Babykosmos
Falsche Sicherheit mit pränatalen Tests
Nicht invasive Pränataltests (NIPT) sollen Eltern früh in der Schwangerschaft Sicherheit vermitteln. Was viele nicht wissen: Positive Testergebnisse sind nicht sehr zuverlässig.
Keine Trisomie 9, keine Trisomie 9 ! », ruft die Frauenärztin erleichtert ins Telefon, bevor sie überhaupt etwas anderes sagt. Und Melanie* fällt ein Stein vom Herzen – nach einem Monat zermürbenden Wartens, unzähligen Arztterminen und Untersuchungen. Doch von Anfang an: Nach mehreren Aborten in den ersten Schwangerschaftswochen ist Melanie endlich wieder schwanger. Als die 12-Wochen-Kontrolle ansteht, ist sie gerade 38 Jahre alt geworden. «Aus diesem Grund und wohl auch wegen der Fehlgeburten entschieden wir uns, einen nicht invasiven Pränataltest (NIPT) zu machen, obwohl wir dies bei unseren zwei ersten Kindern nicht getan hatten», erzählt sie bei einem Gespräch bei sich zu Hause.
Dass diese Entscheidung sie in unnötige Sorgen, ja Verzweiflung stürzen würde, damit hätte sie nie gerechnet. Doch als sie erfährt, dass der NIPT eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für Trisomie 9 entdeckt hat, zieht es ihr den Boden unter den Füssen weg. «Das war ein Schock», erzählt Melanie, «denn im Ultraschall sah alles gut aus.» Die Trisomie 9 ist eine seltene genetische Erkrankung, bei der das neunte Chromosom drei- statt zweifach vorhanden ist. Kinder mit Trisomie 9 weisen in der Regel schwerste Beeinträchtigungen auf und versterben oft bereits im Mutterleib oder kurz nach der Geburt. Und dennoch sagt Melanie: «Wir gaben die Hoffnung nicht auf. » Dass die Wahrscheinlichkeit gross war, trotz des NIPT-Resultats ein gesundes Baby zu bekommen, erfuhr sie aber erst von einer auf pränatale Untersuchungen spezialisierten Gynäkologin.
Melanie
Je jünger, desto eher falsch-positiv
Landläufig herrscht die Meinung vor, dass das Resultat des NIPT zu 99 Prozent stimmt. Das ist richtig, wenn der Ultraschall unauffällig und das Ergebnis negativ ist – das heisst, kein erhöhtes Risiko auf eine Trisomie anzeigt. Ist der Ultraschall unauffällig und der Test jedoch positiv – das heisst, er zeigt ein erhöhtes Risiko für eine Trisomie an – ist das Resultat weniger zuverlässig. Etwas kompliziert, aber wichtig zu verstehen.
Zahlen aus dem Jahr 2020 aus dem Deutschen Ärzteblatt zeigen: Gibt der Test bei einer 20-jährigen Schwangeren ein erhöhtes Risiko für Trisomie 21 an, liegt die Wahrscheinlichkeit bei nur 48 Prozent, dass das Baby vom Down-Syndrom betroffen ist. Mit zunehmendem Alter der Frau steigt die Aussagekraft eines positiven Tests. Bei einer 40-Jährigen stimmt das Resultat in 93 Prozent der Fälle. «Das liegt daran, dass jüngere Frauen ein kleineres Ausgangsrisiko für Trisomien haben», erklärt Isabel Filges, Co-Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Medizinische Genetik (SGMG). Und: Je seltener die Trisomie, desto seltener stimmt das positive Ergebnis. Bei der Trisomie 18 liegt es beispielsweise bei 14 Prozent für eine 20-Jährige und bei 69 Prozent bei einer 40-Jährigen. Für die Schweiz liegen keine solchen Zahlen vor. Tilo Burkhardt, Leitender Arzt an der Klinik für Geburtshilfe am Universitätsspital Zürich, warnt, dass sich aufgrund der unterschiedlichen Tests die Zahlen nicht eins zu eins übertragen liessen. Isabel Filges hingegen ist der Meinung, dass die Zahlen in der Schweiz mit jenen aus Deutschland vergleichbar sein müssten.
