Einsamkeit
Ein Kind und einsam wie nie zuvor
Von Samantha Taylor
Eltern sind eigentlich selten allein. Und doch fühlt sich mehr als die Hälfte der Mütter und Väter einsam. Ein Bericht über den Umgang mit einem tabuisierten Gefühl.
Dienstagabend, 21 Uhr: Lena sitzt auf dem Sofa und liest. Ihre sechsjährige Tochter schläft. Die Küche ist aufgeräumt, die Wäsche gemacht, alles gut – eigentlich. Doch Lena kann sich nicht auf ihr Buch konzentrieren, ihre Gedanken schweifen ab, da ist diese diffuse Traurigkeit, die selbst der beste Roman nicht wegbringt. Lena fühlt sich allein.
Auch Dienstagabend, 21 Uhr: Renée geht ins Bett. Ihr Partner sitzt in der Stube und schaut noch eine Serie. Sie überlegt, sich zu ihm zu setzen, aber sie ist zu müde und ausgelaugt. Im Bett liegt sie dann trotzdem lange wach, wälzt sich hin und her, könnte weinen und weiss doch nicht warum. Ihr Leben ist doch gut. Renée und ihr Partner haben einen dreieinhalbjährigen Sohn. Sie arbeitet Teilzeit und absolviert noch eine Ausbildung. Ihr Leben ist eng getaktet. Und trotzdem ist da diese Leere. Obwohl die beiden Frauen vieles trennt, verbindet sie, seit sie Mütter geworden sind, ein Gefühl: Einsamkeit.
Keine Zeit für eigene Bedürfnisse
Lena ist in einer Kaderfunktion tätig, Single, gut eingebettet in ihrer Nachbarschaft, ihre engen Freund:innen jedoch wohnen weit weg. Ihre sechsjährige Tochter verbringt jedes zweite Wochenende beim Vater. Lena kann während eines Telefongesprächs ziemlich genau benennen, weshalb sie sich einsam fühlt. Verschiedene «Schichten» tragen dazu bei, erzählt sie. Schicht eins, die Isolation: «Meine Tochter ist jeden Abend unter der Woche bei mir. Soziale Kontakte zu pflegen, ist schwierig.» Schicht zwei, unerfüllte eigene Bedürfnisse: «Möchte ich joggen gehen, meine Tochter will aber nicht mit dem Velo mitfahren, muss auch ich zu Hause bleiben.» Schicht drei, fehlender Austausch: Bei Entscheidungen, die ihre Tochter betreffen, ist Lena auf sich gestellt. «Da ist niemand, mit dem ich das teilen kann.»
Renée, die mit Kind und Partner zusammen wohnte, kann nicht genau festmachen, woher das Gefühl kommt. Wie bei vielen Eltern kleiner Kinder ist auch ihr Alltag randvoll, turbulent und Renée eigentlich fast nie wirklich alleine. Trotzdem schleicht sich die Einsamkeit immer wieder ein: «Es ist ein seltsames Gefühl, das ich nicht richtig orten kann.»
In der Schweiz fühlt sich laut Zahlen des Bundes rund ein Drittel der Bevölkerung hin und wieder oder oft einsam. Wie sehr Eltern davon betroffen sind, dazu gibt es keine nationale Statistik. Internationale Erhebungen zeigen jedoch, dass Einsamkeit unter Eltern ein grosses Thema ist: Je nach Studie fühlen sich zwischen der Hälfte und zwei Drittel der Eltern isoliert. Einsam mitten im Kindertrubel, das hört sich nicht nur gegensätzlich an, das ist es auch, und wohl nicht wenige können es gar nicht richtig benennen.
