Entwicklung
Die erste Periode mit neun Jahren
Sarah ist neun Jahre alt, als ihre Brüste zu wachsen beginnen. Mit zehn Jahren setzt ihre erste Monatsblutung ein. Wie es ist, wenn das eigene Mädchen noch als Kind zur biologischen Frau wird.
Ich klärte meine Tochter früh auf und nutzte jede Gelegenheit, Körperthemen in den Alltag einzuflechten. Trotzdem hat es mich voll erwischt, als sie mit zehn Jahren die erste Mens bekam», erzählt Julia über den Eintritt der Menarche ihrer Tochter Sarah. «Ich hatte noch nicht damit gerechnet, ich selbst bekam die Periode als Jugendliche viel später. Ausserdem hatte ich Angst um die unbeschwerte Kindheit meines Mädchens. In diesem Alter laufen doch tausend andere Sachen, die wichtiger sind», erzählt die Mutter. Heute, ein Jahr später, ist ihr Fazit: «Es herrscht viel Unwissen in Sachen Menarche und Pubertät bei Mädchen, daher habe ich mich entschlossen, mehr darüber zu sprechen.»
Erste Periode in Europa immer früher
Das Auftreten der ersten Monatsblutung wird Menarche genannt und kennzeichnet einen Teil der Pubertät. Studien deuten darauf hin, dass Mädchen ihre erste Menstruationsblutung in Europa immer früher erleben. Als «normal» gilt heute, wer sie zwischen neun und sechzehn Jahren bekommt. Es kann also einer normalen, wenn auch eher selten frühen Entwicklung entsprechen, wenn die erste Blutung wie bei Sarah mit zehn Jahren auftritt. Bei den meisten setzt sie zwischen zwölf und dreizehn Jahren ein. Es habe Vorzeichen gegeben, schildert Julia: «Sarah klagte oft über Bauchschmerzen und ihre Brüste hatten bereits mit knapp neun Jahren angefangen zu wachsen.» Für Sarah sei das erst keine grosse Belastung gewesen. Erst, als ihre Freundinnen anfingen, sie deswegen auszuschliessen, wurde es schwierig. «Ich war schockiert, dass Sarahs frühe Pubertät bei Klassenkameradinnen und sogar bei anderen Erwachsenen so ein grosses Gesprächsthema war. Ich wünsche mir für diese Mädchen mehr Sensibilität und Achtsamkeit, es ist sehr verletzend, wenn der Körper von allen bewertet wird», sagt Julia. Sie findet, Eltern sollten hier mit den eigenen, aber auch mit anderen Kindern achtsam sein.
Die ersten Anzeichen der Pubertät bei Mädchen zeigen sich für gewöhnlich mit dem Beginn der Brustentwicklung, kurz darauf beginnt die Scham- und Achselbehaarung zu wachsen. Während der Pubertät verändert sich die Körperform der Mädchen und der Körperfettanteil, vor allem an den Hüften und den Oberschenkeln, steigt. Später setzt die Menarche ein und es gibt Wachstumsschübe bei der Körpergrösse – das Kind wird erwachsen. Diese körperlichen Veränderungen werden durch Veränderungen des Hormonspiegels in der Hypophyse reguliert. Die Hypophyse bildet eine Reihe von Hormonen und ist eine erbsengrosse Drüse an der Basis des Gehirns. Jedes dieser Hormone beeinflusst einen spezifischen Teil des Körpers. Bei Mädchen führt dieser Vorgang dazu, dass die Eierstöcke das Hormon Östrogen freisetzen. Östrogen wiederum löst die Entwicklung des Fortpflanzungsapparats aus: Brüste, Scheide, Eierstöcke und Gebärmutter entwickeln sich hin zur sogenannten sexuellen Reife. Und damit tritt dann auch die Menarche ein.
Was viele nicht wissen: Etwa eineinhalb bis drei Jahre vor der Menarche beginnt die Brust zu wachsen. Diesen Prozess nennt man Thelarche und er ist der Beginn der Pubertät bei den Mädchen.
Kerstin Ruoss, Kinder- und Jugendgynäkologin.
Scham und Tabus abbauen
Kerstin Ruoss ist leitende Ärztin Kinder- und Jugendgynäkologie am Universitäts-Kinderspital in Zürich. Sie sagt: «Die Brustentwicklung setzt bei den Mädchen eindeutig jünger ein als früher, die Menarche tritt aber nur sehr selten vor zehn Jahren auf.» Die Ärztin erklärt, dass es zwar früh, aber normal sei, in der fünften Primarschulklasse bereits die Periode zu haben und in der Pubertät zu sein. «Für viele Mädchen ist es dennoch eine Belastung, gerade, wenn sie das einzige menstruierender Mädchen in der Klasse sind und stark oder sehr unregelmässig bluten», so die Expertin. Sie appelliert an die Eltern, Kinder früh aufzuklären und die Anatomie richtig zu benennen. Mädchen, die keine Scham empfinden, über ihre Vulva und ihren Körper im Allgemeinen zu sprechen, empfinden weniger Stress als Kinder, die mit vielen Mythen und Tabus aufwachsen. Weiblichen Bezugspersonen komme hierbei eine besonders wichtige Rolle zu, auch im Anbieten von Menstruationsprodukten. Die Ärztin sagt: «Ich bin oft sehr erstaunt, wie unaufgeklärt sowohl Erwachsene als auch Kinder sind, wenn sie in meine Untersuchung kommen.»
