Gesellschaft
Wir sind Familie!
Menschen, die in aussergewöhnlichen Beziehungskonstellationen leben, müssen sich oft dafür rechtfertigen. Erst recht, wenn sie Kinder haben. Drei Familien erzählen.
Über alle Kontinente und Kulturen entscheiden sich Menschen, wenn sie Kinder bekommen, Familien zu gründen. Der Begriff «Familie » wird dabei aber unterschiedlich ausgelegt, sei es rechtlich oder gesellschaftlich. In der Schweiz hält sich der Bundesrat dabei an folgende Grundlage: «Familie bezeichnet jene Lebensformen, die in den Beziehungen von Eltern und Kindern im Mehrgenerationenverbund begründet und gesellschaftlich anerkannt sind.»
Gesellschaftlich anerkannt, das ist auch nach neuesten Umfragen vor allem das Modell der heteronormativen Kleinfamilie: Mami, Papi, Kind. Seit einigen Jahren aber auch immer mehr Patchwork- und Regenbogenfamilien. So können in der Schweiz seit Juli 2022 auch gleichgeschlechtliche Paare heiraten. Spätestens seit der Coronapandemie, als sich nur noch explizit Familienmitglieder treffen durften, wurde der Begriff der Familie in der Schweiz aber erneut hitzig diskutiert. Gehören Freund:innen auch zur Familie? Wie weit reichen Patchworkfamilien und was ist mit den Rechten von polyamoren Beziehungskonstrukten? Auch wenn die Kleinfamilie am meisten verbreitet ist, Familien in der Schweiz verändern sich. Immer mehr Menschen leben alternative Beziehungs-, Eltern- und Wohnformen, zum Beispiel Wohngemeinschaften mit Freund:innen, polyamore Beziehungen oder Alleinerziehenden-WGs, die sich zusammenschliessen.
Mehr Flexibilität und Freiheit
Die Gründe dafür sind individuell: Steigende Mietpreise, hohe Kinderbetreuungskosten, zunehmende Akzeptanz diverser Lebensentwürfe oder mehr Trennungen und Scheidungen sind nur einige davon. Was diese Modelle aber alle verbindet, ist der Wunsch nach Gemeinschaft und damit nach Familie jenseits der traditionellen Form.
Diese neuen Familienmodelle bieten Chancen zu mehr Flexibilität und individueller Freiheit, sie bringen aber auch Herausforderungen mit sich: Oft müssen nicht-konforme Familien sich gegen gesellschaftliche Vorurteile behaupten oder stossen auf rechtliche Hürden, etwa in Bezug auf Sorgerecht, Erbschaftsfragen oder Versicherungen. Die Menschen, die diese neuen Wege beschreiten, erfahren zwar mehr Freiheit und Selbstbestimmung, stehen aber auch vor der Aufgabe, ihre Modelle in einer Gesellschaft zu verteidigen, die noch stark von traditionellen Familienbildern geprägt ist. Wir haben drei alternative Familien besucht.
Die Gross-WG
Im Garten des ehemaligen Pfarrhauses «Althus» in Zollikon herrscht reges Treiben. Ein Geburtstagsfest wird vorbereitet, bunte Tische und Stühle stehen auf der Wiese unter einem Ahornbaum mit Baumhaus. Es ist einer der letzten warmen Tage im Jahr.
Seit fast 15 Jahren ist das «Althus» eine MiniGenossenschaft. Drei Schildkröten, eine Katze und elf Menschen leben hier zwischen Blumen im Garten, vielen Büchern und Musikinstrumenten. Zum Beispiel Frank und Markus, die Väter der neunjährigen Paula, sowie Paulas Mutter Christina und deren Partner Jürn. Auch Tanja und Lukas mit ihren Kindern Lynn, 17, und Levi, 15, sowie Anne und Simon sind Teil der Gemeinschaft. Zu Besuch ist heute auch Million, der vier Jahre hier wohnte. Er kam als Geflüchteter aus Eritrea und lebte vier Jahre in der WG, heute arbeitet er als Energieingenieur in Bern und wohnt in einer neuen Wohngemeinschaft mit einem Freund. Million ist für alle wie ein Verwandter und guter Freund und sagt: « Die WG ist für mich immer noch Familie. »
Die Gründungsgruppe träumte von einer solidarischen Wohnform mit genug Platz und Garten, wo die Kosten und die Arbeit geteilt werden. Nach sieben Jahren Suche fanden sie das Haus mit der 500-jährigen Geschichte als Weinbauernhaus, Pfarrhaus und Restaurant – ein Glücksfall.
