Erziehung
Babys schreien lassen?
Wenn Babys und Kleinkinder weinen, wollen wir sie instinktiv trösten, beruhigen oder ablenken. Denn schreiende und tobende Kinder, das mögen wir nicht. Wieso eigentlich?
Zum «wir eltern»-Interview mit Aletha Solter
Körperliche Nähe.
Je kleiner das Kind, desto mehr körperliche Nähe braucht es. Eine Tragehilfe ist tagsüber praktisch, weil so beim Tragen die Hände frei bleiben.
Ungeteilte Aufmerksamkeit.
Kinder unter zwei Jahren brauchen sie sofort, grössere können auch warten. Wertvoll ist, sich mindestens eine halbe Stunde täglich ausschliesslich mit dem Kind zu befassen. Es bestimmt, was in dieser Zeit geschieht oder gespielt wird; es entwickelt seine eigenen Ideen, wenn man es lässt.
Respektvoll zuhören.
Wenn Kinder sprechen, sollten Erwachsene ebenso aufmerksam zuhören und sie zu Ende reden lassen.
Distanz bei Schwierigkeiten vermeiden. Ein weinendes Baby nie ignorieren, sondern zu sich nehmen. Bei grösseren Kindern Nähe herstellen, wenn sie weinen oder toben, bei ihnen bleiben, sodass sie sich auch in dieser Situation geliebt und akzeptiert fühlen.
Strafen und Belohnungen unterlassen.
Sie sind Ausdruck von Macht. Ist Macht ungleich verteilt, fühlen sich Kinder unsicher.
Authentizität.
Eigene Gefühle verantwortungsbewusst mitteilen.
Bücher von Aletha Solter
«Spielen schafft Nähe – Nähe löst Konflikte», Fr. 22.90; «Warum Babys weinen», Fr. 26.90; «Auch kleine Kinder haben grossen Kummer», Fr. 26.90, alle im Kösel Verlag.
Als wäre es gestern gewesen, erinnere ich mich, wie ich durchs Schlafzimmer tigerte und versuchte, das fünf Wochen alte, lauthals schreiende Bündel zu beruhigen, das über meiner Schulter lag. Es war Hochsommer und abends um acht immer noch glühend heiss, vor allem mit einem schweissnassen Baby im Arm. Wir hatten den Nachmittag am See verbracht, mein älterer Sohn hatte fröhlich mit seinen Freunden gespielt und lag jetzt mit staunenden Augen im Bett. Sein kleiner Bruder hatte schon am Ende der 25-minütigen Tramfahrt im Tragetuch angefangen, sein Unwohlsein unüberhörbar mittzuteilen und war immer noch völlig ausser sich, eine unübliche Situation. Stillen, Schaukeln, Singen – keiner der bewährten Babyberuhigungstricks wollte greifen. Mit zunehmender Hilflosigkeit wuchs meine Unruhe. Was hatte der Kleine bloss? Was sollte ich tun? Wieso konnte er nicht endlich ... RUHIG sein!
Tränen für die Seele
Hätte ich damals die schweizerisch-amerikanische Entwicklungspsychologin Aletha Solter bereits gekannt, wären diese schrecklichen Minuten, die sich anfühlten wie Stunden, ganz anders verlaufen. Ich hätte mich mit dem schreienden Säugling auf einen Stuhl gesetzt, hätte erst mal selber tief ein- und wieder ausgeatmet und ihm dann mit ruhiger Stimme versichert, alles sei in Ordnung, er dürfe weinen so viel und so lange es ihm gut tue. Aletha Solter, die Gründerin des Aware Parenting Institutes in Kalifornien, ist bei uns auch heute noch weitgehend unbekannt. Nicht einmal am Kinderspital Zürich kennt man ihre Arbeit. Dabei könnte ihre Haltung bezüglich der herausfordernden Thematik des Weinens von Babys und Kleinkindern den Eltern eine ganze Menge Stress und Druck abnehmen.