Tampons lieber (noch) nicht
Auch Julia findet: Eine Auseinandersetzung mit den Veränderungen des Körpers sollte so früh wie möglich beginnen, am besten schon im Kindergarten und den ersten Primarschuljahren. In ihrer Familie sprechen alle sehr offen: «Wir reden am Esstisch über die Periode – auch mit dem Vater und den Geschwistern von Sarah, wir kennen keine Tabus.» Julia hat die Schule nicht informiert über die Mens, Sarah wollte das nicht. Die Mutter versucht sowieso, einen möglichst unaufgeregten Umgang zu etablieren. Eine Herausforderung sei in diesem Alter aber dennoch die Körperhygiene und die Nutzung von Periodenprodukten. Seitens der kognitiven Entwicklung sei es ihr noch nicht möglich, einen Tampon einzuführen. Sarah trage daher Binden, die Mutter müsse ab und an unterstützen beim Einlegen: «Ich finde es grossartig, dass es nun Periodenunterwäsche gibt, die sie bald testen kann. Vermutlich wird sie das entlasten.» Dadurch traut sie ihrer Tochter auch zu, zum Beispiel, im Klassenlager zurechtzukommen, sollte dieses auf die Menstruation fallen.
Kindlich unbeschwert bleiben
Das Einplanen der Periode in Freizeitaktivitäten fällt Sarah noch immer schwer, sie sei noch sehr kindlich im Denken. Ist zum Beispiel ein Tag in der Badi mit Freundinnen angesagt, verstehe das Mädchen oft nicht, warum sie auf das Baden verzichten soll. «Es klingt toll, was heute in den Büchern und den Blogs alles Positives über die Menstruation steht, doch mit zehn Jahren ist es nicht dasselbe wie mit sechzehn und geht auch mit Verzicht und Hänseleien einher.» Sarah möchte ihre Mens auch nicht zelebrieren oder feiern, wie es etwa auf Social-Media zum Teil empfohlen wird – und auch nicht oft darüber reden. «Sie will, wie in diesem Alter üblich, der Norm entsprechen und einfach Kind sein.» Die Mutter hat dafür grosses Verständnis und akzeptiert die Haltung der Tochter. Mutter und Tochter sind in den letzten zwei Jahren durch die Veränderungen in Sarahs Körper zusammengewachsen: «Meine Tochter war als kleines Kind stark auf meinen Partner bezogen, in Sachen Pubertät bin ich nun ihre Verbündete, das ist schön.» Die Oberärztin der pädiatrischen Endokrinologie am Universitäts-Kinderspital Zürich, Odile Gaisl, erklärt: «In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich der Beginn der Pubertät bei Mädchen sehr stark verschoben, sie wurden plötzlich immer jünger. In den meisten nordeuropäischen Ländern verschiebt sich die Pubertät weiterhin, aber nicht mehr in dieser raschen Tendenz.» Die Erklärung liege vor allem beim höheren Körpergewicht als noch vor hundert Jahren. Ebenfalls möglich sind Umweltfaktoren oder soziale Faktoren.
Das Altersspektrum bei den Mädchen sei aber sehr gross und die Körper unterschiedlich, somit variiere auch der Zeitpunkt der Thelarche, der Menarche und damit der Pubertät stark. Von einer verfrühten Pubertät spricht man erst, wenn die Brustentwicklung bei Mädchen vor dem achten Lebensjahr einsetzt. Die Behandlung hängt von der Art der verfrühten Pubertät ab – sie kann auch eine Hormontherapie beinhalten. Die Ärztin empfiehlt bei Mädchen mit einer Brustentwicklung vor dem achten Geburtstag die Abklärung bei einem pädiatrischen Endokrinologen.
Und plötzlich schwanger?
«Die Vorstellung, dass meine zehnjährige Tochter fruchtbar ist und theoretisch schwanger werden könnte, machte mir zu Beginn Angst. Ich merkte aber schnell, dass Sarah gar keinen Zusammenhang herstellte zwischen Sex und Menstruation. Das passiert in den Köpfen der Erwachsenen, nicht der Kinder», erzählt Julia offen. In unserer Gesellschaft wird die Menarche auch als ein Zeichen dafür gedeutet, dass ein Mädchen «reif» ist.
Diese Reife wird dann fälschlicherweise mit sexueller Verfügbarkeit gleichgesetzt und anstatt als biologischen Prozess, als Anlass für die Sexualisierung ihrer Körperlichkeit genutzt. Mittlerweile haben auch einige Klassenkameradinnen ihre Periode bekommen, was Sarah entlastet: Die Hänseleien haben abgenommen. «Ich wünschte mir», sagt ihre Mutter Julia, «dass die Gesellschaft einen schamfreieren Umgang mit der Mens hätte. Dann wäre Sarah vielleicht auch weniger gehänselt worden deswegen und das vermeintliche Normalsein wäre weniger wichtig.»