Geburt | Selbsterfahrung
Zurück in den Mutterbauch
Für einmal die Seiten wechseln. Nachdem ich mich journalistisch bereits während mehrerer Jahre mit den Themen Schwangerschaft und Geburt auseinandergesetzt hatte, vom unerfüllten Kinderwunsch über den Wunschkaiserschnitt bis zur Lotusgeburt, wurde ich eines Tages im Internet auf folgendes Angebot aufmerksam: «Reise in die eigene Schwangerschaft und Geburt.» Der Anbieter dieses dreitägigen Selbsterfahrungsseminars war Franz Renggli, Psychoanalytiker, Körpertherapeut und Schweizer Protagonist auf dem Gebiet der pränatalen Psychologie. Renggli und seine Mitstreiter gehen davon aus, dass wir uns bewusst zwar nicht an die Zeit im Mutterbauch erinnern können, dass unser Körper jedoch diese frühesten Erfahrungen abgespeichert hat und sie uns fürs Leben prägen.
Ich rief Renggli an und fragte, ob ich als Journalistin auf diese Reise mitkommen dürfe – nicht als Beobachterin, sondern als gleichwertiges Reisemitglied. In Sachen Psychotherapie wie auch in Selbsterfahrung ein unbeschriebenes Blatt, war ich einzig getrieben von Neugierde, so meinte ich zumindest, und hatte keine Vorstellung davon, was auf mich zukommen würde. Renggli sagte zu.
Wie Zwiebelschalen übereinander
Die pränatale Psychologie ist, wie die Psychologie an sich, keine exakte Wissenschaft und ausserdem ein relativ junges Fachgebiet. «Zum Teil auf Annahmen angewiesen, baut sie gleichzeitig auf vielen wissenschaftlich gesicherten Fakten auf», erklärt Ludwig Janus, deutscher Psychotherapeut, Buchautor und bis 2005 Präsident der Internationalen Studiengemeinschaft für Pränatale Psychologie und Medizin (ISPPM). Dass die Welt im Uterus kein Schutzraum ist, der den Fötus von allen Widrigkeiten abschirmt, zeigen neuere Forschungen aus der Neurobiologie. Wissenschaftler haben beispielsweise festgestellt, dass Ungeborene mit veränderter Herzfrequenz auf mütterlichen Stress reagieren. Das Verbundensein mit der Mutter hat also Auswirkungen, im positiven wie im negativen Sinn.
Der Fokus der pränatalen Psychologie liegt, wen erstaunt es, auf den traumatischen Erfahrungen, vorab auf der Geburt. Otto Rank, ein Schüler Freuds, stellte schon 1924 die These auf, dass jeder Mensch bei seiner Geburt das grösste Trauma seines Lebens erleide und ein Leben lang versuche, dies zu überwinden, stets mit der unbewussten Sehnsucht, in den Mutterleib zurückzukehren. Auch der tschechische Psychiater Stanislav Grof, der in den 1950er- und 60er- Jahren seine Patienten mit der Unterstützung von LSD zurück in frühe Erfahrungen begleitete, kam zum Schluss, dass wir alle polytraumatisiert sind, dass die Traumatisierungen wie Zwiebelschalen übereinanderliegen, im Innersten verborgen das Geburtstrauma.
«Ich könnte höher springen»
Fand sich da die Erklärung für mein Interesse an Franz Rengglis Kurs? Sehnte ich mich unbewusst in die scheinbare Geborgenheit des Uterus zurück? Gab es ein Geburtstrauma zu entdecken?
Eines wusste ich: Bis anhin wäre ich nicht auf die Idee gekommen, mich der Aussage des deutschen Philosophen Peter Sloterdijk anzuschliessen: «Ich gehöre zu den armen Menschen, bei denen die Geburtserinnerung nicht aus dem körperlichen Gedächtnis gelöscht ist; ich weiss, dass es eine bestimmte Form von Geburtsstress gibt, der sich zeitlebens reproduziert.»
