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Monatsgespräch / Sara Harkness
Was bedeutet Elternsein in anderen Ländern?
Von Ümit Yoker, Illustrationen Martina Paukova
Wie unterschiedlich Eltern aus anderen Kulturen den Alltag ihrer Kinder gestalten, beschäftigt Sara Harkness seit Jahrzehnten. Ein Gespräch mit der Sozialanthropologin über verunsicherte Amerikaner, selbstgefällige Dänen und abendliche Velotouren in den Niederlanden.

zvg
Sara Harkness (*1943) ist Professorin für menschliche Entwicklung, Pädiatrie und öffentliche Gesundheit an der Universität von Connecticut in den Vereinigten Staaten. Die Sozialanthropologin erforscht gemeinsam mit ihrem Mann Charles Super seit über vier Jahrzehnten die Lebensweise von Eltern und Kindern auf der ganzen Welt. Ihr Fokus liegt insbesondere auf der Frage, welchen Einfluss die Kultur darauf hat, wie Eltern den Alltag ihrer Kinder gestalten und welche Ideen und Überzeugungen dahinterstecken. Sara Harkness und Charles Super haben drei erwachsene Töchter und einen erwachsenen Sohn und fünf Grosskinder.
wir eltern: Ihre Studien zeigen: Eltern anderer Kulturen interpretieren vergleichbare Situationen ganz unterschiedlich, trotzdem bewältigen sie sie alle mit Erfolg. Man kommt zum Schluss: Wir haben keinen Schimmer, weshalb unsere Babys weinen, aber das spielt auch gar keine grosse Rolle.
Sara Harkness: Kinder müssen sich sicher und geliebt fühlen. Das bedeutet nicht, dass alle Eltern denselben Weg wählen müssen, um dies zu vermitteln. Wichtig ist, dass sie zuverlässig auf die Gemütslage ihrer Kleinen reagieren. Ein Baby muss wissen, was es zu erwarten hat, wenn es weint. Ob man es dann aufhebt, ihm einen Schnuller gibt oder etwas vorsingt, ist letztlich zweitrangig.
In den Niederlanden schwört man bei Kleinkindern auf feste Schlafenszeiten und regelmässige Tagesabläufe, in den Vereinigten Staaten steht kognitive Stimulation zuoberst auf der Prioritätenliste. Woher kommen diese Unterschiede?
Die wirtschaftliche Situation spielt hierbei eine wesentliche Rolle. Die Lage vieler Eltern in den Vereinigten Staaten ist unsicher: Es gibt keine bezahlte Elternzeit, Arbeitslosenversicherung und Gesundheitsvorsorge lassen zu wünschen übrig. Das soziale Sicherheitsnetz ist nicht mit den Bedingungen in Westeuropa vergleichbar. Wir leben in einer sehr kompetitiven Gesellschaft, und auf dem Arbeitsmarkt ist der Konkurrenzdruck besonders gross. Viele Eltern haben Zweifel, ob ihre Kinder dort bestehen können. Andererseits haben wir Amerikaner ja diese Bedingungen erst geschaffen und der Gedanke, dass man als Familie weitgehend ohne Hilfe des Staates zurechtkommen muss, ist Teil unserer Kultur. Die niederländischen Mittelschichtsfamilien in unseren Studien sorgten sich viel mehr, ob ihre Kinder glücklich und sicher aufwuchsen als ob sie dereinst grosse Karriereerfolge feiern würden. Hinzu kommt, dass die drei «Rs» der niederländischen Kindererziehung - Ruhe, Regelmässigkeit und Reinlichkeit - seit mehr als einem Jahrhundert fester Bestandteil ihrer Kultur sind.
Als der Schweizer Psychologe Jean Piaget in den 1960er-Jahren auch Vorträge in den USA hielt, soll sein Publikum regelmässig gefragt haben, wie sich die kognitive Entwicklung von Kindern beschleunigen liesse. Piaget nannte dies schon damals die «amerikanische Frage».