Viele Psychotherapeuten anerkennen heutzutage den Wert der Tränen und ermutigen ihre Klienten zu weinen, wenn ihnen danach ist. Und eigentlich wissen wir alle ziemlich genau, wie gut es tut, in hoch emotionalen Situationen das Augenwasser fliessen zu lassen, so richtig aufzuschluchzen und unser ganzes Elend in die Welt hinaus zu heulen. Hinterher fühlen wir uns irgendwie befreit und entspannt und können die Situation oft aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Ein jüdisches Sprichwort sagt: «Was Seife für den Körper ist, sind Tränen für die Seele.» Allerdings getrauen wir uns ausserhalb der eigenen vier Wände oft kaum, uns so verletzlich zu zeigen. Manche Leute haben sich gar einen derart soliden Schutzpanzer zugelegt, dass sie nur schwer Zugang zu ihren Tränen finden. «Der positive Effekt des Weinens beginnt aber nicht erst mit drei oder mit zehn Jahren, sondern schon direkt nach der Geburt», sagt Aletha Solter beim Interview am Rande eines Vortrags in Deutschland im vergangenen Oktober, «es ist wichtig zu verstehen, dass Weinen eine entlastende, lösende und heilsame Wirkung hat.»
Nr.-1-Accessoire für Babys
Fast gar nichts verstört uns so sehr wie ein herzzerreissend weinendes Kind. Wir halten es kaum aus, wenn unsere Kleinen toben und brüllen. Am liebsten mögen wir sie nett, brav und vor allem ruhig, ganz besonders in Kindergarten und Schule. Früher glaubte man noch, Schreien würde Lunge und Brustmuskulatur stärken und war gar ein bisschen stolz, wenn das eigene Kind seine Meinung derart lautstark und vehement kundtat. Doch mittlerweile haben sich Heerscharen von Psychologen unserem Innenleben gewidmet, haben frühkindliche Traumata enttarnt und in Relation gesetzt zu Neurosen, Psychosen und sonstigen Störungen, haben zahllose Bücher geschrieben und Therapiemethoden entwickelt – und die Arbeit scheint ihnen so bald nicht auszugehen. Ein weinendes Kind bringt deshalb heute jede verantwortungsbewusste Mutter und jeden ebensolchen Vater in die gewissensmässige Schieflage. Der Nuggi, diese Brustwarzenattrappe, im englischen Sprachraum Pacifier, also Friedensstifter genannt, ist zum Nummer-Eins-Accessoire im Leben eines Kleinkindes aufgestiegen. Wer die Natur-Schiene fährt, schwört aufs Tragetuch und die stillende Wirkung der Brust. Hauptsache das Kind quengelt und stört nicht. Hat es das Aus-der-Reihe-Tanzen bis ins Schulalter nicht verlernt, wird es womöglich mit Ritalin zum Ruhigsitzen gebracht, mangels fehlender Strategien im Umgang mit lebhaften Kindern.
Niemand weint grundlos
Doch zurück zu den Babys. Es gibt mehrere Gründe, wieso sie so viel häufiger weinen als grössere Kinder. Weinen ist ihr primäres Kommunikationsmittel. Sprechen können sie noch nicht und wenn sie schliesslich erste Wörter und bald schon Sätze formulieren, fällt es ihnen nicht immer leicht in Worte zu fassen, was der Grund ist für ihr Unbehagen – Erwachsenen geht das ja oft ähnlich.
Doch häufiges Weinen bedeutet nicht, dass die Kleinen nicht in Not wären. Niemand weint grundlos, auch ein Baby nicht. Es teilt uns mit: Etwas ist nicht gut, ich fühle mich unwohl, helft mir! Die Aufgabe der Eltern, und das ist besonders beim ersten Kind eine der grössten Herausforderungen überhaupt, ist nun herauszufinden, was das Kind braucht. Hat es Hunger oder Schmerzen? Ist ihm kalt oder möchte es gehalten werden? Ein Baby, das wiederholt längere Zeit schreit, sollte in jedem Fall von einem Kinderarzt untersucht werden, damit ein medizinisches Problem ausgeschlossen werden kann, darin sind sich Fachleute einig. Gerade in den ersten drei Lebensmonaten weinen Babys jedoch oft ohne ersichtlichen Grund, ganz besonders in den Abendstunden. Caroline Benz befasst sich als Leiterin der Entwicklungspädiatrischen Poliklinik am Kinderspital Zürich mit den Ursachen dafür: «Bei diesen sogenannten Schreikindern weiss man aktuell nicht wirklich, warum sie schreien, es gibt aber einige Erklärungsansätze.» Zum Beispiel, dass Neugeborene erst lernen müssen, nachts zu schlafen und tagsüber wach zu sein. Dieser Entwicklungsschritt in der Schlafregulation setzt jedoch erst mit sechs Wochen ein – genau dann also, wenn auch das abendliche Schreien der Säuglinge langsam wieder abnimmt.