Arbeiten aufteilen
Tanja, deren Geburtstag heute Abend im Garten nachgefeiert wird, deckt den langen Holztisch für das Mittagessen, die anderen Bewohner:innen stossen dazu und setzen sich. Beim Essen erzählen sie vom WG-Alltag : Abends kocht eine erwachsene Person für alle. «Es ist schön, einmal pro Woche für alle zu kochen und mich sonst an den gedeckten Tisch setzen zu dürfen», sagt Frank.
Zwei Bewohner:innen kümmern sich um Reparaturen, zwei andere organisieren die wöchentliche Bestellung beim Bio-Lieferanten. Andere sind für die Buchhaltung oder die Entsorgung zuständig. Darüber hinaus gibt es eine Gartengruppe und eine Gestaltungsgruppe. «Mein Partner teilt meine Leidenschaft für den Garten nicht – hier kann ich sie mit anderen ausleben», sagt Tanja.
An fünf Samstagen gibt es WG-Arbeitstage. Organisatorisches wird an regelmässigen «Tafelrunden» besprochen, Zwischenmenschliches findet in «Kommunikationsrunden» seinen Platz. Die Putzfrau, die jede Woche die Gemeinschaftsräume reinigt, entschärft die klassischen WG-Konflikte um die Sauberkeit. Das Thema Ordnung sorgt dennoch manchmal für Unstimmigkeiten.
Früher war es nicht immer so harmonisch im Haus. Es gab Paarkonflikte und Menschen, für die diese Wohnform nicht passte, es folgten Auszüge und Einzüge neuer Menschen, und die Situation beruhigte sich zunehmend. «Jede Person muss im System ihren Platz finden», blickt Christina zurück. Neue Bewohner:innen haben daher jetzt eine einjährige Probezeit. Und die WG arbeitet mit einer Coachin, die beim nächsten jährlichen Treffen auch die Jugendlichen Lynn und Levi einbezieht.
Abgrenzen, Raum für sich
Markus schätzt, wie die Eltern sich in dieser Wohnform gegenseitig entlasten: «Bevor die Grossen aufs Gymnasium kamen, haben wir uns abwechselnd um sie gekümmert. Sie haben früh gelernt, gemeinschaftlich zu denken.» Für die Jugendlichen ist es vorteilhaft, mehrere Bezugspersonen zu haben. «So lernen sie vielseitige Perspektiven kennen», sagt Tanja. Lynn und Paula sind besonders eng verbunden, nach der Schule ziehen sie sich oft zurück, um gemeinsam zu basteln oder Hausaufgaben zu machen. Levi schätzt, dass er im Haus immer das findet, was er braucht. Besonders während der Coronapandemie habe er den Garten genossen, um Freunde zu treffen. Das Gemeinschaftsleben kann jedoch auch herausfordernd sein. «Ich mag das Zusammensein mit den andern, merke aber, dass ich mit zunehmendem Alter mehr Rückzug brauche», sagt Lynn. «Dass es legitim ist, sich abzugrenzen und sich seinen Raum zu nehmen, mussten wir erst lernen», erklärt Lukas. Mehr noch: Für das Funktionieren der WG ist beides essenziell, Privatsphäre und Gemeinschaft. Im grosszügigen Haus hat jede Partei eigene Wohnbereiche und ein Bad.
Der Gemeinschaftsbereich im Parterre besteht aus der offenen Küche mit dem angrenzenden Wohn- und Esszimmer – dem Gastraum des ehemaligen Restaurants. Dort finden auch gelegentlich öffentliche Kulturveranstaltungen wie zum Beispiel Lesungen und Konzerte statt. Markus schwärmt: «Ich muss nicht immer aus dem Haus, um Leute zu treffen, denn hier kommt viel Besuch vorbei. Und während des Lockdowns waren wir elf Bewohner:innen – immer genug Leute für ein Fest.» Neugierig sei die WG vor allem dann, wenn neue Freund:innen oder Partner:innen zu Besuch kämen, die Runde am Tisch lacht. Aus dem Ofen duftet es schon nach Zwetschgenkuchen, daneben kühlt gerade die Zwetschgenmarmelade ab. Tanja, Christina und Markus beginnen, das Mittagessen abzuräumen, die Runde löst sich langsam auf. Es geht weiter mit den Vorbereitungen für das grosse Fest, sicherlich nicht das letzte, das hier im «Althus» gefeiert wird.
