Gesellschaft / Medizin
Generation Diagnose
Von Veronica Bonilla Gurzeler
Glaubt man Medizin und Medien, ist ein Grossteil unserer Kinder krank. Wer hat ein Interesse daran, die jüngste Generation zu pathologisieren?
Haben Sie auch die Erfahrung gemacht, dass Kinder pathologisiert werden? Diskutieren Sie mit der Autorin Veronica Bonilla sowie der «wir eltern» Community in unserem Forum mit!
Der Gesundheitszustand unserer Kinder ist alarmierend. Kaum ein Kind, das nicht an einer Krankheit oder einer gesundheitlichen Störung leidet. Übertrieben? Keineswegs. Zumindest erhält diesen Eindruck, wer sich mit den Zahlen und immer neuen Diagnosen befasst, die umtriebige Mediziner und Gesundheitsorganisationen via Medien verbreiten.
Drei Beispiele, die aufschrecken: «In der Schweiz leben 350 000 Kinder und Jugendliche mit einer seltenen Krankheit» ist auf der Website des Fördervereins für Kinder mit seltenen Krankheiten zu lesen. 350 000!
Besorgniserregend auch folgende Meldung: «Immer mehr Babys kommen in der Schweiz unternährtaufdieWelt»schriebder«Beobachter» im März 2017. Unterernährt, in der reichen Schweiz?
Und in den USA gehört das Trotzen nicht mehr zur normalen und gesunden Entwicklung eines Kindes. Laut «Spiegel» sind amerikanische Ärzte nämlich dazu übergegangen, bei Kindern mit Trotzanfällen eine bipolare Störung zu diagnostizieren. Ups.
Man muss schon genauer hinsehen, um zu erkennen, dass alles nur halb so schlimm ist, wie es scheint. Doch selbst dann bleibt ein mulmiges Gefühl zurück. Und die Frage, welche Absicht hinter solchen Zahlen, reisserischen oder tendenziösen Aussagen steht.
«Die Zeit» befasste sich Ende April 2017 mit dem Phänomen der spektakulären Zahlen, die ein primäres Ziel haben: Unsere Aufmerksamkeit einzufangen. «Zahlen wirken ideologiefrei und nüchtern, sie suggerieren Genauigkeit und Objektivität» schreibt «Zeit»-Autorin Stefanie Kara. Kein Wunder, dass wir ihnen gerne – und allzu schnell – Glauben schenken.
Doch das sollten wir nicht tun: «Zahlen sind nicht einfach da. Sie werden hergestellt. Und nicht jeder Zahlenproduzent hat lautere Motive – oder auch nur ausreichende Kenntnisse der Statistik.» Ein vernichtendes Urteil. Gilt das auch für die oben erwähnten drei Beispiele?
Manchmal genügt es bereits, den gesunden Menschenverstand und mathematisches Basiswissen einzusetzen, um gewisse
Behauptungen zu entlarven. So im Fall der Kinder mit seltenen Krankheiten: Laut Bundesamt für Statistik lebten in der Schweiz 2016 1,7 Millionen Kinder unter 20 Jahren. Davon soll jedes fünfte, 350 000 eben, von einer seltenen Krankheit betroffen sein? Ohne das schwere Schicksal von leidenden Kindern und ihren Eltern infrage stellen zu wollen – die Zahl ist mit Sicherheit zu hoch gegriffen. Als selten wird eine Krankheit nämlich nur dann eingestuft, wenn höchstens eine von 2000 Personen betroffen ist.
Auf Nachfrage verweist der Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten (KmsK) auf ein «Nationales Konzept Seltene Krankheiten», welches das Bundesamt für Gesundheit 2014 veröffentlicht hat. Dort steht, dass das Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Lausanne die Zahl «auf der Basis von Daten von Orphadata geschätzt hat» - und sich dabei ziemlich verschätzte, möchte man anfügen. Grosse Zahlen ziehen grosse Aufmerksamkeit auf sich, haben sich wohl die Marketingstrategen des Fördervereins KmsK gedacht.
Deutlich weniger schlimm als es auf den ersten Blick scheint, ist auch die Sache mit den unterernährten Neugeborenen. Die Zahlen scheinen zwar auch hier eine klare Sprache zu sprechen: 8 Prozent aller Neugeborenen sind bei ihrer Geburt im Verhältnis zur Schwangerschaftsdauer untergewichtig und/oder zu klein. Das heisst, sie unterschreiten die Schweizer Durchschnittsmasse, welche die Mediziner festgelegt haben – sind also nach neun Monaten Schwangerschaft leichter als 2800 Gramm und kürzer als 47 Zentimeter. Beim Erstgespräch mit dem Kinderarzt kurz nach der Geburt erfahren die Eltern dieser Kinder, dass ihr Baby eine sogenannte Mangelgeburt ist – korrekt müsste das Kind allerdings man gelgeboren genannt werden, denn die Geburt an sich hat mit dem gemessenen Mangel nichts zu tun. Mediziner verwenden deshalb heute gerne den im englischen Sprachraum gebräuchlichen und eleganteren Begriff Small for Gestational Age, kurz SGA.
