Ratgeber
Warum es nicht nur gut ist Babys ständig zu tragen
Lange galt: Ein Kleinkind kann man nicht oft und lange genug tragen. Doch stimmt das wirklich? Wir haben mit Fachleuten darüber gesprochen.
Alle tun es: der junge Vater von nebenan, das gefeierte Celebrity-Paar, die ökologiebewusste Mutter genauso wie die Influencerin mit fünf Vorzeigekindern. Wer sich sein Baby in einem farbigen Tuch oder einer gestylten Tragehilfe vor die Brust schnallt und so durch die Welt spaziert – der scheint alles richtig zu machen, tut viel für die Bindung und hat erst noch die Hände frei. Denn Menschenkinder seien Traglinge, so lautet der Tenor seit einiger Zeit. Tragen vermittle Sicherheit, Geborgenheit, fördere die gesunde Entwicklung und die Bindung zu den Bezugspersonen. Ein wahres Wundermittel, so scheints.
Doch ist ständiges Tragen wirklich das, was das Kind braucht und was ihm guttut? «Studien zeigen, dass Säuglinge weniger weinen, je näher sie bei ihrer Bezugsperson sind», sagt Oskar Jenni, Co-Leiter der Abteilung für Entwicklungspädiatrie am Universitäts-Kinderspital Zürich. «Das heisst aber nicht, dass sie nur in der Tragehilfe gut aufgehoben sind. Sinnvoll ist, wenn Kinder unterschiedliche Formen von Betreuung erleben.» Kritischer beurteilt Erziehungsbegleiterin und Ratgeberautorin Natalie Rehm den Tragetrend: «Die meisten Babys werden heute zu viel und vor allem falsch getragen. Das behindert ihre selbstständige Bewegungsentwicklung.»
Keine Frage, Menschen sind Nesthocker und darauf angewiesen, von Angehörigen ihrer Art in den ersten Lebensmonaten gefüttert, getragen, gepflegt – und vor allem auch! – geherzt und geliebt zu werden. Bis in die 1970er glaubte man in Europa und den USA, Kinder würden verwöhnt und zu selbstbezogenen Tyrannen, wenn sie zu viel Zuwendung erhalten. Babys schreien zu lassen, bis sie erschöpft verstummen, gehörte damals zur verbreiteten Erziehungsmethode. «Dahin wollen wir keinesfalls zurück», sagt Natalie Rehm. Denn heute wissen wir, dass Kinder psychische Schäden erleiden, wenn wir ihren Bedürfnissen nicht verlässlich nachkommen. «Je jünger sie sind, desto zeitnaher muss auf ihr Weinen reagiert werden», sagt auch Jenni.
Naturvölker leben anders
Das Tragen des Säuglings in einer Tragehilfe haben wir den Naturvölkern abgeschaut. In Afrika, Südamerika oder Indien erfordern es die Lebensumstände der ärmeren Bevölkerung, dass Babys von ihren Müttern oder einem älteren Geschwister in einem Tuch getragen werden. Natalie Rehm findet, dass man die Gewohnheiten und Gebräuche dieser Menschen nicht eins zu eins auf unsere Gesellschaft adaptieren könne: «Ihre Lebensbedingungen unterscheiden sich komplett von denen unserer technisierten und digitalisierten Welt.» Bereits 1987 stellten Forscher fest, dass sich die Kinder eines Stammes im paraguayanischen Bergland, die in den ersten Lebensmonaten ausschliesslich getragen wurden, motorisch langsamer entwickelten. Allerdings hatten sie diesen Rückstand mit zwei Jahren wieder aufgeholt.
In der Schweiz aber wachsen heute die meisten Kinder in Städten oder Agglomerationen auf und auch wenn sie auf dem Land leben, halten sie sich grösstenteils in Häusern auf, deren Böden mit der Wasserwage austariert wurden. Sind sie draussen, bewegen sie sich fast ausschliesslich auf hartem Untergrund. Auf Strassen, auf Spielplätzen, die komplizierten Sicherheitsnormen entsprechen müssen, in Autositzen, die ihre Bewegungsfreiheit komplett einschränken. Unebene Wiesen und Waldböden, holprige Wege und natürliche Klettermöglichkeiten, die ihre Geschicklichkeit fordern und fördern sind längst nicht mehr das natürliche Habitat unserer Kinder.