Basel, Nonnenweg 11. Fünf Frauen und zwei Männer machen es sich im Gruppenraum von Franz Rengglis Praxis auf Sitzsäcken und Kissen bequem. In der Vorstellungsrunde sagen alle, wieso sie hier sind, welche Hoffnungen und Erwartungen sie haben. «Mir scheint, ich könnte – im übertragenen Sinn – viel höher springen, als ich es tue; irgendetwas hält mich zurück. Vielleicht finde ich hier heraus, was es ist», sagt ein 35-jähriger Kadermann einer Grossbank. Franz Renggli und seine Assistentin skizzieren den Ablauf des dreitägigen Workshops: Jeder Teilnehmer wird in den folgenden Tagen auf seine persönliche «Reise» gehen, wird für zwei bis drei Stunden sein Thema vertiefen und bearbeiten. Die Gruppe ist für den Reisenden Unterstützung, vergleichbar mit der Gebärmutter für den heranwachsenden Fötus. Grundlage sind folgende Regeln: Jedes Nein, das ein Teilnehmer ausspricht, ist willkommen und muss nicht begründet werden. Wer beim Zuhören Gefühle oder Schmerzen wahrnimmt, muss seine Empfindungen der Gruppe mitteilen; sie sind keine Störung, sondern zeigen, was damals nicht gefühlt und deswegen abgespalten wurde, sie sind als die eigentlichen Wegweiser zu verstehen.
Die drei Tage in Basel sind ein einziges Auf und Ab heftigster Gefühle und intensivster Erfahrungen, wie ich es noch nie erlebt habe. Mal fliessen Tränen, mal bin ich absolut ruhig. Abends fahre ich nach Hause zu meiner Familie, bin jedoch in Gedanken pausenlos mit dem Erlebten beschäftigt, wache nachts mit starken Kopfschmerzen auf und kann nicht mehr schlafen. Mir kommt es vor, als würden wir jeder einen Ausschnitt aus seinem ganz persönlichen Lebenstheater aufführen, Hauptrolle und Regie gleichzeitig übernehmen. Als Annegret* am nächsten Tag auf dem Boden kniend ihre Geburt erlebt, kriecht sie durch den Geburtskanal, den zwei Teilnehmer mit ihren Körpern formen; manchmal möchte jemand umarmt oder gehalten werden – alles ist jedoch in jedem Fall freiwillig. Franz Renggli stellt immer wieder die Frage: Was brauchst du in diesem Moment, um dich besser zu fühlen? Nicht dem Trauma gilt das Augenmerk, sondern der heilenden Neuerfahrung.
Der falsche Mann
Schliesslich, am Morgen des dritten Tags, ist es Zeit für mich und mein Stück. Ich erzähle. Was weiss ich nicht mehr. Es ist fünf Jahre her. Was ich noch weiss: Ich habe im Therapieraum am Nonnenweg nochmals meine drei Kinder geboren, bei vollem Bewusstsein und ohne Drogeneinfluss, in tiefem Kontakt mit meiner Kraft. Gestützt von der «Hebamme» Anke Eyrich, Franz Renggli zu meinen Füssen, mit allen sechs Workshop-Teilnehmern um mich herum. Ich habe gestöhnt und gepresst und schliesslich noch ein viertes, mir bis heute unbekanntes Kind «geboren». Glücklich lehnte ich mich nach getaner Arbeit an den «Vater» meiner Kinder. Bis Pascal* sagte: «Es ist der falsche Mann.»
Ich erstarrte innerlich. Kriegte einen langen Moment keinen Ton heraus.
Brach schliesslich meine «Reise» ab.
Franz Renggli schickte die Gruppe zum Mittagessen. Ich brauchte eine Weile, um den Schock zu überwinden, genauer gesagt mehrere Tage. In diesen Tagen hatte ich immer wieder den einen Satz im Ohr: Was brauchst du jetzt? Der Workshop hat mein Leben in seinen Grundfesten verändert. Eindeutig zum Guten.