Désirée und Kim sind befreundet, beide queer und alleinerziehende Eltern. Seit knapp einem halben Jahr sind sie füreinander auch Familie und nicht nur befreundet, sie leben zusammen in einer Wohngemeinschaft und unterstützen sich gegenseitig.
Eine enge Treppe führt über mehrere Stockwerke ins Dachgeschoss hinauf in eine riesige 5-Zimmer-Wohnung mit drei Bädern und einer Wohnküche in der Winterthurer Altstadt. Auf dem Sofa sitzen Kim und das Baby Riley. Kim nutzt keine Pronomen. Für Riley dürfen alle benutzt werden, denn das Baby wird geschlechtsoffen erzogen. Kim erklärt das Konzept dieser Erziehung: «Ich übernehme jeweils die Pronomen, mit welchem Riley angesprochen wird. Sagst du zu Riley er, spreche ich von Riley männlich, sagst du sie, spreche ich von Riley weiblich.» Das Kind soll so möglichst frei von Geschlechterzuweisungen aufwachsen. Riley ist knapp sechs Monate alt und schaut mit grossen Augen zur Mitbewohnerin Désirée, die gegenüber von Riley am grossen Ateliertisch sitzt.
Gemeinschaftlich und kinderfreundlich
Désirée ist Sozialarbeiterin und sagt: «Wir leben unter anderem wegen der grossen Toleranz gegenüber unserem Familienleben und unserer Queerness in der Stadt und nicht auf dem Land.» Wir, das sind Kim und Riley, Désirée sowie ihre Töchter Norlha, 12, und Sonam, 10. Entstanden ist die Idee der Gemeinschaft durch die richtigen Umstände zur richtigen Zeit. Kim und Désirée trafen sich zehn Tage nach Rileys Geburt auf einen Kaffee. Kim suchte zu diesem Zeitpunkt eine neue Lösung fürs Wohnen, da ihr Mitbewohner gerade auszog. Und Désirée war schon länger mit ihren Kindern auf der Suche nach einer kinderfreundlicheren Wohnung mit mehr Platz und einer gemeinschaftlicheren Form. «Ich sagte Désirée einige Wochen später, ich suche einen Menschen, der queerfreundlich und politisch links ist und mit einem Baby umgehen kann», so Kim. Désirée lacht: «Es fiel uns wie Schuppen von den Augen, das alles war ich. Noch am selben Tag besuchten wir Kim und konnten die Wohnung anschauen, es war sofort klar, dass wir den Versuch machen.»
Désirée lebte vor der Trennung mit ihrer Frau zusammen, mit der sie die beiden Kinder bekam. Sie hätten viele Jahre dafür gekämpft, überhaupt als zwei Mütter anerkannt zu werden. Die Trennung und der Auszug ihrer ExFrau sei daher umso schmerzhafter gewesen, auch für die Kinder. Désirée war es sehr wichtig, dass die Kinder bei einem Wohnungswechsel im Quartier bleiben können. Die WG habe den Kindern zudem je ein eigenes Zimmer ermöglicht. Sie schwärmt: «Unsere Wohnsituation ist jetzt viel besser. Wir sitzen viel weniger aufeinander, sind nicht allein, haben mehr Platz und können uns mehr leisten, da die Wohnkosten tiefer sind.»
Désirée
Kim hingegen war von Anfang an alleinerziehend. Als Kim schwanger wurde, lebte they in einem Polykül – so wird ein Geflecht von Liebesbeziehungen bezeichnet, die sich meist mit polyamoren Menschen ergeben. Kim hatte also Beziehungen mit mehreren Menschen, die sich alle kannten, aber alle nicht der Vater des Kindes sein wollten. Bis heute will der Vater von Riley die Vaterschaft nicht ausüben: «Ich hatte mir gewünscht, dass Riley in diesem Polykül gross wird, und ich hatte mir daher die Elternschaft anders vorgestellt. Das Modell, das ich jetzt mit Désirée lebe, kommt meiner Wunschvorstellung aber sehr nahe. Jetzt hat Riley neben mir auch Désirée als Bezugsperson und mit Norlha und Sonam zwei Geschwister gewonnen.» Dass zwei queere Menschen mit Kindern zusammenleben, behagt aber auch in der Stadt nicht allen. Sonam habe kürzlich ein Geburtstagsfest zu Hause veranstaltet, ein Kind durfte wegen ihres Familienmodells nicht kommen.
