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Vaterzeit
Hymnen der eigenen Kindheit
Unser Autor Christian ermahnt in seiner letzten Kolumne, das Schlaflied-Singen nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.
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Vaterzeit
Unser Autor Christian ermahnt in seiner letzten Kolumne, das Schlaflied-Singen nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.
Ich werde zum Abschied meiner Zeit als «wir eltern»- Kolumnist mutig. Und singe: «Schlof Luule schlooof, de Papi hüetet d Schoof. Und s Mami ...» Sie kennen das. Niemand aber versteht es, das Lied so schön zu singen wie ich. Der Beweis ? Luule schläft dabei ein. Das ist ein Husarenstreich, vergleichbar mit der Erstbesteigung des Mount Everest ohne Sauerstoffmaske. Noch besser: Bisweilen singe ich so schön, dass ich sogar mitsamt Luule einschlafe.
Zu zweit gehen wir dann auf Schlaflied-Expedition: Luule wandert in ungeahnte Welten und fällt ins bodenlose Reich der Träume, derweil ich einen Segelflug durch meine Kindheit mache. Ich tauche dabei ein in eine dunkle warme Welt, werde an jene Momente erinnert, als im Kinderzimmer von damals die Zauberlaute aus Mamis Mund in mein Ohr drangen. Halb Liebkosung, halb Ermahnung: «Schlaf jetzt, Kleiner. Schlaf jetzt endlich ! »
Die grossen Fragen
Es ist ein Ritual, das jedes glückliche Kind kennt. Unbewusst geht dieses eine Lied in uns auf, durch Bauch und Kopf, Jahrzehnte später ist es ein klingender Sehnsuchtsort tief in unserer Seele. Als der Komponist Pascal Dusapin vor fünf Jahren an einer Schlaflied-Performance arbeitete, sagte er mir: « Jeder von uns hat tief im Innersten ein Lied, das seine Kindheit definiert. » Doch er meinte auch, dass diese Weise nicht nur etwas für kleine Engel sei: «Es ist ein sehr eigenes Genre, nicht theatral, nicht lyrisch, sondern etwas Fremdes, von allen Regeln Losgelöstes. » Schlaflieder führen nicht immer zu einer schönen Nacht, da mögen die väterlichen und mütterlichen Worte noch so sanft im Ohr nachklingen. Das Erwachsenendenken darüber dämpft die Nostalgie, kühlt die aufkommende Wärme. Was Dusapin damals mit den Regeln meinte, weiss ich jetzt. Wehe, ich verlasse mich auf irgendeine Routine, wehe, ich schaffe es aus lauter Unkonzentriertheit nicht, einen Sog entstehen zu lassen, dann bemerkt Luule den Himmelsfehltritt sofort, der im Absturz auf die Erde endet. Sie beginnt zu weinen und wir zwei fallen zurück auf Feld 1. Jetzt heissts «Mämnäm ! » (« Essen ! »), «Bebeeee ! », «Tass ! » («Wasser !»). Oder alles miteinander.
Doch ist Luule daran, einzuschlafen, denke ich im Weitersingen an all die grossen Fragen, die einen Vater tagtäglich bewegen und auf die er nirgendwo Antworten findet, etwa: «Warum haben so viele Pyjamas mindestens 21 Knöpfe ?»
Kein anderes Musikstück ist in uns so verwachsen, verwurzelt und so verschlummert wie das eine, immer wieder wiederholte Schlaflied. Luule sang für ihre Stoffpuppe als allererstes Lied überhaupt eine Kurzversion von « Schlof Chindli schloof » mit den vier Silben «Papa-Mama». Und ich musste dabei daran denken, dass ich einer dieser vielen Elternflüsterinnen geglaubt hatte, die gesagt hatte, es sei egal, welche Worte ich singe. Quatsch ! « Singt bitte richtig ! », kann ich da nur trompeten.
Jahrzehntelang war dieses Lied in mir verborgen, wurde nun dank Luule hervorgekitzelt, erweckte neue Sehnsüchte. Als ich «Schlof Chindli schlof » erstmals für Luule sang, war es, als sängen da viele Menschen mit : Meine Eltern, meine Grosseltern, Urgrosseltern – ja, ein halber Chor der himmlischen Heerscharen. Halb sangen sie Schweizerdeutsch, halb Lettisch wie mein Vater. Ich hatte, laut Dusapin, nämlich offenbar zwei Definitionen meiner Kindheit.
Obwohl ich bis heute kein Lettisch spreche, begleitet mich auch das Schlaflied «Aijā, žūžū, lāča bērni » seit mehr als 50 Jahren – Wort für Wort, Ton für Ton. Es erinnert mich an ein Daina, das ist ein lettisches Sinngedicht : « Singend bin ich geboren, / singend bin ich aufgewachsen, / singend habe ich mein Leben gelebt; / singend wanderte meine Seele / in den Garten der Göttersöhne.» Wie schön es doch sein muss, in seiner letzten Stunde das Schlaflied aus der Kindheit hören zu können – gesungen von seinem eigenen Kind.
Christian Berzins (1970) ist Autor bei den Zeitungen von CH Media und Kolumnist bei «wir eltern». Seit er im Oktober 2022 Vater von Luule geworden ist, hielt er uns über seine Erlebnisse als Papa auf dem Laufenden. Dies ist seine letzte Kolumne für uns. Wir danken Christian von Herzen für seine wundervollen, erheiternden und feinfühligen Texte über sein Papasein mit Luule und wünschen ihm und seiner Familie das Allerbeste.