Homeschooling
Schule im rollenden Klassenzimmer
In die Roulotte kommen Homeschooling-Kinder, um einmal in der Woche mit der Lehrerin Rebecca Romano immer wieder an einem anderen Ort zu lernen. Wir haben die Dienstagsgruppe einen Morgen lang begleitet.
Keine langen Gänge, kein Kindergekreisch, keine Klingel. Schule geht auch anders. Kleiner. So klein, dass sie von einem – starken! – Auto gezogen und überall hingefahren werden kann. Das ist die Roulotte, ein Bauwagen, ausgebaut zu einem winzigen fahrenden Schulzimmer. Mit Schulbänken, Wandtafel, Zeichnungen an den Wänden. Und mit Auflaufbremsen wie ein Wohnwagen, damit die Roulotte auch auf die Strasse darf.
An diesem Dienstagmorgen kurz vor halb neun steht die Roulotte noch auf ihrem Standplatz hoch über dem Dorfkern von Steffisburg (BE). Innerhalb von wenigen Minuten springen die sechs Schülerinnen und Schüler aus den Autos ihrer Eltern. Das eindrückliche Bergpanorama vor ihren Augen interessiert keines der Kinder und auch die Roulotte wird nicht beachtet. Ein gelbes Ungetüm stiehlt die Show, ein Mähdrescher, wie die Kinder wissen. Zusammen mit Lehrerin Rebecca Romano (56) gehen sie ums Gefährt herum. Nik erklärt, wie es funktioniert, wo die Körner rausgepustet werden. Und schliesslich kraxeln alle, die wollen, flink die Leiter in den Führerstand hoch – was für ein Spass! Der Bauer, dem der Platz gehört, weiss, dass die Kinder keinen Blödsinn machen und lässt sie auf den landwirtschaftlichen Fahrzeugen rumklettern, die er neben der Roulotte parkt. Schule findet hier eben nur am Pult statt, wenn es unbedingt sein muss.
Nach einem kurzen Morgenkreis solls losgehen. «Wer will die Stützen raufdrehen?», fragt Rebecca Romano. Sara übernimmt die erste, die anderen Mädchen die übrigen drei, Nik und Isaia sind noch auf dem Mähdrescher. «Rebecca, me sett mal d Roulotte putze», ruft Isaia und zeigt aufs Dach runter. Die Lehrerin lacht und steigt in den Landrover, startet den Motor und fährt langsam rückwärts auf die Roulotte zu, «no chli rächts… no chli meh», weisen die Mädchen an und gemeinsam schieben sie die Kupplung des Autos in die Deichsel der Roulotte. «Für solche Manöver habe ich eine Fahrstunde genommen, ich wollte wissen, welche Tricks und Tipps Profis haben», sagt Romano.
Noemi, 10
Mit dem Zirkus unterwegs
Das war vor fünf Jahren, im Juni 2017, ein Jahr nachdem die Idee des rollenden Schulzimmers geboren worden war. So ist es dazu gekommen: Romanos Freunde Nicole und Martin, die mit dem gleichnamigen Zirkus-Theater im Sommerhalbjahr durch Europa touren, hatten einen Notfall. Ihre Lehrerin war krankheitshalber ausgefallen. Sie brauchten jemanden, der ihre beiden Kinder unterrichtete. Aber auch beim Zeltauf- und -abbau half, dem Publikum die Plätze zuwies, das Bühnenbild wechselte und bei der Weiterfahrt an den nächsten Spielort einen Geländewagen mit Anhänger fuhr. «Die Aufgabe reizte mich sehr, anderseits waren unsere Töchter mitten in der Pubertät», erzählt Romano. «Doch mein Mann meinte, ‹das wolltest du doch immer schon machen›.» Also bat sie ihren Arbeitgeber, die Steinerschule in Steffisburg, um unbezahlten Urlaub, packte ihre Koffer und flog nach England.
Drei Monate war sie als reisende Lehrerin unterwegs. Besonders gut gefiel es ihr, die wechselnde Umgebung in den Unterricht einzubeziehen: im Vorhof eines englischen Schlosses die Monarchie. Im Ötzimuseum in Bozen die Gletschergeschichte. Am Atlantik die Landung der Alliierten. Als das Theater in Nyon gastierte, kam ihr Mann, der ebenfalls Pädagoge ist, auf Besuch: «Er sah mich mit den Kindern auf der Treppe des Zirkuswagens sitzen und meinte spontan: ‹Das machst du weiter. Ich helfe dir beim Konzept.›»
Nach einer kurzen Fahrt durchs Dorf ist die Gruppe mit ihrem rollenden Klassenzimmer im Schlepptau auf einen öffentlichen Parkplatz direkt am Fluss Zulg angekommen. Ruckzuck ist die Roulotte parat für den Unterrichtsbeginn: Stützen runterkurbeln, Türen und Vorhänge öffnen, Campingtisch und Hocker vor dem Fenster ausklappen. Drei Kinder sitzen drin am Tisch, drei draussen und zusammen singen sie als Einstimmung auf ihr Quartalsthema Aviatik den «Alpenflug» von Mani Matter. Wenn sich jemand bewegt, schwankt der Wagen sanft wie ein Flugzeug, und die Filzglöcklein über dem Waschbecken schaukeln leise.