Wie auch immer, klar ist: Falsch-positive Resultate kommen vor. «Das liegt nicht am Test, sondern an der menschlichen biologischen Variabilität», erklärt Tilo Burkhardt. Die kindliche DNA, die untersucht wird, stammt von der äussersten Zellschicht der Plazenta, die mit dem mütterlichen Blut Kontakt hat. In deren DNA kann es Chromosomenveränderungen geben, die beim Kind nicht vorliegen müssen. Ob diese Auswirkungen auf das Kind haben können, werde aktuell untersucht. Auch Besonderheiten oder Erkrankungen der Mutter können falsch-positive Resultate hervorrufen. «Sie haben häufig nicht direkt etwas mit dem Fötus zu tun», erklärt Burkhardt.
NIPT reduziert Zahl der Punktionen
Trotz der falsch-positiven Ergebnisse sind beide befragten Expert:innen von dem nicht invasiven Pränataltest überzeugt. «Zusammen mit dem Ultraschall sei der NIPT die beste Risikoabschätzung. Zudem hat er die Zahl an invasiven Untersuchungen verringert, die ein Fehlgeburtenrisiko mit sich bringen», sagt Isabel Filges. Da Frauen über 35 Jahren früher eine invasive Untersuchung empfohlen wurde, seien Diagnosen bei jüngeren verpasst und gleichzeitig zu viele ältere Frauen punktiert worden. Dieses Ungleichgewicht hat der NIPT behoben, da er risikoarm allen Schwangeren zur Verfügung steht.
Für Tilo Burkhardt hat der NIPT keinen Nachteil, wenn er angewendet wird, wofür er entwickelt wurde: «Der NIPT stellt keine Diagnosen, sondern schliesst lediglich die häufigsten Trisomien aus.» Aus diesem Grund ist es wichtig, dass ein positives Testresultat mittels einer invasiven Untersuchung weiter abgeklärt wird. So war das auch bei Melanie. Nach der Überweisung an die Spezialistin entschied sie sich für eine Chorionzottenbiopsie, weil diese früher stattfinden kann, sowie eine Fruchtwasserpunktion, welche die zuverlässigste Diagnose stellt. «Das Warten auf die Resultate war zermürbend», erzählt sie. Wie sich Paare nach einem positiven NIPT-Resultat fühlen, wissen Tilo Burkhardt und Isabel Filges aus ihrem Alltag. «Die Zeit des Wartens ist der Horror», sagt Tilo Burkhardt. Viele würden erst realisieren, welche Folgen der NIPT habe, wenn er auffällig sei. Klären die Gynäkolg:innen also zu wenig auf ? «Ja, die Aufklärung läuft aus verschiedenen Gründen nicht überall so, wie sie sein könnte. Das sehe ich bei den Fortbildungen, die ich zum Thema Pränataldiagnostik leite», erklärt Tilo Burkhardt. Dem stimmt Isabel Filges zu, fügt aber an, dass sich die Aufklärung verbessert habe seit 2012, als der NIPT auf den Markt gekommen sei.
Pränataldiagnostik im Überblick
Zur Pränataldiagnostik zählen der Ersttrimestertest (ETT), nicht invasive pränatale Tests (NIPT) sowie invasive Tests wie die Chorionzottenbiopsie (Untersuchung der Plazenta) und die Fruchtwasserpunktion:
Der ETT kann zwischen der 11. und 14. Schwangerschaftswoche durchgeführt werden. Zum einen wird in einer Ultraschalluntersuchung die Nackenfalte des Fötus gemessen. Dabei handelt es sich um eine Flüssigkeitsansammlung unter der Haut im Nackenbereich. Zum andern werden zwei Werte im Blut der Mutter gemessen. Zusammen mit deren Alter lässt sich eine Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer der drei häufigsten Trisomien (21, 18 und 13) errechnen. Das Ergebnis des ETT ist keine Diagnose.
NIPT: Ein nicht invasiver pränataler Test ist ein Bluttest, der ab der 10. Schwangerschaftswoche vorgenommen werden kann. Dabei wird die Erbsubstanz (DNA) der Mutter sowie aus der Plazenta untersucht. Auch der NIPT stellt keine Diagnose, sondern errechnet in erster Linie, ob ein Risiko für eine Trisomie besteht. Der NIPT ist viel genauer als der ETT und bedeutet kein Risiko für den Fötus.