Zufriedene Kinder hinlegen
Das hat Folgen. Die WHO mahnt seit Längerem, dass sich Kinder vor allem im globalen Norden zu wenig bewegen und zu lange sitzen. 2019 hat sie in ihren Empfehlungen für die Bewegungsdauer deshalb erstmals auch Babys eingeschlossen: Im ersten Lebensjahr sollen sich diese mindestens eine halbe Stunde bewegen, im zweiten Jahr dann bereits drei Stunden täglich. Sitzen hingegen ist in beiden Jahren maximal eine Stunde pro Tag erwünscht.
«Die meisten Erwachsenen wissen nicht, wie wichtig es ist, dass das Kind eine gute Bewegungsentwicklung durchläuft», sagt Kleinkindexpertin Rehm. «Sie ist die Basis aller weiteren Entwicklungsschritte wie Sprechen und Denken.» Rehm beruft sich dabei auf die Erkenntnisse der ungarischen Kinderärztin Emmi Pikler (1902–1984), Pionierin und Vorreiterin in Sachen kindliche Entwicklung. Über viele Jahre hatte Pikler zuerst bei ihren eigenen Kindern, später als Familienärztin in Budapest und schliesslich in dem von ihr geleiteten Kinderheim beobachtet und dokumentiert, wie Kinder aus innerem Antrieb und eigener Kraft den aufrechten Gang erlernen. 1969 hat sie eine Habilitation über die selbstständige Bewegungsentwicklung publiziert. Daraus ist das Grundlagenwerk «Lass mir Zeit» entstanden, das in der Kleinkindpädagogik bis heute Beachtung findet.
Stundenlang in einer Tragehilfe getragen werden bei Emmi Pikler weder Neugeborene noch ältere Babys. Im Gegenteil. Immer dann, wenn sie ruhig und zufrieden sind, werden sie auf einer flachen und festen Unterlage abgelegt. «Weil Kinder so klein und empfindlich sind, möchten wir sie möglichst weich betten. Das ist jedoch kontraproduktiv, sie fühlen sich auf einem stabilen Untergrund sicherer und es fällt ihnen leichter, sich vom Rücken auf den Bauch zu drehen», sagt Natalie Rehm. Wichtig sei, dass das Kind genug Bewegungsfreiheit des gesamten Rumpfes habe, vor allem wenn es wach ist, denn: «Bewegung kann nur durch Bewegen gelernt werden», so Rehm. Sämtliche Gadgets wie Babywippen, Hängematten, Maxicosi und eben auch Tragehilfen schränken seinen Bewegungsspielraum ein und sollten gar nicht oder nur so kurz wie nötig benutzt werden. «Klar, für die Autofahrt, den Waldspaziergang oder auch für unterwegs im öffentlichen Verkehr sind diese Gerätschaften Pflicht beziehungsweise von grossem Nutzen und superpraktisch», sagt Rehm. «Danach ist das Kind in einem Kinderwagen mit flacher Grundlage, im Stubenwagen, auf dem Boden oder in einem geräumigen Spielgitter deutlich besser aufgehoben.»
Qualität in der Beziehung
Ein weiterer Grund dafür: Am Lebensanfang hat das Kind die Aufgabe, sich mit der Schwerkraft auseinanderzusetzen. Weil es gleichgewichtslos geboren wird, muss es erst üben, seine Gleichgewichtslage stabil zu halten. Um diesen Prozess nicht zu stören, empfiehlt Pikler, Babys in den ersten Monaten nur horizontal hochzuheben und zu tragen. «Frühestens wenn es anfängt, sich aus eigener Kraft auf den Bauch zu drehen und lernt, seinen Kopf selbst zu halten, können wir es auch in der aufrechten Position tragen.» Entwicklungspädiater Jenni sieht das anders. Nach seiner Auffassung dürfen Babys schon früher aufrecht getragen werden: «Wichtig ist, dass sie ihren Kopf selber halten können und genug Körperstabilität haben.»
