Interview Margrit Stamm
Hinreichend gut genügt
wir eltern: Frau Stamm, wer mit seinem vierjährigen Kind noch nie einen Kurs besucht hat, hat ein gesundes Selbstbewusstsein, richtig?
Margrit Stamm: Ja, denn es gibt einen versteckten Wettbewerb unter den Eltern. Man schaut genau, wie sich die Kinder Gleichgesinnter im Quartier entwickeln und was die so machen. Ich würde Eltern aber darin bestärken, sich von dieser Kursitis zu emanzipieren. Viele Eltern meinen, ihr Kind bleibe stehen, wenn es nicht in den Kurs gehe.
Dieser Eindruck kommt nicht von ungefähr. Es gibt eine regelrechte Frühförderungskurs-Industrie.
Der Druck auf Eltern, ihr Kind früh zu fördern, ist in den PISA-Studien begründet. Diese machten internationale Vergleiche über die Bildungsqualität in verschiedenen Ländern möglich – und die Schweiz schnitt viel schlechter ab, als erwartet. In der Politik wurde der Ruf laut, das Elternhaus in die Pflicht zu nehmen, als Fundament und Ort, wo das Kind geformt wird. Diese lineare Vorstellung, dass der 15-Jährige das Produkt ist von dem, was vorher war, ist falsch. Doch so nahm man die Eltern in die Verantwortung: Sie müssen erziehen und bilden.
Offenbar interpretierten dies viele Eltern als Aufforderung, Förderkurse zu belegen …
Viele politische Parteien werden nicht müde, zu betonen, dass Bildung unsere grösste Ressource sei. Und heute verhalten sich Familien genauso, wie die Politik gefordert hat. Sie übernehmen Verantwortung – etwa für den Bereich der Frühförderung. Doch Familien wird nicht nur die Verantwortung zugeschoben, sondern auch die Schuld, wenn etwas nicht funktioniert.
Der Druck, der auf Eltern lastet, ihre Schuldgefühle und Unsicherheiten sind also Politik und Gesellschaft zuzuschreiben?
Ja. Eltern müssen erkennen, dass ihre Situation ein politisches Zuspiel ist. Wenn sie spüren, dass man sie verantwortlich macht für ihre Kinder, dass sie aber nicht zwingend die alleinige Ursache für beispielsweise abweichendes Verhalten sind, dass es auch noch Gene und Umwelt gibt, dann kann das entlastend sein. Eltern sind weder alleinig schuld noch machen sie alles falsch. Doch Eltern sind heute verunsichert, und ihnen fehlt die Zuversicht, dass sich ihr Kind auf seine Art entwickeln wird.
Sie befinden sich ja auch in einer paradoxen Situation: Einerseits wird der familiäre Einfluss allein verantwortlich gemacht für das Verhalten und Gedeihen des Kindes. Andererseits wird Eltern Kompetenz abgesprochen, indem ein Heer an Fachleuten bereitsteht, einzuspringen. Wie sollen Eltern damit umgehen?
Indem sie diese Situation erkennen. Eltern müssen erkennen, dass sie in einer Gesellschaft leben, in der sie sozusagen Marionetten der Fachwelt sind. Zweitens müssen sie in den Spiegel schauen und analysieren, wo sie selbst durch ihr Verhalten zur Problematik beitragen. Vielleicht müssen sie sich dann auch von den Experten emanzipieren.
Das ist schwierig. Im Kindergarten wird schon jedes Kind auf logopädischen Therapiebedarf hin abgeklärt – ausser die Eltern wünschen das explizit nicht. Was wiederum die anfangs angesprochene Selbstsicherheit bedingt.
Heute wird Verhalten von Kindern, das vor Jahrzehnten noch als normal galt, therapiert. An Kliniken gibt es Stellen, wohin man Kinder bringen kann, die trotzen, schreien, bis vier in die Hose machen und so fort. Die Botschaft lautet: Das ist nicht normal, wir lösen das für Sie.
Bei den enorm hohen Zahlen von Kindern, die therapiert werden, muss man sich fragen, was zuerst war: Kinder mit Problemen oder eine Gesellschaft, die Therapiemöglichkeiten schafft und dadurch erst Patienten heranzieht.
Genau. Die Diagnostik ist so weit fortgeschritten, dass wir nur noch 30 bis 40 Prozent sogenannt normale Kinder haben. Statistiken zeigen, dass von 10 Vorschulkindern 6 bereits eine Therapie oder Abklärung hatten. Das ist auch Ausdruck unserer Fachwelt: Es ist ein Angebot da, und man will zum Wohl des Kindes nichts verpassen.
Wie ist das passiert?
Vor 10 bis 20 Jahren galten Kinder als robuste, widerstandsfähige Wesen. Dann sind mehr und mehr Beratungsstellen entstanden, und das Sicherheitsdenken hat überhandgenommen. Heute gelten Kinder als verletzbar und anfällig, weshalb man sie vor allen möglichen Gefahren schützen muss. Man hat das Vertrauen verloren, dass ein Kind wachsen kann und hat gleich Angst, es sei ein Defekt da.
