Gesellschaft / Job und Familie
Müde Mütter
Von Sibylle Stillhart
Kinder, Kita, Karriere – Familie und Beruf zu vereinbaren, ist nicht so einfach, wie es die Wirtschaft vorgaukelt. Ein Tag im Leben einer doppelbelasteten Mutter.
zvg
Sibylle Stillhart hat in «Müde Mütter - fitte Väter. Warum Frauen immer mehr arbeiten und es trotzdem nirgendwohin bringen» den Alltag erwerbstätiger Mütter unter die Lupe genommen. Erschien im Mai 2015 im Limmat-Verlag, Fr. 22.80.
Ein Wimmern dringt aus dem Kinderzimmer. 3.52 Uhr. Das Geräusch schwillt an. Ich zwinge mich aus meinem Bett, taste ins Zimmer der Kinder, nehme Linus auf, hole ihn zu mir. Hier steht alles bereit: warmes Wasser in der Thermoskanne, Milchpulver im Schoppen. Mechanisch schütte ich das Wasser in das Fläschchen, drücke es dem Einjährigen in die Hände, falle zurück in die Federn.
Nun schwebe ich in einem türkisblauen Pool, es ist warm, die Sonne scheint. Ich tauche auf, hole Luft, tauche erneut hinab zum Grund, schwerelos wie ein Vogel. Plötzlich stört etwas. Es ist kein Schmerz, trotzdem unangenehm. Es wird lauter, unerträglich. Ein Presslufthammer? Nach quälenden Sekunden komme ich zur Besinnung – das Hämmern entpuppt sich als Gejammer meines Älteren, Artur (3). Die Uhr zeigt 5.36 Uhr, draussen ist es stockdunkel. Ich haste in die Küche, jede Bewegung schmerzt. In Sekundenschnelle giesse ich Milch in die Trinkflasche, stelle sie in die Mikrowelle, bete, dass nicht auch der Kleine noch erwacht. Zu spät. Guten Morgen allerseits!
Inzwischen ist auch mein Mann aufgestanden. «Gut geschlafen?», flötet er, bevor er sich quietschfidel unter die Dusche stellt. Nach einer Viertelstunde eilt er zur Haustüre hinaus zur Arbeit: «Tschüss, machts gut!»
Ich ziehe mich an, husche ins Bad, motze mich ein wenig auf fürs Büro – nach einer Nacht, die vielleicht sieben Stunden gedauert hat – mit mindestens drei Unterbrüchen. Warum aber ist es in der Stube so ruhig? Artur zerschnippelt in aller Ruhe die Zeitung. «Nun aber anziehen!», fordere ich ihn auf. Will er natürlich nicht.
Um 8.30 Uhr stehen wir samt Kinderwagen und Like-a-bike vor dem Haus, trotz Minus-Temperaturen bin ich nassgeschwitzt. Zuvor musste ich in voller Montur (Mantel, Mütze, Schuhe) Arturs Nuggi unter meinem Bett hervorklauben, jetzt liegen seine Handschuhe noch oben. «Wartet kurz hier, ich komme gleich wieder!». Die Wohnung sieht aus, als ob ein Wirbelsturm darin gewütet hätte: das Frühstücksgeschirr unter dem Tisch, tausend Playmobil-Teilchen auf dem Stubenboden verstreut.
Für die hundert Meter zur Tramstation benötigen wir zehn Minuten – denn Artur sucht noch nach Ameisen, die er überfahren will. In der Kita heult er nur noch. «Ich will bei dir bleiben, Mama!» Ich schlucke. Linus lächelt, als ihn die Erzieherin übernimmt. Immerhin.
9 Uhr. Ich haste an die Haltestelle, steige ins Tram, um endlich im Büro genervte Blicke zu ernten. Guten Morgen allerseits! Schon wieder fünfzehn Minuten zu spät.
Ich arbeite 50 Prozent als Kommunikationsverantwortliche, mein Mann zu 85 Prozent als leitender Journalist. Er möchte sich auch an der Erziehung der Kinder beteiligen, sagt er. Freitag ist der sogenannte Papa Tag. Für einen Kadermitarbeiter höchst aussergewöhnlich, wie man ihm immer wieder mitteilt. Umso mehr legt er sich an den restlichen Tagen ins Zeug. Haushalt und Kinder? Lasten zwangsläufig allein auf meinen Schultern.
Ein wunder Punkt
Damit bin ich nicht allein. In den meisten Familien liegt der Löwenanteil der Hausarbeit bei der Frau – selbst wenn sie einen Job hat. Drei Viertel der Frauen mit Kindern unter 15 Jahren trugen im Jahr 2010 die Hauptverantwortung der Hausarbeit allein, ergab eine Untersuchung des Bundesamts für Statistik. Mütter mit Kindern unter sieben Jahren sind durchschnittlich 55,5 Stunden pro Woche mit Haus und Familienarbeiten beschäftigt. Gehen sie zusätzlich einer Erwerbsarbeit nach, erhöht sich ihre Arbeitszeit auf durchschnittlich 71 Stunden die Woche. Eine erwerbstätige Mutter arbeitet durchschnittlich mehr als zehn Stunden pro Tag, siebenmal die Woche. Die vermehrte Erwerbsbeteiligung der Mütter führe zu einer noch grösseren Gesamtbelastung der Frau, heisst es in der Studie weiter.