Die zwölfjährige Norlha kommt mit einer Freundin zur Tür herein in die Stube, die Teenager haben Schulschluss und flüstern sich ins Ohr. Sie ziehen sich in Norlhas Zimmer zurück. «Norlha kommst du auch aufs Foto?», fragt Désirée. Sie schüttelt den Kopf, sie wolle nun Hausaufgaben machen. Die beiden Erwachsenen lächeln sich an. Kim sagt: «Wow, das hätte ich als Teenager, glaub, nie gesagt.» Sonam kommt ebenfalls zum Gespräch dazu. Sie wirkt etwas müde, sie habe Hunger. Désirée erklärt der Zehnjährigen, wo die Kräcker sind in der Küche. Sonam geht aber erst mal zu Riley kuscheln. Das Baby lacht breit. «Guggus Dada», sagt Sonam, Riley juchzt.
Ähnliche Ansichten
«Wenn ein Kind krank ist und ich arbeiten muss, oder wenn ein Elternabend stattfindet, ist es nun so viel einfacher für mich», schildert Désirée die Vorteile des Zusammenlebens. Die beiden haben auch ähnliche Ansichten in Sachen Erziehung. Sie erziehen möglichst ohne Druck. Kim erklärt: «Wir begleiten unsere Kinder auf Augenhöhe, und leiten gezielt, aber zurückhaltend an. Dabei ist es uns wichtig, dass die Bedürfnisse aller wahrgenommen werden und Grenzen akzeptiert werden.» Die Kinder würden im Zusammenleben viel lernen: Baby Rileys Bedürfnisse zum Beispiel müssen schnell erfüllt werden, so muss ein älteres Kind auch mal warten und Frust aushalten. Wichtig sei den beiden, dass sie sich zwar in der Erziehung unterstützen, die Entscheidungskompetenzen für die jeweiligen Kinder aber bei den einzelnen Elternteilen liege.
Die WG kauft online ein, auch die Versicherungskosten und das Internet werden geteilt, was eine finanzielle Entlastung ist. Am Sonntag brunchen alle gemeinsam, manchmal auch mit Gästen. Besuch sprechen die beiden miteinander ab. Es gibt einen Spieletag mit allen Kindern und mindestens einmal am Tag sitzen alle zusammen. Die Wäsche legen ebenfalls alle gemeinsam zusammen. Einmal pro Woche gibt es eine Familiensitzung im gemütlichem Rahmen inklusive Snacks.
Kim und Désirée sind sich bisher in allem einig. Désirée sagt: «Ich kann das Modell nur empfehlen, es ist so viel weniger Stress in meinem Leben als vorher als Alleinerziehende in einer eigenen Wohnung.» Kim nickt bekräftigend: «Ich bin wirklich sehr glücklich, dass wir uns gefunden haben.»
«Mami ist poly»
«Familie ist für mich ein Raum, der von ver - schiedenen Personen gehalten wird und in dem man sich möglichst ehrlich begegnen darf», sagt Sofie, während sie in ihrer Wohnung in Biel einen Kaffee aufsetzt. Viele, vor allem Frauen, würden die heteronormative Familie aber einsam und als Gefängnis erleben, das wolle sie für sich nicht, erklärt sie weiter. Nach Ninas* Geburt vor vier Jahren wohnten Sofie und Ninas Vater Alejandro erst in einer grossen Wohngemeinschaft. Als die beiden sich trennten, beschloss Sofie, mit dem Kind dort auszuziehen: «Seit ihrer Geburt spürte ich, dass ich mehr Raum für mich brauche.» Ihr Konzept sei heute aber keine klassisch getrennte Kleinfamilie, sondern eine Art Wahlfamilie – auch die WG sei immer noch im sogenannten «Care-Team» von Nina.
Sofie lebt in mehreren Beziehungen, sie ist polyamor. Als Nina zwei Jahre alt war, begann die Mutter wieder zu daten. Schnell merkte Sofie dabei, dass sie nicht an One-Night-Stands und oberflächlichen Kontakten interessiert ist, sondern an tiefen Beziehungen, jedoch nicht nur mit einer Person. Ihre Hauptbeziehungsperson ist Charlie, wie sie lebt er in Biel. Charlie sagt, es sei ihm sehr wichtig, dass alle im Konstrukt ihre Bedürfnisse offen und ehrlich mitteilen und sich Zeit nähmen, um im Austausch zu sein: «Ab und zu brauche ich aber auch Zeit allein mit Sofie, das ist mir schon sehr wichtig.» Ebenfalls wichtig ist ihm eine Begegnung auf Augenhöhe mit Sofies Tochter, er möchte sie ernst nehmen und mit viel Respekt behandeln, so wie erwachsene Menschen auch.