Wen es trifft, lässt sich kaum vorhersagen. Zwar haben laut der Psychotherapeutin Simona Högstadius, die auf psychische Gesundheit rundum Elternschaft spezialisiert ist, gewisse Gruppen eine höhere Wahrscheinlichkeit. Personen, die sozial weniger gut eingebettet sind, wie Migrant:innen und Expats, oder Menschen, die sehr stark eingespannt sind, wie Alleinerziehende. Einsamkeit trifft aber auch Mütter und Väter in Paarbeziehungen, umgeben von einem intakten Umfeld. Es gibt keine Regel. Auch nicht in Bezug auf das Geschlecht. Allerdings erleben Frauen und Männer das Gefühl unterschiedlich: Müttern fehlt es an emotionaler Unterstützung, Vätern an Austausch, vor allem, wenn ihre Vaterrolle in Freundschaften wenig oder keinen Raum erhält. «Das sind Stereotype. Es kann auch anders sein», betont die Psychotherapeutin.
Herausfordernder Start
Einsamkeit zu erkennen, ist nicht einfach. Häufig überlagern sie andere Emotionen wie Überforderung, Traurigkeit, Selbstzweifel, Unsicherheit, Enttäuschung oder Scham. Gerade der Beginn des Elterndaseins ist eine gefühlsintensive Zeit. «Der Übergang zur Elternschaft ist ein Umbruch auf allen Ebenen – biologisch, psychisch, beruflich, sozial und gesellschaftlich», erklärt Simona Högstadius. Sowohl Bedürfnisse als auch Möglichkeiten verändern sich. Bekannte Ressourcen fallen weg oder verlieren an Bedeutung. Högstadius: «Vielleicht habe ich keine Zeit mehr für Sport, es fehlt an Energie für tiefe Gespräche mit der Partnerin, oder ich fühle mich von meinen Freund:innen nicht verstanden.» So entsteht eine Lücke.
Als Nils Tochter vor zehn Jahren zur Welt kam, spürte er diese Lücke. Nils war der Erste in seinem Freundeskreis mit einem Kind. Vor der Geburt trennten er und seine Partnerin sich. Sie wählten ein Co-Parenting-Modell. Nils lebte fortan in zwei Welten: «In der einen war ich unbeschwert, mit Freund:innen unterwegs und genoss das Leben. In der anderen betreute ich meine Tochter und hatte diese riesige Verantwortung.» Die beiden Welten zusammenzubringen, fiel ihm schwer. «Manchmal stand ich in einer Bar und dachte: Ich gehöre hier nicht hin. Ich fühlte mich in meinem alten Leben nicht mehr daheim.» Gleichzeitig kam Nils in der «Elternwelt» nicht an. Mit seinen Freund:innen konnte er seine Fragen und Sorgen, aber auch die Freuden nicht wirklich teilen. Auf Spielplätzen hatte er Mühe, Anschluss an andere Eltern zu finden.
Nils, Vater
Veränderte Beziehung
Renée machte der Übergang ins Elternleben ebenfalls zu schaffen. Rückblickend ist ihr klar: Bereits wenige Tage nach der Geburt war sie das erste Mal einsam. «Ich war wie fremdgesteuert und angetrieben von der Überzeugung, alles selbst schaffen zu müssen.» Sie habe nicht mal ihren Partner an sich herangelassen. Die Einsamkeit wahrzunehmen und zuzulassen, war schwierig. Eigentlich hatte Renée doch alles: Kind, Partner, Job. Und sie war mit alldem mehr als ausgelastet. Wann bleibt da Zeit, sich allein zu fühlen? In vielen Momenten, wie sie feststellte: beim Erledigen der To-dos, beim Umkrempeln der Pläne, auf dem Spielplatz mit ihrem Sohn oder beim Abendessen mit ihrem Partner.
In den letzten Jahren zog die Einsamkeit ihre Kreise und wurde sichtbar: Erst veränderte sich Renées Umfeld, dann ihre Beziehung. Mit einem Kind konnte sie nicht wie früher ausgehen. Ihre Freundinnen bezogen sie nicht mehr mit ein. Renée zog sich zurück. Gleichzeitig frass sich die Einsamkeit in ihre Beziehung: «Mein Partner und ich führten kaum noch tiefe Gespräche und wir interessierten uns nicht mehr dafür, was beim anderen los war.» Sie seien zu erschöpft gewesen, um empathisch zu sein. «Wir wurden gemeinsam einsam.»
