Interview
Ich verdränge den Tod nicht mehr
Die ehemalige Radiofrau Franziska von Grünigen widmet sich äusserst lebendig dem Sterben. Als Audiobiografin hört sie todkranken Eltern zu, wenn sie von ihrem Leben erzählen. Und in ihrem Podcast fragt sie nach der perfekten Musik für die eigene Beerdigung.
Franziska von Grünigen, warum lässt dich der Tod nicht kalt?
Ich könnte jetzt ganz lapidar sagen, dass der Tod zum Leben dazugehört und sich nicht damit zu befassen, schlicht ignorant sei – aber wenn ich ehrlich bin, beschäftigt mich das Sterben schon seit meiner Kindheit. Diese Urangst, meine Eltern durch einen Unfall zu verlieren, war bei mir sehr präsent. Als Teenager schlug meine Ohnmacht vor dem Tod dann in Interesse um. Ich begann Bücher über Totenkult zu lesen, kleidete mich als Grufti ganz in Schwarz, fand alles anziehend, was düster und gruselig war, zum Beispiel Spaziergänge über den Friedhof.
Hast du frühe Erfahrungen mit dem Verlust von geliebten Menschen gemacht?
Nein, das ist ja das Seltsame, ich habe dauernd über den Tod nachgedacht, aber ausser meiner Grossmutter sehr lange niemanden verloren. Erst als junge Erwachsene kamen die ersten Todesfälle im erweiterten Umfeld. Ein junger Journalist starb an einem Hirntumor, ein Kind im Bekanntenkreis hatte einen tödlichen Unfall. Diese Todesfälle haben in mir eine starke Reaktion ausgelöst, eine Art rastloses Vibrieren.
Heute gehst du als Audiobiografin zu sterbenskranken Müttern und Vätern und lässt sie aus ihrem Leben erzählen. Was treibt dich dazu an?
Ich möchte diesen Müttern und Vätern die Gelegenheit geben, etwas sehr Persönliches zu hinterlassen: die Geschichte ihres Lebens, mit ihrer Stimme erzählt. Das ist ein grosser Schatz – und diesen Eltern ein riesiges Bedürfnis. Um ihren Kindern auch über ihren eigenen Tod hinaus etwas mit auf den Lebensweg geben zu können. Sie erzählen von ihrer eigenen Kindheit, von ihrem ersten Liebeskummer, Reisen und Ausbildungen, dem Kennenlernen, der Geburt der Kinder, sie erzählen, was sie das Leben gelehrt hat. Sie bleiben auf diese Art unvergessen.
Wie bist du auf die Idee mit dem akustischen Erbe gekommen?
Das war ein längerer Prozess. Bis 2018 war ich mit einem Teilzeitpensum Produzentin der Sendung «Nachtwach» bei SRF und hatte Woche für Woche mit vielen berührenden Schicksalen zu tun. Dann wurde ebendiese Sendung im Rahmen einer Sparmassnahme eingestellt. Ich hätte einfach bei SRF3 mehr moderieren können, aber ich wollte etwas, das mehr an den Kern geht, relevanter vor allem für mich selbst ist. Ich habe mich zu dieser Zeit schon mit Trauerund Sterbebegleitung befasst. Als ich per Zufall einen Dokumentarfilm über das deutsche Projekt «Familienhörbuch» sah, war ich wie elektrisiert. Ich wusste sofort, dass ich das auch in der Schweiz anbieten möchte. Es war wirklich eine fast schon körperliche Erfahrung. Ich habe dann zusammen mit der Journalistin Gabriela Meissner, die zeitgleich auch auf das Projekt aufmerksam wurde, 2020 den Verein «Hörschatz» gegründet. Wir finanzieren uns über Spenden und produzieren pro Jahr zwischen 25 und 30 «Hörschätze» für todkranke Eltern von minderjährigen Kindern.
Wie bereitest du dich auf diese intensiven Gespräche vor?
Der erste Kontakt ist meist am Telefon und oft sehr emotional. Aber wenn ich diese Personen dann alleine treffe, an einem ruhigen Ort, treten Tod und Verzweiflung sehr schnell in den Hintergrund. Dann geht es um das Leben, um Erlebnisse, Liebe und Dankbarkeit. Die Menschen erkennen oft erst beim Erzählen, wie reich ihr Leben war.
Gehst du schwer aus diesen Gesprächen?
Vielleicht dann, wenn ich merke, wir sind sehr spät dran mit den Aufnahmen. Die Person hat nicht mehr die Kraft, alles zu sagen, was sie möchte, hat vielleicht schon grosse Erinnerungslücken oder Wortfindungsstörungen. Das ist dann schon sehr bedrückend. In den meisten Fällen gehe ich aber mit einer Mischung aus erfüllt und völlig durchgenudelt aus den Aufnahmen. Wir lachen zusammen und weinen zusammen, ich lasse mich berühren von diesen Menschen und ihren Geschichten. Aber meine Rolle ist klar – ich bin die Audiobiografin. Das ist wichtig für mich, damit ich nicht anfange zu verschwimmen in diesem Gefühlsstrudel.