Mehrere Bezugspersonen
Die zweite Liebesbeziehung führt Sofie mit Tim*. Tim lebt in einer offenen Hauptbeziehung mit Sara*: «Wir haben eine Beziehungs - hierarchie. Das heisst, es hat Platz für Aussenbeziehungen mit tiefen Gefühlen wie für Sofie, aber es ist klar, dass meine Hauptbeziehung Vorrang hat. Wir wohnen zusammen und planen auch, zusammen Kinder zu haben», sagt Tim. Sofies dritte Beziehungsperson ist Corina: «Corina ist eine Frau, mit der ich eine schöne Freundinnenschaft, Nähe und auch Intimität teile. Wir sehen uns jedoch unregelmässig, wie es halt grad geht», so Sofie. Corina schreibt später per Whatsapp über ihre Beziehung: «Unsere Treffen erlebe ich als sehr ehrlich, nahe und feinfühlig. Mir sind in der Nicht-Monogamie Transparenz und Kommunikation wichtig.»
Ethische oder einvernehmliche Nicht-Monogamie nennt sich das Beziehungsprinzip von Sofie und ihren Partner:innen. Ob das Kind die Situation und das Familienmodell versteht? Sofie nickt: «Ich habe Nina das so erklärt: Mama liebt mehrere Menschen. Da ist Charlie, den siehst du viel und dann gibt es noch Tim und Corina, die siehst du nur ab und zu. Für alle ist es gut so und wir haben uns gern und sind verliebt.» Nina habe geantwortet, das könne sie verstehen, sie sei ja auch verliebt in Mama. Charlie, Tim und Corina seien mittlerweile fester Bestandteil des Lebens von Sofie und Nina: «Für Nina ist es dadurch selbstverständlich geworden, dass ich mehrere Beziehungspersonen habe. Wir sprechen auch viel über das Gernhaben, Verliebtsein, Sexualität, Lust und Konsens.»
Sofie
Alejandro zog nach Sofie ebenfalls aus der WG aus. Seit zwei Jahren wohnt er vis-á-vis Sofies Wohnung, die beiden teilen sich seither die Betreuung von Nina. Die Hälfte der Woche und der Wochenenden verbringt das Kind mit der Mutter, die andere Hälfte mit Alejandro. Neben der WG und Charlie ist immer mehr auch Alejandros neue Partnerin in die Wahlfamilie involviert. Sie unternehmen auch alle mal etwas gemeinsam oder geben sich gegenseitig Bescheid, wenn sie wo sind, wo der andere dazukommen könnte.
Viel Zeit
Sofies Handy klingelt, Alejandro ist am Telefon. Nina wolle nur mit dem Pyjama aus dem Haus und zu ihr kommen. Für Sofie ist das kein Problem. Die Tür von Sofies Wohnung geht auf und Nina rennt in die Arme der Mutter, beginnt auf dem Bett zu springen. Alejandro setzt sich zu Nina aufs Bett. «Wir beide entscheiden über alles, was Nina betrifft, zusammen», so der Vater. Auch wie die Betreuungstage abgedeckt würden und wer und wann betreue, würde das Ex-Paar immer gemeinsam lösen, dabei seien keine anderen Partnerinnen und Partner involviert. Ihr Modell brauche viel Kommunikation, so Alejandro. Die beiden schauen sich an und finden, diese habe sich enorm verbessert: «Nach der Trennung war es zuerst schwierig, wir waren sehr schnell in alten Beziehungsmustern, wenn wir Dinge regeln mussten.»
Der Hauptgewinn ihres alternativen Familienmodells? Zeit: Beide Elternteile hätten die Hälfte der Woche Zeit für sich und ihre Beziehungen. Und seit sie ein Elternpaar und nicht mehr ein Liebespaar sind, entfielen auch die gegenseitigen Erwartungen an gemeinsame Zeit oder emotionale Verfügbarkeit, was sehr erleichternd sei. Platz haben dafür für beide wieder Freundschaft und unterschiedliche Formen von Liebe und Beziehungen.
*Namen geändert