Die Gründe für eine Mangelgeburt sind vielfältig, die Folgen können es ebenso sein. Urs Eiholzer, Leiter des Zürcher Instituts für Wachstums- und Hormonstörungen PEZZ, hat kürzlich einen Ratgeber für Eltern publiziert, in dem er detailliert darauf eingeht. Er zitiert verschiedene europäische Studien, die untersuchten, wie sich Untergewicht bei der Geburt auf das spätere Leben auswirkt: Wachstum und Aufbau der Muskulatur können sich verlangsamen. Zudem besteht die Gefahr, dass sich im Erwachsenenalter die Wahrscheinlichkeit für Typ-2-Diabetes, spätere Herzkreislaufstörungen und Schlaganfälle erhöht. Weitere Risiken sind: verfrühte Pubertät, im Durchschnitt weniger gute Schulleistungen, leicht geringerer IQ, häufigeres Auftreten von ADHS und vor allem eins: das Risiko für eine kleine Erwachsenengrösse.
Tönt ziemlich heftig. Aber ist es das auch wirklich? Denn: Es handelt sich ja «nur» um Risiken, um Wahrscheinlichkeiten. «Selbstverständlich zeigen nicht alle ehemaligen untergewichtigen Neugeborenen diese Auffälligkeiten», relativiert Eiholzer im Ratgeber und versucht zu beruhigen: «Ich kann Ihnen schon jetzt versichern, dass es in der Regel besser herauskommt, als die Ärzte denken.»
In der Kommunikation zum neuen Elternratgeber wird dieser Aspekt natürlich nicht in den Vordergrund gestellt, und auch die Medienberichterstattung fokussiert auf der aufmerksamkeitsheischenden Aussage von den «immer mehr mangelernährten Babys». Dabei holen 90 Prozent der 8 Prozent SGA-Neugeborenen ihre mangelnde Grösse in den kommenden Jahren auf und entwickeln sich völlig normal – ohne spezielle Therapie. Das bestätigt Christa E. Flück, Leiterin des Teams Endokrinologie, Diabetologie und Stoffwechsel an der Kinderklinik des Inselspitals Bern: «Die meisten Kinder korrigieren sich selbst, wenn nachher ausreichend Nahrung vorhanden ist.»
Für die Eltern bedeutet die Diagnose Mangelgeburt jedoch eine Verunsicherung; die Freude über das Neugeborene ist getrübt und die möglichen Risiken werfen einen Schatten auf den Alltag mit dem Kind. Untersuchungen zeigen, dass sich Eltern in solchen Situationen vom Kind distanzieren – oder es überbehüten. Sehr klein geborene Babys werden dann gerne überfüttert, weil die Eltern hoffen, sie würden so besser gedeihen. «Das ist jedoch kontraproduktiv», sagt Flück. Egal, wie gross sie bei der Geburt waren – übergewichtige Kinder kommen früher in die Pubertät und wachsen weniger lang: «In den USA führt das bereits dazu, dass die Generation, die heute aufwächst, kleiner wird als ihre Eltern.» Von einer Zunahme der termingeborenen SGA-Kinder weiss Flück aber nichts. «Einzig, weil es heute mehr und immer kleinere Frühgeborene gibt, nimmt die Diagnose zu.»
Für diejenigen SGA-Kinder, die nicht schnell genug wachsen, hat die Medizin eine Lösung parat: Wachstumshormone. Seit 2004 wird die Therapie von den Krankenkassen bezahlt, wenn sie in den ersten vier Lebensjahren kein Aufholwachstum zeigen. Die Patienten müssen sich bis zum Ende der Pubertät täglich das Medikament spritzen. Dies soll jährlich einen Extra-Zentimeter Wachstum bringen. «Die Kriterien für die Therapie sind restriktiv, und das ist gut so», sagt Hormonspezialistin Christa E. Flück. «Trotzdem kommen in unsere Sprechstunde am Kinderspital immer wieder Eltern, die möchten, dass wir ihre Kinder auch ohne Indikation behandeln. Oder Jugendliche, die klagen ‹Ich bin die Kleinste in meiner Klasse›. Wir diskutieren sehr oft darüber, was ‹normal› ist und was nicht.»
Kleinsein scheint ein Makel zu sein, ein Mangel eben. Ist das wirklich so? Würden wir mehr in innere Grösse investieren statt in äussere, müsste sich der Kleine dem Grossen nicht mehr unterlegen fühlen. So wie Schönheit, die durch Make-up, Operationen und eingeübtes Posing immer überstrahlt wird durch die Schönheit, die von innen kommt.
Daran hat jedoch einer kein Interesse: der Markt. Die Gesundheitsindustrie freut sich über jede neue Diagnose, die in eine Krankengeschichte eingetragen wird. Vor allem dann, wenn es eine Therapie, ein Medikament dagegen gibt und die Versicherungen dafür zahlen. In seltener Deutlichkeit kritisiert dies der emeritierte Harvard-Professor Jerome Kagan in einem «Spiegel»-Interview. Der Entwicklungspsychologe vertritt die Ansicht, dass die Diagnosen ADHS und Depressionen bei Kindern und Jugendlichen nur deswegen in den vergangenen 50 Jahren derart in die Höhe geschossen sind, weil es Medikamente dagegen gibt, mit denen ein wachsender Gesundheitsmarkt Milliarden verdient. Dahingehend deutet er auch die Neigung amerikanischer Ärzte, Kinder mit Trotzanfällen bipolar zu nennen. «Die Pharmaindustrie liebt es, denn Medikamente gegen bipolare Störungen sind teuer», sagt Kagan.
Es scheint zunehmend schwierig zu sein, ohne Diagnose und Langzeitmedikamente erwachsen zu werden. Vor diesem Hintergrund können Kinder heute zurecht als «Generation Diagnose» bezeichnet werden.
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