicher. DIE Eltern könne man zwar nicht verallgemeinern, betont Neresheimer, dafür seien in der Schweiz die Milieus und Erziehungsstile zu unterschiedlich. Und doch: «Ich erlebe 25-jährige Student:innen, die mir erzählen, dass sie für ihre Prüfungen nicht eigenständig, sondern mit der Mama lernen. Und in den Primarschulen beobachten wir emotional überforderte Kinder, die mit Frustrationen, Scheitern, Zweiter statt Erster werden, Ängsten und generell mit negativen Gefühlen überhaupt nicht umgehen können.» Weil sie das daheim nicht gelernt hätten. Wo Eltern die besten Freunde des Kindes sein wollen, Harmonie der heilige Gral ist und Eltern jedes Versagen des Kindes als eigenes Versagen werten, hat selbstständiges Ausprobieren mit eingebauter Scheitermöglichkeit keinen Raum.
«Elternschaft ist heute enorm schwierig», sagt Christine Neresheimer, weil die Welt so beschleunigt sei. «Wenn man um acht Uhr bei der Arbeit sein und das Kind vorher in der Krippe abliefern muss, dann bleibt einfach keine Zeit dafür, dass das Kind 15 Minuten lang versucht, sich die Schuhe allein anzuziehen.» Bei knapper Zeit geht es flotter, selbst einzukaufen, als die Kinder loszuschicken, die dann mit Glace statt Brot zurückkommen. «Das darf man nicht verurteilen – hat aber Konsequenzen», sagt Neresheimer. «Vor allem, was die Selbstwirksamkeitserwartung der Kinder anbelangt.» Und das Gefühl von Selbstwirksamkeit, ist Neresheimer und mit ihr die pädagogische Forschung überzeugt, ist so eine Art Zaubertrank für eine starke Psyche und gutes Aufwachsen.
Egal was kommt, ICH schaff das
Die Überzeugung, dem Leben nicht hilflos ausgesetzt zu sein, sondern Einfluss auf dessen Verlauf nehmen zu können sowie das optimistische Vertrauen in sich selbst: Egal was kommt, ich schaff das schon. Bei vielen Kindern ginge stattdessen jedoch eine Schere auf: Sie seien emotional überfordert, gleichzeitig würde ihnen bei alltäglichen Dingen nicht genug zugetraut. Alleine den Rucksack packen, an die Bibliotheksbücher denken, auswärts übernachten, auch wenn das Gefühl dabei ein mulmiges ist. All so was.
Margrit Stamm, Erziehungswissenschaftlerin
Mutige Eltern haben mutige Kinder
Fehlen diese Herausforderungen, schreibt der israelische Psychologe Haim Omer in seinem neuen Buch «Mutige Eltern», entwickelten sich Kinder zu reduzierten Persönlichkeiten mit dysfunktionalen Grundüberzeugungen wie: Ich muss nicht aktiv werden, meine Eltern trauen mir nichts zu, weil ich nichts kann. Und: Situationen, die Angst erzeugen, gilt es, im Leben auf jeden Fall zu vermeiden. Aber was wäre ein Leben ohne solche Situationen? Arm an Erlebnissen, Erinnerungen und Erfolgen.
Muss man es denn nun machen wie die Amerikanerin Leonore Skenazy, die 2008 ihren damals Neunjährigen in Manhattan allein Subway fahren liess und damit nicht nur einen epischen Shitstorm erntete, sondern gleich auch noch unabsichtlich die Gegenbewegung «Free range Kids» ins Leben rief? «Ach was», sagt Claudia Roebers, Professorin für Entwicklungspsychologie an der Uni Bern, «Eltern müssen nun mal verhindern, dass Kinder sich den Hals brechen. Und sie müssen dafür sorgen, dass Kinder pünktlich in Schule und Kindergarten erscheinen. Selbstständigkeit hin oder her.»
Aber Selbstständigkeit, so Roebers, sei ohnehin ein schwammiger Begriff, der nicht allzu viel aussage, löse man ihn von dem einzelnen, individuellen Kind. Für ein schüchternes Kind kann es etwa schon sehr selbstständig sein, «Hallo» zu einem anderen Kind zu sagen. Während sich die Partynudel selbstständig im Ferienclub für den Taylor-Swift-Dance-Contest anmeldet und nichts dabei findet.
«Eigentlich liegt es in der Natur des Kindes, sich eigenständig genau die Herausforderung zu suchen, die es zu dem Zeitpunkt der Entwicklung aus eigener Kraft bewältigen kann», sagt Roebers: «Um diese perfekte Passung zu finden, muss man es einfach nur genau beobachten. Und dann machen lassen.»
Äh, ja. Aber was nun, wenn das Kind die Schuhe selbst binden kann, doch das Tram in zehn Minuten fährt? Wenn man es als Mutter schlicht grusig findet, wenn das Kleinkind selbstständig Kartoffelstock mit den Händen isst? Wenn es sich selbst die Milch eingiessen möchte, dummerweise aber die Hälfte daneben geht?
Sich selbst statt die Kinder verwöhnen
«Dann muss man als Eltern entweder im Vorfeld gleich mehr Zeit einplanen, um dafür Raum zu lassen oder man erledigt es halt fürs Kind», lacht Roebers. «Eltern dürfen sie selbst sein und Fehler machen. Eltern dürfen auch mal inkonsequent sein. Kinder verstehen das. Damit kommen sie gut klar.»
Perfekt? Muss nicht. Verhätscheln ab und an? Schadet nix. Konflikte? Dürfen. «Es ist völlig okay, zu seinem Teenie zu sagen: Freundchen, du könntest laufen, ich hab nämlich keine Lust, dich zu fahren», findet Claudia Roebers. Sich kein schlechtes Gewissen zu machen, sei generell eine gute Idee. Sich ein bisschen zurücknehmen, zu entspannen, selbst ein bisschen zu verwöhnen.
Denn Eltern mit guter Laune, guten Nerven und Selbstbewusstsein geben die Sicherheit, auf der Mut zur Selbstständigkeit gedeiht.