Und Verunsicherung und Druck haben in den letzten Jahren noch zugenommen. Während amerikanische Eltern früher hofften, dass ihre Kinder zu den besten gehören und Preise heimbringen würden, treibt sie heute eher die Angst, ihre Kinder könnten ins Hintertreffen geraten und den Anschluss verpassen, wenn sie nicht möglichst früh gefördert werden. Hinzu kommt, dass seit einiger Zeit die immense Bedeutung der ersten drei Lebensjahre für die kognitive Entwicklung betont wird. Am Beispiel von Kindern in rumänischen Waisenhäusern etwa konnte dabei aufgezeigt werden, welche Folgen gravierende Vernachlässigungen haben. Dass es nicht um die Frage geht, ob Mütter und Väter ihren Kindern einmal oder fünfmal pro Woche eine Geschichte vorlesen, geriet irgendwann aus dem Blick. Ausgerechnet Eltern aus der Mittelschicht, die sich eigentlich keine Sorgen machen müssten, nehmen sich dies nun besonders zu Herzen und haben das Gefühl, egal was sie tun, es sei nie genug.
Machen sich europäische Eltern denn weniger Sorgen?
Das ist zumindest mein Eindruck, ja. Vielleicht sind es aber auch einfach andere Sorgen, die Eltern in den Niederlanden oder in Spanien plagen.
Sie stellen immer wieder fest, dass sich in gut funktionierenden Familien ganz verschiedene Vorstellungen von Erziehung dazu eignen, Kinder auf das Leben vorzubereiten. Trotzdem macht es längerfristig doch bestimmt einen Unterschied, ob man vor allem darauf setzt, Kinder mit anderen Kindern im Wald spielen oder möglichst viele Kurse besuchen zu lassen?
In den USA werden viel mehr Fälle von ADHS diagnostiziert und medikamentös behandelt als in Europa. Natürlich stellt sich dabei die Frage, inwiefern die Schul- und Gesundheitssysteme unterschiedlich auf dieselbe Situationen reagieren, aber zu wenig Schlaf und Überstimulation spielen dabei bestimmt eine Rolle. Amerikanische Kinder und Jugendliche leiden auch öfter unter Ängsten und Depressionen. Zu hohe Erwartungen und viel Druck von klein auf können verheerende Folgen haben, soviel ist sicher. Ich glaube auch, dass der Fokus amerikanischer Eltern auf kognitive Aspekte auf Kosten der emotionalen und sozialen Entwicklung geht. All das bedeutet nicht, dass es Kleinkindern keinen Spass machen kann, wenn man ihnen ein Buch vorliest, im Gegenteil. Nur sollte ihnen kein Lernziel damit aufgezwungen werden. In unseren Studien erwähnen italienische Eltern ebenfalls, dass ihnen Gutenachtgeschichten wichtig sind. Allerdings geht es dabei stets um gemeinsame Momente der Nähe und darum, dass die Kinder zur Ruhe kommen. Kein einziges Mal wird als Grund angeführt, dass man sie damit auf die Schule vorbereiten wolle.
Wissen wirs in Europa also einfach besser?
Was einen entspannten Umgang mit vorschulischer Förderung betrifft, ganz sicher. Ich glaube aber, dass jede Kultur etwas von der anderen lernen kann. Seit ein paar Jahren erscheinen unzählige Bücher darüber, wie Kinder in anderen Ländern aufwachsen: Was machen die Französinnen anders als die Amerikanerinnen, wie ziehen Eskimomütter ihre Kleinen auf, was machen die Dänen besser als wir? Diese Bücher sind unheimlich beliebt. Die Autorinnen sind oft amerikanische Journalistinnen, die im Ausland leben, und ein Vergleich der Erziehungsstile fällt meistens zuungunsten amerikanischer Eltern aus. Ich glaube aber, dass dabei auch vieles ausgeblendet wird. Dass es in irgendeinem Land die perfekten Eltern und Bedingungen für Kinder gibt, ist eine Illusion. Gerade die Skandinavier erscheinen mir manchmal etwas selbstgefällig, wenn es um dieses Thema geht. Kürzlich war ich an einer Konferenz, an der eine dänische Forscherin über Kindertagesstätten in ihrem Land referierte, auf die man dort sehr stolz ist. Die Ergebnisse ihrer Studie zeichneten aber ein ziemlich anderes Bild. Das fand ich schon bezeichnend.