In der Kaffeepause unterhalte ich mich mit meinen Bürokollegen. «Ich glaube, heute können auch Mütter problemlos Karriere machen – also, wenn sie das wirklich wollen», meint die kinderlose Sekretärin mit Blick auf mich. Ich verschlucke mich fast an meinem Macchiato und überlege kurz, ob ich ihr den Kaffee auf die Hose schütten soll. Zurück am Arbeitsplatz denke ich an Artur. Weshalb weigert er sich eigentlich jedes Mal, in die Kita zu gehen? Jesper Juul, der bekannte dänische Erziehungsberater, trifft bei mir mit seiner KitaKritik einen wunden Punkt. «Um es gleich vorab zu sagen», schreibt er in einem seiner Bücher, «Kinderkrippen wurden geschaffen, um die Bedürfnisse von Familien zu erfüllen, in denen beide Elternteile arbeiten wollen oder müssen, und sie dienen zugleich dem wachsenden Bedarf der Gesellschaft und der Wirtschaft an Erwerbstätigen. Sie wurden nicht eingerichtet, um die Bedürfnisse der Kinder zu erfüllen.» Die letzte grosse Untersuchung in Dänemark habe gezeigt, dass es 24 Prozent der befragten Jungen zwischen drei und sechs Jahren nicht gut gehe in der Kita. Bei den Mädchen sind es zehn Prozent. Sechs bis acht Stunden Fremdbetreuung in einer Tages einrichtung stelle hohe Anforderungen an kleine Kinder, schreibt Jesper Juul.
12.15 Uhr, die Kollegen verabschieden sich in die Mittagspause. Ich mache keine, weil ich sonst nicht durchkomme. Stattdessen kaue ich an einem trockenen Sandwich und trinke Leitungswasser. Nebenher arbeite ich weiter an einem Kommunikationskonzept, das mein Chef unlängst von mir verlangt hat.
Punkt 17 Uhr hetze ich weg, um die Kinder in der Krippe zu holen. Dort erwarten mich zwei strahlende aber müde Buben. Ein guter Tag sei es gewesen, sagt die junge Praktikantin. Auf dem Heimweg besorgen wir noch das Nötigste im Supermarkt.
Zuhause trage ich Linus die Treppe hoch, am anderen Arm baumelt die Einkaufstüte – und Artur möchte meine Hand halten. Keuchend schlüpfe ich oben aus dem Mantel, eile in die Küche, bereite Linus Schoppen vor, er schreit bereits. Danach tische ich Brot, Salami, Cornflakes auf, doch weder Linus noch Artur haben Lust darauf. Das Essen landet auf dem Boden. Ich breche die Übung ab, trage Linus ins Kinderzimmer, während Artur das Sandmännchen im Fernsehen gucken darf. Ich ziehe Linus den Pyjama an, lege ihn ins Bett, lösche das Licht, verharre, bis der Kleine schläft. In der Stube sitzt Artur mittlerweile gebannt vor der Tagesschau. Ich schalte den Kasten ab, räume in der Küche das Geschirr vom Morgen und Abendessen in die Spülmaschine, bringe auch Artur ins Bett.
Frauen, gebt euch Mühe
Mittlerweile ist es 21 Uhr, ich lege mich aufs Sofa. Das ist sie nun also, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Es graut mir, dies als Emanzipation zu betrachten. Heisst Gleichstellung für Mann und Frau, dass eine Frau heute trotz Kindern weiterarbeitet? Und dennoch Hauptverantwortliche für Betreuung und Haushalt bleibt? Sie allein die Doppelbelastung trägt, während die Männer leichtfüssig die Karriereleiter hinaufhüpfen?
Heute soll eine Mutter ihr Baby mindestens sechs Monate lang stillen, nach der Geburt aber nach 14 Wochen Mutterschaftsurlaub an den Arbeitsplatz zurückkehren. Im Büro soll sie sich bitteschön anstrengen, denn, das wissen wir seit den Ausführungen von Roland A. Müller, Direktor des Arbeitgeberverbandes: Frauen würden sich einfach nicht genug Mühe geben, um wirklich Karriere zu machen. Männer seien eher bereit, Sonderanstrengungen zu zeigen und «Arbeitszeiten weit über die regulären acht Stunden hinaus zu leisten», sagt er an einer Pressekonferenz zur Lohnstrukturerhebung. Tatsächlich strapaziere ich durch meine Unflexibilität die Nerven meines Chefs: «Ich kann leider nicht, ich muss die Kleinen aus der Kita holen.» Um in der nächsten Beförderungsrunde einmal mehr nicht berücksichtigt zu werden. Obwohl ich nach Büroschluss zuhause ja keineswegs auf der faulen Haut liege. Arbeit mit Kindern und Haushalt wird nicht als wirkliche Arbeit betrachtet - sich um Kleinkinder zu kümmern, gilt als Freizeit.
Mein Mann kommt heim
Klar ist es toll, mein eigenes Geld zu verdienen. Das allerdings benötige ich für die Kinderbetreuung und die Putzfrau. Zudem steigen die Steuern, wenn zwei Personen in einem Haushalt arbeiten. Ich muss zugeben: Ich habe mir die ganze Familiensache anders vorgestellt. Einfacher. Gleichberechtigter. Fairer. Das Leben, das ich im Moment führe, ist kein emanzipiertes Leben. Eher ein Leben als Sklavin, die es allen recht machen muss: Arbeitgeber, Mann, Kindern.
Warum arbeiten die meisten Männer nach wie vor Vollzeit? Wo ist die neue Arbeitskultur, die nicht die Präsenzzeit, sondern den Output bewertet? Geändert hat sich in den letzten Jahren allein das Anforderungsprofil an die «moderne Mutter».
Um 22 Uhr schleppe ich mich ins Bett. Fünf Minuten später höre ich den Schlüssel im Schloss. Mein Mann kommt heim. Um halb elf Uhr erwacht Linus, schreit, ich hole ihn zu mir ins Bett. Um ein Uhr will Linus Milch, um vier weint er nochmals, um sechs ist es Artur, der erwacht. Ein neuer Tag beginnt. Guten Morgen allerseits.
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