Den Artikel habe ich nie geschrieben. Niemand hatte mich gedrängt. Bis vor wenigen Wochen an einer Redaktionssitzung das Gespräch darauf kam. Und ich einwilligte, mich nochmals mit dem Thema Geburtstrauma des Kindes zu befassen. Sofort war mir klar, dass ich erneut versuchen wollte, meine Lebensuhr auf Stunde Null zu stellen und mich aus dem Bauch meiner Mutter auf diese Welt zu schlängeln. Würde es dieses Mal klappen? Und ich wollte wissen, ob es das Geburtstrauma als solches wirklich gab. Jedenfalls mein eigenes.
Erneute Recherchen zeigten: Die universitäre Psychologie überlässt dieses Gebiet weiterhin den Craniosacral-, Rückführungs- und Körperpsychotherapeuten, die sich zahlreicher denn je mit unseren Anfängen beschäftigen. Zwar existieren mittlerweile mehrere klinische Studien zu posttraumatischen Belastungsstörungen, unter denen manche Mütter nach der Geburt leiden. «Längsschnittstudien, welche sich mit den Auswirkungen der Geburt auf das Baby befassen, gibt es meines Wissens nicht», sagt Ulrike Ehlert, Professorin am Psychologischen Institut der Uni Zürich. Für die jungianische Psychotherapeutin Benig Mauger ist jedoch klar: «Die Art und Weise, wie die Geburt stattfindet und erlebt wird, erzeugt ein archetypisches Muster, das dann zu einem Muster für das ganze Leben wird», schreibt sie im Buch «Seelisches Erleben vor und während der Geburt».
Auf dem gold-rosa Wolkenbett
Ich landete da, wo ich schon vor fünf Jahren war: im Internet. Und traf auf Doris Widmer. Die Mutter von erwachsenen Kindern war ursprünglich Krankenschwester, hat in der Psychiatrie, im Gebärsaal, in der Säuglings- und Wöchnerinnenabteilung gearbeitet, sich ständig weitergebildet und ist heute Rückführungs- und Reinkarnationstherapeutin, aber auch Kunstmalerin. Ihre Praxis liegt im Erdgeschoss eines alten Patrizierhauses im Toggenburg, im «Kunsthaus am Necker», das sie zusammen mit ihrem Mann führt. Ich rufe Doris Widmer an und sage, dass ich eine Rückführung zu meiner Geburt machen und darüber schreiben möchte. Sie ist auf Anhieb dabei. Keine Bedingungen, Keine Einschränkungen, keine Bedenkzeit.
Eine Woche später liege ich warm zugedeckt auf einer antiken Liege in ihrem Therapieraum, ein blaues Seidentüchlein über den Augen. Meditative Musik ertönt aus einem CD-Player. Mein Aufnahmegerät läuft. Fast 30 Minuten dauert es, bis mich Doris Widmers sanfte Stimme über eine grüne Wiese auf ein gold-rosa Wolkenbett und in den sogenannten Alpha-Bereich geleitet hat, einen Zustand von gelöster Entspannung, der im EEG mit 8-14 Hertz gemessen wird. Jetzt zählt Doris Widmer bis auf drei und sagt:
«Du befindest dich jetzt im Bauch deiner Mutter, und fühlst dich da sehr, sehr wohl. (Pause) Weisst du denn, wo du bist?»
Ich bin ziemlich aufgeregt, weil ich keine Ahnung habe, was ich antworten soll, und höre mich sagen:
«Es ist dunkel …»
«Was ist hier angenehm und wohlig? Was kannst du spüren?»
«(Lange Pause) Es ist so … pelzig. Eigentlich kann ich meine Grenzen nicht richtig wahrnehmen, wo ich aufhöre, also wo mein Umfeld anfängt.»
«Weisst du, wie alt dein Körperchen ist in dem Moment?»
«Ein Tag.»
Wie im Voraus abgesprochen und von mir gewünscht, führt mich Doris Widmer nun – eins, zwei, drei! – an den Zeitpunkt meiner Zeugung zurück. Etwas in mir sträubt sich jedoch dagegen und ich sage:
«Ich sehe eigentlich nichts, es ist eher ein beengendes Gefühl, eine Anspannung … Es ist nicht ganz nachvollziehbar, wieso ich trotzdem in den Bauch hineingegangen bin. Es hat Mut gebraucht, wegen dieser Anspannung um mich herum. Ganz im Kern von mir selbst ist es jedoch ruhig und entspannt und sehr kraftvoll.»