Auftauchen kann das Gefühl der Isolation in unterschiedlichen Lebensphasen. Veränderungen wie ein Umzug, eine Trennung oder wenn die Kinder selbstständiger werden, begünstigen es, genauso wie unser individualisierter Lebensstil. «Einsamkeit ist ein Gefühl, das man sich nicht aussuchen kann. Im Unterschied zum Alleinsein. Diesen Zustand wählen wir meist selbst und empfinden ihn oft als angenehm», sagt Simona Högstadius.
Simona Högstadius, Psychotherapeutin
Umzug aufs Land
Nathalie spürte die Einsamkeit nach fünf Jahren Mutterschaft: «Sie war wie Kaugummi, der überall kleben bleibt und dessen dünner Faden sich über alles zieht.» Auslöser dafür war der Umzug der Familie aufs Land. Plötzlich war es ein Kraftakt, Freunde zu treffen, überhaupt mit Menschen in Kontakt zu kommen. In der Beziehung zu ihrem Partner entstanden unterschiedliche Bedürfnisse. «Mein Mann ging im Familienleben und der ländlichen Ruhe auf. Mir fehlte etwas.» Als Eltern waren sie ein tolles Team, aber das reichte nicht mehr. «Ich wollte mehr Zeit zu zweit, ausgehen und etwas erleben. Ihm genügte die Familie.» Nathalie lebte ihre Bedürfnisse alleine aus. Das Paar lebte sich auseinander. Heute sind Nathalie und ihr Ex-Partner getrennt und teilen sich das Sorgerecht der beiden Kinder. «Ich fühle mich vor allem alleine, wenn die Kinder bei mir sind und schlafen. Warum, weiss ich nicht», sagt Nathalie. Vielleicht vermisse sie ein Stück Freiheit, mutmasst sie.
Die meisten Menschen fühlen sich hin und wieder einsam. Diese situative Einsamkeit ist zwar unangenehm, aber nicht zwingend problematisch. Anders die chronische. «Das bedeutet für den Körper Stress», erklärt Simona Högstadius. Wie die Forschung zeigt, erhöht Stress das Risiko für eine ganze Reihe körperlicher und psychischer Erkrankungen. Dazu gehören Herz-Kreislauf-Probleme, Immunschwächen, Infektionen, Depressionen oder Angststörungen. Das Gefühl der Isolation begünstigt auch postpartale Depressionen. «Wir wissen, dass mangelnde soziale Eingebundenheit und wenig Unterstützung aus dem Umfeld Risikofaktoren sind», sagt Andrea Borzatta, Präsidentin des Vereins Postpartale Depression Schweiz.
Mit Gefühlen befassen
Umso wichtiger ist der Umgang mit dem Thema. Aber was tun mit diesem schambehafteten Gefühl? «Es brauche Akzeptanz», sagt Simona Högstadius. Einsamkeit darf zur Elternschaft gehören wie andere Gefühle auch. «Wir müssen als Eltern nicht nur erfüllt und glücklich sein. Wir dürfen auch traurig, wütend oder eben einsam sein.» Dies anzuerkennen und darüber zu reden, sei zentral. Nils hat sich mit seiner Einsamkeit befasst. «Als ich Vater wurde, war der Umgang mit Gefühlen nicht meine Stärke.» Wie viele Männer aus seiner Generation habe auch er nicht gelernt, mit negativen Emotionen umzugehen. Sie überforderten ihn. Also unterdrückte er sie, flüchtete, ging aus und trank viel. «Irgendwann realisierte ich: Diese Strategie geht nicht auf und ist nicht gesund. In den letzten Jahren lernte ich, meine Gefühle zu erkennen, anzunehmen, besser mit ihnen umzugehen und darüber zu reden.»