Behältst du den Kontakt zu den Familien?
Das ist sehr unterschiedlich. Manchmal geben wir den fertig geschnittenen Hörschatz ab und fertig. Bei anderen hingegen geht der Kontakt über den Tod hinaus weiter. Einmal hat mir eine Mutter geschrieben, dass sie wieder im Spital sei, diesmal ohne Retourschein, und sie glaube, dass der «Hörschatz» bald zum Einsatz kommen wird. Ein paar Wochen später bekomme ich die Todesanzeige und dann die Mitteilung des Vaters, dass sie den «Hörschatz» zu hören angefangen haben. Auf diese Weise in Kontakt bleiben zu können, finde ich sehr schön.
Gibt es auch Aufnahmen, die abgebrochen werden?
Ja, das gibt es. Ich hatte gerade so einen Fall mit einer Mutter, die mir sagte, dass sie noch genug Zeit habe und sie darum den Termin zweimal verschob. Dann ging es plötzlich schnell und sie ist verstorben.
Wie lange dauert eine fertige «Hörschatz»-Aufnahme?
Das ist ganz unterschiedlich, von 10 Minuten bis 10 Stunden. Am liebsten bin ich drei Tage nacheinander bei jemandem zum Gespräch und schneide daraus dann bis zu 80 Kapitel. Aber bei einer Person im Hospiz ist manchmal nicht mehr möglich als eine Liebeserklärung oder ein gesummtes Gutenachtlied.
Was hast du für eine Haltung gegenüber dem Tod?
Ich habe gelernt, dass der Tod etwas ist, von dem man nicht wegrennen kann und soll. Besser ist, sich dem Tod zu stellen, mit einer aufrechten und würdigen Haltung. So fühle ich mich nicht mehr ausgeliefert und ohnmächtig, wie es als Kind der Fall war. Unterdessen akzeptiere ich den Tod wirklich als Teil des Lebens. Ich verdränge nicht mehr, dass es ohne Tod kein Leben gibt.
Ist es nicht schrecklich, dauernd daran erinnert zu werden, dass wir jederzeit aus dem Hier und Jetzt gerissen werden können?
Ja und nein. Ich lerne mit jeder dieser Begegnungen, wie man mit dem eigenen Tod positiv umgehen kann, wie man darüber reden kann, auch schon mit kleinen Kindern. Das ist ein grosses Geschenk.
Und andererseits?
Ist der Tod dadurch auch überpräsent in meinem Leben. Ich muss schauen, dass ich es nicht für völlig alltäglich halte, dass Menschen in meinem Alter an tödlichen Krankheiten sterben. Denn eigentlich ist es eine sehr kleine Zahl, die dieses Schicksal trifft. Aber ich sehe ja immer nur die, die sterben, nicht die, die solche Krankheiten auch überleben.
Bist du dadurch vorsichtiger geworden?
Wachsamer sicher. Wenn mein Partner dreimal hintereinander völlig erschöpft von der Arbeit kommt, dann denke ich sofort, das könnte das erste Symptom einer schlimmen Krankheit sein. Meine Familie beruhigt mich dann jeweils wieder.
Denkst du auch häufig daran, dass du oder deine Kinder sterben könnten?
Ja, daran denke ich jeden Tag.
Versuchst du dadurch, besondere Momente mehr zu geniessen?
Ich versuche, kleine Momente der Nähe und Innigkeit regelmässig zu schaffen und sie auszukosten. Es ist mir sehr wichtig, dass meine Kinder jederzeit wissen, dass ich sie mega gerne habe.
Lebst du unmittelbarer?
Nicht unbedingt, aber was mir auffällt, ist, dass ich gegenüber den kleinen Problemen des Familienalltags toleranter geworden bin. Weil ich weiss, dass die kranken Mütter und Väter wirklich alles geben würden, um ihren Kindern noch viel länger beim Trödeln am Morgen zuschauen zu können. Wenn man sich dessen bewusst ist, ist vieles erträglicher.
All deine Projekte haben mit der Stimme zu tun. Was fasziniert dich so sehr am Auditiven?
Das Radio ist mein Medium. Ich bin in einer Radiofamilie aufgewachsen (Anm. der Red. Heinrich von Grünigen, langjähriger Programmleiter bei Radio DRS, und Moderatorin Verena Speck sind die Eltern von Franziska), ich habe 20 Jahre lang bei SRF Radio gemacht, liebe es, Geschichten zu hören und Geschichten zu erzählen. Unsere Stimme trägt so viele Emotionen und Stimmungen mit sich, die Bilder entstehen dazu im Kopf. Und die Stimme ist leider das, an was wir uns als Erstes nicht mehr erinnern können.