«Weiss dein Mami, dass du da bist?»
«Nein. Ich könnte auch noch gehen.»
Weiter geht es zu verschiedenen Stationen meiner pränatalen Phase. Einige lässt mich Doris Widmer selbst wählen, andere schlägt sie mir vor. Zum Beispiel den Zeitpunkt, als meine Mutter erfährt, dass sie schwanger ist.
«Was nimmst du wahr?»
«Freude. Aber auch Ängstlichkeit und Anspannung bei meiner Mutter.»
«Was macht das mit dir, wenn sich dein Mami freut?»
«Es ist schön. Gleichzeitig weiss ich, dass ich meine Mutter ein bisschen enttäuschen werde, weil ich ein Mädchen bin und kein Bub. Ich habe den Eindruck, dass sie sich für ihren Mann einen Bub gewünscht hätte.»
«Reden deine Eltern darüber?»
«Das darf man nicht.»
«Weisst du, wieso du ein Mädchen bist und kein Bub?»
«Ich glaube, es geht darum, diese von aussen auferlegte Begrenzung zu überwinden … mich trotzdem als wertvoll zu empfinden, auch wenn ich etwas anderes bin, als ich hätte sein sollen.»
«Kurz vor der Geburt spüre ich eine Enge um mich herum, drehen und wenden wie ein Fisch geht nicht mehr. Mir ist klar, dass es so nicht weiter gehen kann.»
«Weisst du, dass du raus musst?»
«Ja, ich weiss auch, wo es lang geht.»
Jetzt ist es bereits – eins, zwei, drei! – zehn Minuten vor der Geburt. Ich fühle mich wie eingeklemmt. Da ist ein starker Druck auf den Kopf. Von meiner Mutter empfinde ich eine Art Hilflosigkeit. Selbst erscheint mir die Situation heftig, aber auch sehr normal. Einen kurzen Moment lang steigt Panik in mir auf. Schon bald fühle ich mich innerlich wieder sehr entspannt und weiss, dass ich jetzt unbedingt raus muss. Ein letzter Kraftakt, eine elegante Bewegung – mein Kopf ist draussen. Ich höre die Stimme einer resoluten Hebamme. Dann steife Tücher um mich. Nach unbestimmt langer Zeit bin ich kurz bei meiner Mutter. «Freust du dich?, fragt Doris Widmer. «Ja, es ist das Gefühl, eine Hürde genommen zu haben. Meine Mutter freut sich ebenfalls, obwohl ich ein Mädchen bin.»
Als ich nach eineinhalb Stunden von Doris Widmers Liege aufstehe, scheint mir, ich hätte nicht länger als 30 Minuten dort gelegen. Ich kann mich an alles erinnern, was ich gesagt, gefühlt, gesehen habe. Neue Bilder sind jedoch vor meinem inneren Auge keine aufgetaucht, eher scheint mir, ich hätte in unserem Familienfotoalbum geblättert. Eindrücklich waren jedoch die Körperempfindungen. Ein Geburtstrauma habe ich nicht entdeckt, aber mir ist, als wäre etwas von mir abgefallen. Ich fühle mich, es mag seltsam tönen, reich beschenkt.
*
Name der Redaktion bekannt
Reiseleiter
Franz Renggli, spezialisiert auf die pränatale Psychotherapie, bietet Traumaheilung für Babys, Kleinkinder und deren Familien an. In seinem 2013 erschienen Buch «Das goldene Tor zum Leben» beschreibt Renggli seine Arbeit sowie den heutigen Stand der pränatalen Psychotherapie.
www.franz-renggli.ch
Doris Widmer, Reinkarnations- und Rückführungstherapeutin, begleitet Mütter im Dialog mit dem ungeborenen Kind. www.rueck-fuehrung.ch