Isaia, 9
Immer wieder in Bewegung
Jetzt nehmen die Kinder ihre Hefte hervor. Die Lehrerin zeichnet Pfeile, Linien und Bögen auf die Wandtafel, die hier eine Türtafel ist. Die Kinder zeichnen ab und vervollständigen die Formen spiegelverkehrt. Danach gehen alle nach draussen und Romano erklärt vor dem Wagen die einzelnen Posten, die sie nun in Zweigruppen bearbeiten. In zwei Wochen wird die Gruppe die Rega-Basis in Wilderswil besuchen; heute üben sie, wie ein korrekter Funkspruch abgesetzt wird, oder schreiben Fragen auf, die sie der Rega stellen wollen. Während die Lehrerin erklärt, zeichnet Nik mit den Füssen die eben gelernten Formen in den Kiesboden. Statt ihn zur Aufmerksamkeit zu mahnen, hat Romano Verständnis: «Ich bin selber jemand, die gerne in Bewegung ist. Was Nik tut, ist Lernen mit dem ganzen Körper», freut sie sich.
Im Kanton Bern hat sich die Zahl der Kinder, die privat unterrichtet werden, im vergangenen Jahrzehnt mehr als vervierfacht. Von 166 im Schuljahr 2012/13 auf 664 im 2019/20. In der Schweiz bestimmen die einzelnen Kantone, welche Bedingungen für den Privatunterricht gelten und die kantonalen Unterschiede sind entsprechend gross. Eines ist aber schweizweit gleich: Der Lehrplan muss eingehalten werden.
Nik, 11
Begleitung der Eltern
Im Unterschied zu anderen Kantonen brauchen Eltern im Kanton Bern kein Lehrpatent, um ihre Kinder zu Hause zu unterrichten, sie müssen aber von einer pädagogisch ausgebildeten Person begleitet werden. Diese Unterstützung bietet Romano – mit ihrem Angebot in der Roulotte und indem sie Eltern und Kindern hilft, den Unterricht daheim zu planen und zu strukturieren. Praktische Fragen stellen sich, wie: Lernen die Kinder am besten frühmorgens? Oder, wenn die Pubertät aus Frühaufstehern Langschläferinnen macht, besser erst gegen Mittag oder nachmittags? Wie können die persönlichen Interessen der Kinder mit den Lehrplaninhalten vereinbart werden? Einmal in der Woche kommen die Kinder einen Morgen lang in die Roulotte und auch hier passt sich der Unterricht den Vorlieben der Kindergruppe an: Steht mehr das Erlebnis oder der Lernstoff im Vordergrund? Wichtig ist Romano, dass die Bildungsverantwortung bei den Eltern bleibt. «Wenn aber Eltern sagen, ich wäre froh, wenn du die Dezimalbrüche machen könntest, dann tue ich das selbstverständlich», sagt sie. Hefte korrigiere sie aber keine, das sei die Aufgabe der Eltern. «Ich brauche nicht das Resultat des schönen Hefts, die Resonanz im Kind ist für mich ausschlaggebend», sagt Romano. Sie unterstützt die Eltern aber beim Bericht, den diese einmal jährlich zuhanden des Schulinspektorats verfassen müssen.
Es ist ein grosses Engagement, das Eltern im Privatunterricht erbringen, persönlich und finanziell. Ein Morgen in der Roulotte kostet immerhin 90 Franken. Doch wer krank ist, zahlt nicht und auch Kündigungsfrist gibt es keine. Dafür werden Elterngespräche zusätzlich verrechnet. Intakte Familienverhältnisse sind laut Romano eine Voraussetzung, dass sich die Kinder im Heimunterricht wohlfühlen. Und ein Vorteil für alle ist, wenn die Homeschooling-Eltern untereinander gut vernetzt sind.
«Zeit für die Znünipause!» ruft Romano. Dazu gehört fast immer auch ein Feuer. Die Kinder tragen Holz ins Flussbett, schichten es geübt zu einem Turm. Legen Käse, Pfirsiche, Brot und Rüebli auf ein Tuch, spiessen Wurststückchen auf Stöcke und brutzeln das Fleisch über dem Feuer. Dabei besprechen sie, ob baden eine gute Idee ist. Noemi findet schon und macht den Anfang, Zaira ist es noch zu kalt. Doch bald schon sind alle mindestens einmal eingetaucht, oder schwimmen ausgiebig wie richtige Zulgfische durchs klare Wasser.
Und dann, der Morgen ist fast vorbei, sagt Nik den erstaunlichen Satz: «Rebecca, du hast uns noch keine Hausaufgaben gegeben!» Natürlich hat die Lehrerin es nicht vergessen; das Material für die Helikopter, die die Kinder bis nächsten Dienstag basteln werden, liegt parat. Auch an den Strickpantoffeln sollen sie weiterarbeiten und zu Schreiben gibt es auch. 11.45 Uhr ist Schulschluss. Die Roulotte ist bereits wieder strassenfertig. Nik springt noch einmal ans Flussufer, bevor er mit seiner Schwester ins Auto der Mutter steigt und ein fröhliches «Tschüss, Rebecca!» ruft.
Veronica Bonilla wollte früher Fallschirmspringerin werden. Seit sie den freien Fall bei der Geburt ihrer Kinder erlebt hat, hat sich dieser Wunsch in Luft aufgelöst. Übergänge und Grenzerfahrungen faszinieren sie bis heute. Dabei liebt sie es, um die Ecke zu denken und sich davon überraschen zu lassen, was dort auftaucht. Und stellt immer wieder fest, dass ihr Herz ganz laut für die Kinder schlägt. Sie war bis 2022 auf der Redaktion fest angestellt, seither als Freie für das Magazin tätig.