In Ihrem kommenden Buch, dessen Manuskript Sie derzeit abschliessen, fordern Sie eine elternfreundlichere Gesellschaft. Wie sieht die aus?
Jede politische Partei sagt, man müsse die Familie stärken. Aber niemand geht die Fragen der Schuld, der Verantwortung und des Drucks an. Die Vereinbarkeitsfrage und die Frage des Schulsystems: Das sind in der Schweiz ungelöste Probleme. Wir sind deshalb keine elternfreundliche Gesellschaft, sondern eine, die Eltern das Leben schwer macht.
Wer wäre gefordert?
Politik und Fachleute müssten Eltern als fähige Geschöpfe verstehen. Geht man immer von ihrer Unfähigkeit aus, so verstärkt das ihre Schuldgefühle. Viele Fachstellen machen Eltern noch viel mehr Angst.
Die Elternbildungstagungen werden ja überrannt.
Ja. Aber dort gibt es selten Vorträge zum Elterndruck, zur Therapeutisierung der Gesellschaft, wie man sich gegenüber Experten verhalten könnte. Das wäre wichtig an solchen Grossveranstaltungen. Stattdessen zeigen die Referenten lieber auf, wie man das Kind noch mehr optimieren könnte.
... und wie Eltern sicherstellen können, dass sie selbst nie laut werden.
Das ist auch ein grosses Problem. Eltern meinen, sie müssten die Freunde ihres Kindes sein, weil das Kind sonst geschädigt würde. Elternschaft ist jedoch nie eine symmetrische Beziehung. Das Bewusstsein hierfür sollte verstärkt Thema der Elternbildung sein.
Eltern möchten für ihr Kind möglichst alles perfekt machen ...
... was zur Folge hat, dass Eltern überbehüten, über-fördern. Man weiss heute, dass Kinder, die einen durchgetakteten Wochenplan haben, ihre Kreativität und Selbstständigkeit verlieren. Eltern sollten den Perfektionsdrang ablegen und sich eine hinreichend gute Elternschaft zum Ziel setzen.
Wie sind «hinreichend gute Eltern»?
Sie schauen in den Spiegel und sind bereit, etwas zu ändern. Sie analysieren, woher der Perfektionsdrang kommt. Sie handeln intuitiv und akzeptieren, was ist, ohne sofort eine Handlung einzuleiten.
Hören denn nicht alle Eltern auf ihre Intuition?
Eben nicht. Intuition wird heutigen Eltern ausgetrieben. Man schaut zuerst in Ratgebern, im Netz oder in Zeitschriften nach, was man tun soll.
Hochstehende Informationen sind sofort verfügbar.
Das ist ein Problem unserer Gesellschaft. Vor allem gebildete Eltern beginnen sofort, Diagnosen zu stellen. Und diese werden wichtiger, als die eigene Intuition. Fachleute müssten die Eltern viel stärker darin unterstützen, auf ihre Intuition zu hören.
Ein Appell an die Eltern...
...entspannt euch! Vertraut euren Kindern! Vertraut der Entwicklung eures Kindes!
Das ist manchmal leichter gesagt als getan. Uns hat eine Spielgruppenleiterin mal gefragt, ob unser Kind überhaupt reden kann.
Das kann Eltern natürlich sehr stark verunsichern. Und wenn sie dann googeln, finden sie sofort eine mögliche Diagnose für ein Verstummen ausserhalb des familiären Umfelds. Ich versuche in den Spielgruppen und Kindergärten Aufklärungsarbeit zu leisten, damit die Lehrpersonen Diversität, also unterschiedliche Entwicklungen, akzeptieren können.
Das ist für Kindergärtnerinnen schier unmöglich: Schliesslich müssen sie schon erste - genormte - Bewertungsbögen zu jedem Kind ausfüllen.
Das ist ein enormer Druck. Vor allem, wenn sie auch sehr viele Kinder in den Klassen haben. Jedes in den Stütz- und Förderunterricht zugeteilte Kind bringt der Kindergärtnerin Entlastung und der Therapeutin Daseinsberechtigung. Der Defizit- Zugang und der Aufbau der Stütz-Angebote spiegeln sich in den Zahlen: Innert der letzten 10 Jahre mussten 30 Prozent mehr Kinder in eine Therapie.
Die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm (Jahrgang 1950) hat ihren Lehrstuhl an der Universität Fribourg 2012 verlassen, um sich auf die Forschung zu konzentrieren. Aus ihrem eigenen Institut Swiss Education in Bern beteiligt sie sich via Blog und Twitter intensiv an den gesellschaftlichen Debatten über Begabung und Frühförderung ebenso wie über das ungenutzte Potenzial der Pensionierten. Ihr neues Buch «Perfekte Eltern - perfekte Kinder» erscheint im Frühjahr 2016 bei Piper.