Erzählst du deinen Kindern Geschichten?
Ja, meine Kinder wollen jeden Abend, dass ich von früher erzähle. Etwas über Ferien, über Schule, etwas aus meinem Leben.
Du machst mit ihnen ein «Hörschatz» auf Raten?
Ja, genau, das habe ich aber schon gemacht, bevor ich mit diesem Projekt begonnen habe. Ich müsste es vielleicht einfach mal aufnehmen. Alle Kinder lieben doch Geschichten von früher.
Dein Vater Heinrich von Grünigen ist 2021 verstorben, hat er dir einen «Hörschatz» hinterlassen?
Ich habe meinen Eltern ein halbes Jahr vor dem Tod meines Vaters einen akustischen Adventskalender geschenkt. Sie mussten jeden Tag ein Kärtchen mit einer Frage darauf ziehen und die Antwort mit dem Handy aufnehmen. Diese Sprachnachrichten haben sie mir dann geschickt. Das ist mein Hörschatz von den beiden. Und ich würde es wirklich jedem und jeder empfehlen, das mit seinen Eltern und Liebsten zu machen. Wir vergessen so schnell, wie eine Person geklungen hat, und die Stimme wieder zu hören, kann so tröstlich sein.
Du hast auch einen Podcast mit dem Titel «My last Goodbye», dort erzählen Jung und Alt, wie sie sich ihren Abschied für immer vorstellen, anhand eines Fragebogens. Hast du diese Fragen auch schon beantwortet?
Nein, ich wollte es zur 100. Folge tun, habe es aber nicht gemacht und spare es mir für die 200. Folge auf.
Dann stelle ich dir jetzt zwei Fragen davon. Was würdest du unbedingt noch tun wollen, wenn du morgen sterben würdest?
Die Antwort darauf ist etwas tragisch: Ich würde unbedingt aufräumen wollen. Ich bin sehr chaotisch, vor allem in meinem Büro, und es plagt mich der Gedanke, dass meine Familie nach meinem Ableben in diesem kreativen Chaos wühlen müsste. Es macht mir richtig Bauchweh, darum würde ich aufräumen.
Und wenn du fertig bist mit Aufräumen?
Zeit mit meinen Kindern verbringen. Mit ihnen kuscheln und knuddeln, ihnen sagen, wie lieb ich sie habe, ihnen Mut machen für alles, was noch kommt.
Und welche Musik soll an deiner Beerdigung laufen?
Ganz klar Dabu Fantastic mit «Mit De Rabe». So ein toller, luftiger Song, der vom Wachsen und Vergehen handelt. Dazu stelle ich mir eine Beerdigung in einem Friedwald vor, an einem hellen Tag, wo das Licht am Boden tanzt, während meine Asche verstreut wird.
Du hast 143 Folgen von «My last Goodbye» gemacht, gibt es eine Antwort, die immer wieder kommt?
Ja, mehr Zeit mit den Liebsten verbringen, das sagen fast alle unisono.
Will niemand noch auf den Himalaja steigen?
Nein, eigentlich nicht. Aber ich habe gerade eine Folge mit Kindern gemacht, und die sagen schon, dass sie dann noch ein paar richtig gefährliche Dinge ausprobieren würden, weil es dann ja egal sei, wenn sie sterben.
Dieser Podcast ist ein Angebot, sich mit dem eigenen Sterben zu befassen, auch wenn man noch quietschfidel ist. Warum findest du das wichtig?
Weil durch die Auseinandersetzung mit dem Tod das Leben mehr Beachtung bekommt. Gedanken an das eigene Ende können schmerzhaft sein, können aber auch gelassener machen und uns ein Gefühl von Selbstbestimmung geben.
Was soll von deinem Leben nachklingen?
Ich hätte Freude, wenn meine Kinder ihren Kindern dereinst erzählen würden, dass sie eine lässige Mutter hatten, die sie ermutigt und unterstützt hat. Das ist mir wichtiger als irgendetwas, das ich erreicht oder geschafft habe.
Und was ist mit deiner Person neben der Mutterrolle?
Dass ich immer wieder Tätigkeiten und Projekte gefunden habe, in denen ich meine Stärken voll ausleben und meine Ideen mit Leidenschaft und Erfolg umsetzen konnte und dies trotz meines manchmal etwas chaotischen Kopfs.
1978 geboren, war jahrzehntelang Radiomoderatorin bei SRF (u. a. «Nachtwach», «Fokus») und ist Mutter zweier Kinder (8 und 10 Jahre), die Familie lebt in Winterthur. 2020 hat die Journalistin und Audiobiografin den Verein «Hörschatz» mitgegründet, um sterbenskranken Eltern ein hörbares Erbe für ihre Kinder zu ermöglichen. Auch in ihrem Podcast «My last Goodbye» geht es ums Sterben und die Frage, wie wir uns unseren Abschied vorstellen.