Das Erkennen ist das eine, das andere ist die Handlung. «Einsamkeit kann man beeinflussen und verändern», versichert die Psychotherapeutin. Was hilft, hängt von den Ressourcen, Interessen und Bedürfnissen der Betroffenen ab. Ein freier Abend – weg von Kind und Verpflichtungen, aber ohne schlechtes Gewissen – kann genauso guttun wie ein Gruppenkurs. Wichtig: keine zu hohen Ansprüche, kein Druck und möglichst wenig Bewertung. Högstadius: «Der Malkurs muss nicht die totale Erfüllung sein und aus dem Treffen mit der anderen Mutter muss keine tiefe Freundschaft entstehen. Es geht darum, Muster zu durchbrechen, einen Anfang zu machen.»
Schon kleine Veränderungen im Alltag machen einen Unterschied. Högstadius hat Patient:innen, denen es hilft, Podcasts zum Thema Elternschaft zu hören. Weil sie so merken, dass es anderen geht wie ihnen. Einen wichtigen Beitrag kann auch das Umfeld leisten. Indem es aktiv nachfragt, wie es jemandem geht. «Niemand sollte alleine durch eine solche Krise gehen. Meine Bitte an das Umfeld: Versucht, hinter die Fassade zu schauen und bietet Unterstützung und Verständnis, ohne Druck», sagt Andrea Borzatta. Mit Vorsicht zu geniessen sind laut Högstadius soziale Medien. Sie können hilfreiche Inputs liefern und Austausch ermöglichen. Gleichzeitig aber können Inhalte, die das perfekte Familienleben präsentieren, negative Gefühle verstärken. Sie empfiehlt, Informationsquellen sorgfältig zu wählen.
Wird Einsamkeit zur täglichen Belastung oder ist das Gefühl sehr stark, ist es ratsam, mit Fachpersonen zu sprechen. Das können Hebammen, Gynäkolog:innen, Elternberater:innen oder Psycholog:innen sein.
Was hilft?
Lena, Renée, Nils und Nathalie spüren die Einsamkeit noch. Sie haben aber Strategien für den Umgang entwickelt. Lena telefoniert. Wenn ihre Tochter schläft, ruft sie ihre Freundinnen an. «Das mache ich bewusst gegen das Alleinsein. Ich telefoniere eigentlich nicht gerne.» Ausserdem teilt sie sich ihre freien Wochenenden sorgfältig ein. «Es gelingt mir immer besser, die Balance zwischen Entspannung, Sport und Austausch zu finden.»
Renée und ihr Partner versuchen es mit getrennten Wohnungen. In der Hoffnung mehr Zeit für eigene Bedürfnisse zu haben und gemeinsame Zeit mehr geniessen zu können. «Manchmal denke ich an eine Pflanze, die zu wenig Wasser bekommt und eingeht. Das bin ich. Jetzt gebe ich mir Wasser und kann hoffentlich wieder blühen.»
Nils plant. Er vereinbart frühzeitig Treffen mit Freund:innen, um in der Zeit ohne seine Tochter etwas unternehmen zu können. Er sucht ein erfüllendes Hobby. Und: «Ich arbeite an mir. Ich bin überzeugt: Einsamkeit hat viel mit einem selbst zu tun. Man kann sie mit Aktivitäten verringern, aber sie lässt sich nicht wegplanen.»
Nathalie helfen ihr Umfeld und ihre Offenheit: «Meine Freunde holen mich raus. Manchmal verlegen sie ihre Treffen zu mir nach Hause, damit ich trotz Kindern dabei bin.» Zudem redet sie über ihre Gefühle und hat festgestellt: «Ich bin nicht alleine mit dieser Einsamkeit. Sie betrifft viele – auch jene Mütter und Väter, bei denen alles gut zu sein scheint.»