Überstimulierung vermeiden
Ein weiterer – oder ergänzender – Ansatz kommt von Aletha Solter. Die Biologin und Psychologin ist durch viele Jahre wissenschaftliche Arbeit und den Kontakt zu zahlreichen Eltern und ihren Kindern zum Schluss gekommen, dass Babys und Kleinkinder beim Weinen Spannungen und Stress abbauen, die sich im Laufe des Tages oder durch vorangegangene Ereignisse aufgestaut haben. Studien haben beispielsweise gezeigt, dass Babys nach einer traumatischen Geburt mehr weinen als solche, die eine unkomplizierte Geburt hatten. Oftmals sind Kinder auch einfach überreizt von den vielen neuen Eindrücken eines Tages oder weil die Eltern nicht immer verstehen, was das Kind gerade braucht. Ausserdem gehören Frustrationen zum Alltag, denn nicht alles, was es will, gelingt oder ist erlaubt. Das Weinen, so Aletha Solter, hat in einem solchen Moment die Funktion, den Druck und die Anspannung zu lösen und zu klären.
Und jetzt sind Eltern und Bezugspersonen gefordert. Denn Aletha Solter und Caroline Benz vom Kispi Zürich empfehlen beide das Gleiche: das weinende Kind liebevoll zu halten, es keinesfalls alleine zu lassen. Denn Verzweiflung und Verlassenheitsgefühle graben sich tief in die Seele ein. Dass es einen Unterschied macht, ob ein Kind im Arm gehalten wird, wenn es weint, kann nachgewiesen werden. Zahlreiche Untersuchungen haben beispielsweise gezeigt, dass der Spiegel des Stresshormons Cortisol bei Kindern grösser ist, wenn sie von ihren Müttern getrennt und alleine sind, egal ob sie weinten oder nicht.
So weit, so klar. Und jetzt folgt der kritische Teil. Das Kind soll nämlich weder geschaukelt, noch abgelenkt oder ständig hin und her, von der linken auf die rechte Schulter, in Wiege- oder Fliegerhaltung gelegt sondern einfach nur verständnisvoll und fürsorglich gehalten werden. «Bei Schreibabys führen die verzweifelten Versuche das Kind zu beruhigen zu Überstimulierung», sagt Benz. Das Kind verstummt für eine Weile, um aber gleich wieder – noch erschöpfter – weiter zu schreien.
Kinder wachsen, Eltern auch
Ähnliches kann passieren, wenn ältere Kinder einen Wutanfall haben, sich auf den Boden werfen, brüllen und toben. Statt das Kind abzulenken, ihm zu befehlen, still zu sein oder ihm vorzuschlagen, den Zorn in Worte zu fassen, es in sein Zimmer zu schicken oder zu ignorieren, empfiehlt Aletha Solter auch in dieser Situation, das kleine Kind fest in die Arme zu nehmen, es davon abzuhalten, sich selbst oder andere zu verletzen und ihm zu sagen, es sei in Ordnung, starke Gefühle zu haben und diese auszudrücken. Kinder, die heftig weinen aber niemand verletzen, müssen nicht gehalten werden, es genügt, wenn man bei ihnen bleibt. Um die intensiven Gefühle der Kinder in dieser Art begleiten zu können, bleibt Eltern jedoch nichts anderes übrig, als sich mit ihren eigenen Gefühlen auseinanderzusetzen. Die Kinder wachsen, und die Eltern mit ihnen.
Nachtrag: Heute ist mein ältester Sohn losgezogen. Er ist 18 und will nach Santiago de Compostela pilgern, auf der Suche nach sich selbst und nach seinem Weg in die Welt. Es fühlt sich an als hätte er ein Stück meines Herzens mitgenommen. Mit meinen Tränen spülte ich die Wunde, bis der Fluss schliesslich versiegte und das Vertrauen aufschimmerte, dass alles gut ist, wie es ist.
Das könnte Sie auch interessieren: