Frühförderung
Früh übt sich
Das Ehepaar Huber, beide berufstätig, bringt seine einjährige Tochter seit Kurzem in die Krippe. Sie haben sich für zwei Betreuungstage pro Woche in einer sogenannten Bildungskita entschieden. In der Gemeinschaft mit anderen Kindern und einer anregenden Umgebung soll die Kleine in der ausserfamiliären Zeit möglichst gut betreut und gefördert werden.
Die optimale Förderung hat auch die Familie Furrer-Jones im Blickfeld. Die zwei Kinder im Vorschulalter besuchen von Montag bis Donnerstag ein privates «Kinder-Bildungszentrum » mit zweisprachiger Betreuung in Deutsch und Englisch. Die Kita rühmt sich, den Kindern würden hier «nach einem speziell ausgearbeiteten Bildungsprogramm hervorragende Möglichkeiten geboten, ihre Lernkarriere zu starten.»
Die alleinerziehende Frau Petrovic denkt nicht unbedingt an die «Lernkarriere» ihres dreijährigen Sohnes, wenn sie ihn zweimal wöchentlich in die städtische Spielgruppe bringt. Sie will vor allem, dass der Bub Deutsch lernt und das möglichst früh. Sie selber beherrscht die deutsche Sprache nur bruchstückhaft.
Die Familie Müller schliesslich nutzt keine familienergänzenden Betreuungsangebote. Der Vater arbeitet Vollzeit, die Mutter ist zu Hause und schaut zu den vier Kindern. Die Eltern sind überzeugt, dass ihr Daheim und die ländliche Umgebung den Kindern genügend Anregung bieten, um sie gut auf die Schule vorzubereiten.
Übungsphase Kindheit
So unterschiedlich die Lebenswelten und der Alltag dieser vier Familien sind, haben sie eines doch gemeinsam: Alle wollen ihren Nachwuchs früh fördern. Eine engagierte Betreuung, das Gruppenerlebnis mit Gleichaltrigen und abwechslungsreiche Spielmöglichkeiten sollen dafür sorgen, dass die Kleinen sich uneingeschränkt entfalten können. Dahinter steckt mehr als die Umsetzung erzieherischer Ideale: Die Eltern hoffen, auf diese Weise auch das Bildungspotenzial ihrer Kinder zu erschliessen und damit ihre Chancen auf späteren Bildungs- und sogar Berufserfolg zu erhöhen. «Frühkindliche Bildung» heisst die Losung der Zeit. «Es wird zunehmend erkannt», sagt die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm von der Universität Fribourg, «dass die frühe Kindheit ein besonders bedeutsamer Lebensabschnitt darstellt. » In dieser Phase erwerbe ein Kind Eigenschaften wie Erkundungsdrang, Neugier, Motivation oder Selbstvertrauen, «die für das spätere Lernverhalten und damit den Schulerfolg grundlegend sind».
Bildungspanik?
Mit dieser Erkenntnis verschieben sich die Erziehungsansprüche, insbesondere bei der familienergänzenden Kinderbetreuung: Nachdem jahrelang mehr Krippenplätze gefordert und auch geschaffen wurden, dreht sich heute in den Kitas alles um die Qualität. Eine neue «Erziehungs- und Bildungspartnerschaft zwischen Familien und Tageseinrichtungen » sei nötig, stellen Fachleute fest. Heute reicht es nicht mehr, wenn eine Kita helle Räume und einen grossen Garten hat, die Betreuerinnen nette Gruppenrituale veranstalten und die Köchin gesunde Kindermenüs zubereitet. «Heute besteht die Herausforderung darin, Kinder nicht nur zu betreuen und erziehen, sondern vor allem auch zu fördern und bilden», sagt Margrit Stamm.
Was das genau bedeutet? Bei dieser Frage gehen die Meinungen auseinander. Manche Eltern verstehen unter «Frühförderung», wenn ihren Kindern mit schulmässigen Methoden möglichst früh möglichst viel in den Kopf gepackt wird. Das ABC und Einmaleins schon mit drei Jahren – warum nicht? Der Markt ist riesig, auf dem leistungsorientierte Eltern für ihren Nachwuchs Frühenglisch, musikalische Früherziehung oder Baby Signing in Anspruch nehmen können. «Bildungspanik » nennt Margrit Stamm diese elterliche Haltung – die Angst der Gutsituierten vor dem Scheitern. Wobei die Zeichen der Zeit ihnen recht zu geben scheinen: So will der neue Rektor der ETH Zürich, Lino Guzzella, strengere Maturaprüfungen und mehr Leistungs- und Elitedenken auch an den Volksschulen. Und der Schweizer Wissenschafts- und Technologierat SWR verkündet, eine effiziente und nachhaltige Nachwuchsförderung müsse bei der frühkindlichen Bildung ansetzen.
Was aber ist Frühförderung, die auch wirklich dem Entwicklungsstand von Kindern entspricht? Für Leitplanken sorgt seit Kurzem der «Orientierungsrahmen für frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung in der Schweiz», den die Schweizerische Unesco-Kommission und das Netzwerk Kinderbetreuung veröffentlicht haben. Das 70 Seiten starke Werk, ausgearbeitet vom Marie Meierhofer Institut für das Kind (MMI), orientiert sich an der Entwicklungspsychologie: Es will Wissen vermitteln, wie kleine Kinder die Welt entdecken, unter welchen Voraussetzungen sie ihr Potenzial entwickeln und wie Erwachsene sie dabei begleiten können. Dabei gehe es weniger um späteren Leistungserfolg, sondern erst einmal um die Wahrung von Rechten, betont Heinz Altorfer von der Schweizerischen Unesco-Kommission. «Kinder haben ein Recht auf Bildung – nicht erst ab Schuleintritt.» So stehe es auch in der Uno-Kinderrechtskonvention, welche die Schweiz 1997 ratifiziert habe. Unbestritten ist: Das Bild von kleinen Kindern hat sich durch die Forschungsergebnisse der jüngeren Zeit diametral verändert. Kleine Kinder sind nicht die hilflosen, unbedarften und mutterzentrierten Wesen, als die sie früher angesehen wurden. «Heute weiss man, dass sich Kinder von Geburt an kompetent und bildungshungrig der Welt stellen, indem sie versuchen, mit all ihrer Energie und all ihren Sinnen die Welt um sie herum zu verstehen und entsprechend zu handeln», sagt die Entwicklungspsychologin Heidi Simoni, Leiterin des MMI und Mitautorin des «Orientierungsrahmens ». Das bestätigt auch die Hirnforschung. «Nie wieder im Leben ist ein Mensch so offen für neue Erfahrungen, so neugierig, begeisterungsfähig, lerneifrig und kreativ wie während der Phase der frühen Kindheit», sagt der deutsche Entwicklungsneurobiologe Gerald Hüther. Durch frühes Lernen werden im Gehirn entscheidende Verbindungen und Netzwerke angelegt, die viele Kompetenzen für das spätere Leben vorspuren.
Kein Wunder also, stösst der «Orientierungsrahmen » auf breites Interesse. «Wir bekommen von vielen Seiten aus der Praxis positive Signale», sagt Heidi Simoni. «Offenbar ist es uns gelungen, für die Ausgestaltung der Bildungs- und Erziehungsarbeit mit kleinen Kindern einen gemeinsamen, verbindlichen Rahmen zu setzen.»
Manche Kitas pflegen das verstärkte Lernen schon länger. In diesen Bildungskitas stehen sogenannte Lerngeschichten im Zentrum: Die Pädagoginnen konzentrieren sich auf das genaue Beobachten eines Kinds – woran ist das Kind im Moment, wofür interessiert es sich besonders? –, anschliessend halten sie ihre Beobachtungen schriftlich fest.
Die «Kita Kunterbunt» in Muri bei Bern ist eine solche Bildungskita. Das geräumige, direkt am Waldrand gelegene Haus existiert seit 1951 als Kinderkrippe. Dazu gehört ein grosses Gelände mit diversen Spielgeräten und Sandgruben, die erahnen lassen, dass hier auf Aktivitäten an der frischen Luft viel Wert gelegt wird. Kita-Leiter René Baumgartner sagt, er habe seine Tagesstätte nie als Hütedienst, sondern immer schon als Bildungsinstitution verstanden. «Doch im Gegensatz zu vorher haben wir jetzt die Werkzeuge dazu», sagt Baumgartner.
Chancengleichheit
Die «Werkzeuge» sind die Portfolio-Ordner, in denen jedes Kind seine Lerngeschichten aufbewahrt. Die Ordner stehen gut erreichbar für kurze Arme auf Regalen. Neben Bildern sind hier auch Texte abgeheftet, kleine Briefe der Betreuerinnen an die Kinder, etwa so: «Schau, was du gelernt hast; du kannst jetzt schon Puzzles mit vier Teilen zusammensetzen. » Es sei eine Methode, die ganz vom Kind ausgehe, erklärt René Baumgartner. «Wir wollen hier die Kinder zu lebenslangem Lernen anregen, damit ihre Neugier erhalten bleibt.» Dass sich Qualität in Kitas und anderen vorschulischen Institutionen auszahlt, ist wissenschaftlich belegt. So zeigen die Untersuchungen des Berliner Erziehungswissenschaftlers Wolfgang Tietze, dass Kinder, die eine qualitative gute Kindertagesstätte besuchen, eine bessere sprachliche Entwicklung zeigen, sozial kompetenter sind und Alltagssituationen besser bewältigen können. Selbst noch am Ende der zweiten Primarschulklasse erreichen sie bessere Schulnoten. «Solche Kinder», resümiert Tietze, «sind in ihrem Entwicklungsstand bis zu einem Jahr fortgeschrittener als Kinder, die ausschliesslich von den Eltern betreut werden.»
Auch die Wirtschaftswissenschaft hat das Thema entdeckt. Eine OECD-Studie aus dem Jahre 2010 kommt zum Schluss, das Bruttoinlandsprodukt in der Schweiz würde in den nächsten 80 Jahren um 900 Milliarden Franken anwachsen, wenn es gelänge, die Leistungen des schwächsten Segments aus dem Pisa-Test – in der Schweiz zirka 13 Prozent der Schülerinnen und Schüler – auf mindestens 400 Pisa-Punkte anzuheben. Dazu müsse unser Land aber mehr Mittel in den Frühbereich investieren.
Noch besser erforscht ist der frühkindliche Bereich in den USA. Eine Übersichtsstudie des MIT, die alle US-Studien der letzten 40 Jahre ausgewertet hat, macht deutlich: Frühgebildete Kinder verdienen als Erwachsene ein grösseres Einkommen, sind als Erwachsene weniger krank, sie begehen weniger Straftaten und landen seltener in der Sozialhilfe als Vergleichsgruppen.
Offensichtlich dabei: Es sind die benachteiligten Kinder, die von einer institutionellen Frühförderung am meisten profitieren. Kinder aus schlecht integrierten Migrantenfamilien, Kinder aus bildungsfernen Schichten, Kinder von Eltern, die schlicht keine Zeit haben, weil sie Geld verdienen müssen. Also wird es künftig darum gehen, solche Kinder stärker in die Frühförderung einzubinden. Basel-Stadt geht dabei den radikalsten Weg, indem es ab 2013 ein «selektives Obligatorium» vorsieht: Kann ein Vorschulkind vor dem Eintritt in den Kindergarten zu wenig Deutsch, muss es während mindestens zweier Halbtage pro Woche eine Kita oder Spielgruppe besuchen.
Andere gehen noch weiter, zumindest in ihren Wünschen. Kita-Leiter René Baumgartner träumt von der kostenlosen Kita für alle, samt einem verbindlichen Bildungsplan, an dem sich Eltern, Fachpersonen und Behörden orientieren. Er ist überzeugt: «Irgendwann wird es für jedes Kind ab zwei Jahren selbstverständlich sein, täglich von 9 bis 16 Uhr in die Kita zu gehen.»
Luc-François Georgi
Folgende Fragen helfen Eltern, die Qualität einer Tagesstätte einzuschätzen:
- Hat die Kita ein pädagogisches Konzept? Egal, welcher Ansatz: Eine Kita soll ihre Methoden und Ziele offenlegen.
- Wie ist die Ausstattung, und welchen Stellenwert gibt die Kita der Sicherheit und der Gesundheit? – Atmosphäre, Sauberkeit, helle Räume und genügend Platz zum Spielen und Austoben sind wichtig, damit sich kleine Kinder wohlfühlen.
- Wie gut ist das Personal für die Arbeit qualifiziert und wie ist der Umgangston? Ausbildung, Fortbildung und Berufserfahrung der Pädagoginnen sollen Eltern in Erfahrung bringen.
- Wie gut wird die Kita geführt? Die Leitung ist das Aushängeschild der Kita.
- Wie vielfältig, herausfordernd und entwicklungsangemessen sind die Aktivitäten der Kinder in der Kita? Herzstück einer guten Kita sind die Aktivitäten der Kinder – nicht das Stillsitzen oder die Pflege.
- Wie gut baut das Fachpersonal Beziehungen zum Kind auf und wie pflegt es diese? – Das Wichtigste ist die Beziehung zwischen der Fachkraft und dem Kind.
- Wie intensiv ist die Elternarbeit und welche Rolle spielt die Elternmeinung? Gute Kitas pflegen intensive Elternkontakte.