Chorionzottenbiopsie: Chorionzotten sind Bestandteile der Plazenta, die zwischen der 11. und 14. Schwangerschaftswoche untersucht werden können. Um diese zu erhalten, wird eine dünne Punktionsnadel durch die Bauchwand in die Gebärmutter eingeführt. Dieser Eingriff gilt als invasiv (eindringend), weil das Risiko besteht, dass eine Fehlgeburt ausgelöst wird (<0,5 Prozent). Mit der Chorionzottenbiopsie können die häufigsten Trisomien (21, 18 und 13) sowie weitere Erbkrankheiten diagnostiziert werden. Der Vorteil ist, dass die Chorionzottenbiopsie früher stattfinden kann als eine Fruchtwasserpunktion. Allerdings wird wie beim NIPT nur DNA aus der Plazenta und nicht die des Kindes untersucht, was zu ungenaueren Resultaten führen kann.
Fruchtwasserpunktion: Die Fruchtwasserpunktion wird in der Regel ab der 16. Schwangerschaftswoche durchgeführt. Dabei wird eine Punktionsnadel durch die Bauchdecke eingeführt und Fruchtwasser entnommen. Da im Fruchtwasser kindliche DNA schwimmt, sind die Resultate noch zuverlässiger als jene der Chorionzottenbiopsie. Dieser Eingriff gilt als invasiv (eindringend), weil das Risiko besteht, dass eine Fehlgeburt ausgelöst wird (0,3 bis1 Prozent). Mit einer Fruchtwasserpunktion können die häufigsten Trisomien (21, 18 und 13) und eine Reihe von Erbkrankheiten diagnostiziert sowie Hinweise auf eine Spina bifida (offener Rücken) erhalten werden.
Gespräche sind schlecht vergütet
Ärzt:innen, die nicht invasive Pränataltests durchführen wollen, sind verpflichtet, Fortbildungskurse zu besuchen. Vor dem NIPT muss die Schwangere aufgeklärt werden und sie muss schriftlich zustimmen. Um den Frauenärzt:innen das Leben zu erleichtern, hat die Schweizerische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (SGGG) ein Merkblatt sowie ein Aufklärungsprotokoll erstellt. Ob die Gynäkolog:innen diese Unterlagen oder eigene nutzen, steht ihnen frei. Warum hapert es trotzdem mit der Aufklärung? Es liegt wohl an der fehlenden Zeit und am Geld. Isabel Filges nennt es einen Systemfehler: «Solche Gespräche benötigen Zeit. Und Gespräche werden von der Krankenkasse schlechter vergütet als Untersuchungen.»
Tilo Burkhardt hat festgestellt, dass sich bei gewissen Frauenärzt:innen – und auch bei Eltern – Automatismen eingeschlichen haben. So würden Tests durchgeführt, weil die Krankenkasse diese bezahle. Doch: Jede Schwangere hat ein Recht auf Nichtwissen. Er sagt: «Auch darüber, dass gar kein Test, auch kein Ultraschall, durchgeführt werden muss, wird wahrscheinlich nicht immer informiert.»
Trauma verarbeiten
Für Melanie nimmt das Warten nach «einem der längsten Monate ihres Lebens» mit dem Anruf ihrer Frauenärztin ein Ende. Eine gewisse Anspannung sei aber die ganze Schwangerschaft geblieben. Auch brauchte sie eine Weile, um die traumatisierende Zeit zu verarbeiten. Gespräche und Spaziergänge hätten ihr dabei geholfen. «Vor allem während des Wartens machte ich mir Sorgen darüber, wie der ganze Stress sich auf mein Baby auswirkt. Und nun ist er die Ruhe selbst», sagt sie und schaut den gesunden Zweimonatigen in ihren Armen liebevoll an.
Würde sie nochmals einen NIPT machen? «Ich weiss es nicht», sagt Melanie, «mit meinem heutigen Wissen vielleicht ja. Oder gleich eine Fruchtwasserpunktion bei einer spezialisierten, geübten Fachperson. Dann ist das Abortrisiko nämlich extrem klein.» Tilo Burkhardt findet, dass werdende Eltern sich unbedingt mit den Tests, deren Folgen und Grenzen befassen sollten. Wer zu wenig über die Aussagekraft des NIPTs wisse, wiege sich nach einem negativen Resultat in falscher Sicherheit. Denn: «Es gibt noch zahlreiche andere genetische Erkrankungen, die ein NIPT nicht ausschliessen kann.»
*Name geändert.