Doch was ist mit dem viel beschriebenen Urvertrauen, der Bindungsentwicklung, die die Basis ist für ein glückliches Leben, wenn das Kind weniger getragen wird? Emmi Pikler war der Ansicht, dass eine vertrauensvolle Beziehung zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen vor allem durch bewusst gestaltete Pflegesituationen entsteht. Säuglinge sind ja in jeder Hinsicht von unserer Fürsorge abhängig. Wir nehmen sie auf, um ihre Windeln zu wechseln, sie zu baden, anzuziehen und zu füttern. Wir tragen sie vom Badezimmer auf den Wickeltisch und während wir dies alles tun, ist es laut Pikler unsere Hauptaufgabe, mit unserer ganzen Aufmerksamkeit beim Kind zu sein. Ihm anzukündigen, was wir gerade vorhaben. Feinfühlig auf seine Reaktionen einzugehen. «Alle diese Tätigkeiten nehmen täglich mehrere Stunden in Anspruch – eine gute Gelegenheit, um eine nahe Beziehung zum Kind aufzubauen, in der es sich sicher, wohl und geborgen fühlt», sagt Natalie Rehm. Danach könne das Kind hingelegt werden und – Überraschung! – während es wach ist, erledigen wir unsere Alltagsarbeiten. «Das Baby beschäftigt sich mit sich selbst oder schaut uns zu, kriegt mit, was wir gerade tun; wir sind ihm pausenlos Vorbild, vom ersten Lebenstag an.»
Klingt überzeugend und entlastend noch dazu – schliesslich kann ein Baby zu tragen, ganz schön anstrengend werden. Allerdings: So easypeasy läuft es nicht immer. Besonders in den ersten Lebenswochen hat das Kind so viele Anpassungsleistungen an diese Welt zu bewältigen, dass es öfter mal unruhig ist, jammert oder weint. Natalie Rehm empfiehlt «das kleine Angebot zuerst» zu machen, es also nicht sofort zu stillen oder auf den Arm zu nehmen, sondern: prompt zu ihm hingehen, mit ihm sprechen, eine Hand auf seinen Oberkörper legen, versuchen herauszufinden, was sein Bedürfnis ist und dieses wenn möglich befriedigen. «Weint das Kind weiter, nehmen wir es selbstverständlich auf den Arm. Fangen nun aber nicht an, es zu schaukeln oder rumzutragen, sondern halten es einfach, hören ihm zu, sprechen beruhigende Worte», so Rehm. Das ist leichter gesagt als getan, denn kaum etwas ist so schwierig auszuhalten wie das Weinen eines Babys. «Wenn wir das Kind jedes Mal sofort hochnehmen, wenn es weint, es wiegen oder mit ihm herumgehen, gewöhnt es sich daran, bewegt zu werden. Bald wird es sich nicht mehr anders beruhigen lassen», sagt Rehm. Das kann für die Eltern zur Zerreissprobe werden.
Das Kind weniger zu tragen, bedeutet also, das Augenmerk weniger auf die Dauer der körperlichen Nähe zu legen, sondern mehr auf deren Qualität. Entwicklungspädiater Oskar Jenni erklärt dies anhand der beiden griechischen Götter Chronos und Kairos: Chronos, der Gott des stetigen Zeitflusses, stellt die Quantität der Zeit dar, Kairos ist der Gott des rechten Augenblicks, der günstigen Gelegenheit. «Manchmal ist Kairos wichtiger als Chronos», so Jenni. «Man kann das Kind acht Stunden am Tag tragen und die guten Momente für einen nahen Kontakt verpassen. Ist das Kind jedoch parat für eine Interaktion und die Eltern erkennen dies, hat es grosse Auswirkungen auf die Bindungsentwicklung.»
Veronica Bonilla wollte früher Fallschirmspringerin werden. Seit sie den freien Fall bei der Geburt ihrer Kinder erlebt hat, hat sich dieser Wunsch in Luft aufgelöst. Übergänge und Grenzerfahrungen faszinieren sie bis heute. Dabei liebt sie es, um die Ecke zu denken und sich davon überraschen zu lassen, was dort auftaucht. Und stellt immer wieder fest, dass ihr Herz ganz laut für die Kinder schlägt. Sie war bis 2022 auf der Redaktion fest angestellt, seither als Freie für das Magazin tätig.