- Wie gestaltet die Kita die Integration der Kinder, und wie setzt sie die Partizipation, das Mitspracherecht der Kinder, im Alltag um? – Eine Kita, welche die Rechte des Kindes ernst nimmt, setzt auf Integration und Partizipation.
Quelle: «Qualität und frühkindliche Bildung.» Dossier von Prof. Dr. Margrit Stamm (Fribourg 2012).
Interview
«Gleiche Startchancen gibt es nicht»
wir eltern: Frau Professorin Stamm, haben Sie den «Orientierungsrahmen für die frühkindliche Bildung in der Schweiz» gelesen?
Margrit Stamm: Ja, wir haben ihn genau studiert. Es ist ein sehr wertvolles Papier. Ein Grundlagenwerk.
Hilft dieses Papier den Kleinkinderzieherinnen, Tageseltern oder überhaupt Eltern in ihrem Alltag?
Um diese 70 Seiten zu verstehen, muss jemand gut gebildet sein. Personen ohne akademischen Hintergrund wird das Werk vermutlich weniger ansprechen. Entscheidend ist deshalb, wie es im Alltag umgesetzt wird und ob es gelingt, die Theorie so herunterzubrechen, damit sie praxistauglich wird. Auch die Höheren Fach- und Berufsschulen werden daran interessiert sein.
Deckt sich der Inhalt mit Ihren Erkenntnissen und Auffassungen?
Im Allgemeinen ja, als Orientierungshilfe für frühkindliche Betreuung, Bildung und Erziehung entspricht er dem State of the Art. Was das Werk aus meiner Sicht zu wenig berücksichtigt, sind die unterschiedlichen sozialen Milieus, in denen Kinder hierzulande leben: Ein Mittelstands- oder Oberschichtkind, das im Einfamilienhaus im verkehrsberuhigten Quartier aufwächst, hat ganz andere Voraussetzungen als das Albanerkind aus dem Block in Spreitenbach. Nicht jedes Kind ist in der Lage, aus eigenem Antrieb zu lernen und seine Umgebung selbstgesteuert zu gestalten. Benachteiligte Kinder müssen stärker als andere befähigt werden, damit sie von sich aus Neugierde entwickeln.
Führt es zu mehr Chancengleichheit in der Schule, wenn unsere Gesellschaft die frühe Kindheit pädagogisch aufwertet?
Das wird überall postuliert. Die frühkindliche Bildung als das Mittel zu preisen, um bisherige Ungleichheiten aufzuheben, ist aber aus meiner Sicht eine zu starke Forderung, ja gar eine Ideologie. Das Ziel sollte vielmehr lauten, Benachteiligungen so zu verringern, dass die soziale Herkunft nicht mehr eine solch massgebende Rolle spielt wie bis anhin. Aber die totale Startchancengleichheit kann es nicht geben, denn jedes Kind ist anders: Es gibt Langsam- und Schnellentwickler, Gescheite und weniger Gescheite. Die wird es auch in Zukunft geben.
Was bedeutet die ganze Bildungsdiskussion für Eltern, die ihre Kinder in den ersten vier Jahren traditionell zu Hause erziehen? Verstehen Sie, wenn sich manche bedroht fühlen?
Ich verstehe das sehr gut. Die Diskussion ist zu stark ausgerichtet auf die anteilmässig wenigen Paare, die beide Vollzeit arbeiten, während die traditionelle Sicht fast belächelt wird. Man muss betonen: Der Begriff der frühkindlichen Bildung meint auch die Förderung in der Familie selbst, egal, welches Modell sie lebt. Dieser Gedanke geht oft etwas unter. In der Schweiz nutzt fast ein Drittel aller Eltern keine institutionelle Betreuung, und die übrigen nutzen sie massvoll, das heisst, sie bringen ihre Kinder an ein oder zwei Tagen pro Woche in die Kita.
Es gibt Stimmen, die für alle Kinder ab dem zweiten Lebensjahr das Recht einfordern, täglich kostenlos eine Kita zu besuchen. Wie beurteilen Sie dies?
Die Gratiskita für alle ist nicht realistisch. Aber: Die institutionelle Frühförderung sollte für diejenigen Kinder nichts kosten, die es am nötigsten haben; der Kitabesuch sollte für sie sogar Pflicht sein. Die Frage ist nur: Wie bringt man diese Kinder dorthin? Heute fallen sie durch die Maschen, denn in den Kitas sind vor allem Mittelschichtkinder. Und diese Mittelschicht wirft sehr viel Geld auf, um zwei Tage pro Woche arbeiten und die Kita bezahlen zu können.
Margrit Stamm
Margrit Stamm ist Ordentliche Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität Fribourg.