Sind sich Entwicklungspsychologen und Kinderärzte heute eher bewusst, dass auch ihr Blick kulturell gefärbt ist und schlägt sich das in Handbüchern und Ratschlägen nieder?
Davon hätte ich bisher nichts gemerkt. Ich glaube, wenn sich in den Nachschlagewerken für Kindererziehung mehr Informationen darüber fänden, was Elternsein in anderen Kulturen bedeutet, gäbe es wohl auch nicht mehr so einen Ansturm auf die subjektiven Erlebnisberichte amerikanischer Journalistinnen. Denn das Bedürfnis der Eltern, etwas über Erziehungsmethoden in anderen Ländern zu erfahren und daraus zu lernen, ist ja offensichtlich da.
In Ihren Studien raten nicht nur niederländische, sondern auch amerikanische Kinderärzte zu regelmässigen Schlafens- und Essenszeiten, und in koreanischen Spitälern versichert man jungen Müttern, dass sie keine drei Monate warten müssen, bis sie mit dem Baby erstmals spazierengehen können. Trotzdem halten sich viele Erziehungsvorstellungen hartnäckig. Wie schnell ändert sich unsere Idee davon, was gute Eltern sind und tun sollten?
Das ist schwierig zu sagen. In den 1970er-Jahren begann man in den USA beispielsweise immer häufiger von «quality time» zu sprechen. Der Begriff kam auf, weil Mütter nun öfter einer Erwerbstätigkeit nachgingen und weniger oft zu Hause waren. Dafür sollten sie sich Zeiträume schaffen, in denen sie sich ganz bewusst den Kindern widmeten. Heute haben jedoch viele Eltern den Anspruch, ihre gesamte Freizeit auf die Kinder auszurichten und zur «quality time» zu machen. Mütter und Väter plagt ein schlechtes Gewissen, weil sie beide berufstätig sind. Solche Erwartungen machen es furchtbar anstrengend, gute Eltern zu sein.
Sie haben selbst vier Kinder und forschen seit vielen Jahren gemeinsam mit Ihrem Mann. Welchen Einfluss hatte Ihre Arbeit auf Sie beide als Eltern?
Als unsere älteste Tochter geboren wurde, lebten wir gerade für einige Jahre in Kenia. Dort erlebten wir, wie schon kleine Kinder in der Familie mithalfen. Das bedeutete nicht, dass Fünfjährige auf zweijährige Geschwister aufpassen mussten. Aber jedes Familienmitglied leistete seinen Beitrag. Das fand ich eine wichtige Erkenntnis. Während unserer beiden Aufenthalte in den Niederlanden lernten wir ausserdem die regelmässigen Tagesabläufe zu schätzen und dass Eltern ihren Kindern früher Verantwortung zutrauen als wir in den USA und sich weniger Sorgen darüber machen, ob ihre Kinder genügend Lernanreize bekommen. Alle dortigen Erziehungsvorstellungen haben wir aber trotzdem nicht übernommen. Ich kann mich noch gut erinnern, wie meine Familie und ich jeweils abends mit unseren Rädern durch die Stadt fuhren und pünktlich um halb acht in allen Kinderzimmern das Licht ausging. Die Schlafenszeiten der Niederländer haben wir nie zu den unseren gemacht.
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