Monatsgespräch
Geschwisterstreit: «Wir mischen uns zu früh ein»
Kinder lösen täglich Dutzende von Konflikten erfolgreich, sagt die Pädagogin Mechthild Dörfler. Nur bekommen Erwachsene das leider selten mit.
wir eltern: Streit unter Kindern endet meist in Tränen. Klischee oder Fakt?
Mechthild Dörfler: Das ist ein Klischee. Als wir in den 1990er-Jahren Konflikte im Kindergarten zu erforschen begannen, überraschte mich etwas sehr: Wie viel wir Erwachsenen übersehen, wenn wir bei einem Streit erst hinschauen, wenn es laut oder handgreiflich wird. Das hat meinen Blick grundlegend verändert.
Was verpassen wir denn?
Kinder verfügen über eine Menge an Strategien, um Konflikte auszuhandeln. Von erfolgreichen Auseinandersetzungen bekommen die Erwachsenen jedoch selten etwas mit, weil sie eben nicht in Geschrei und Gerangel enden. Kinder kommen zudem auf Lösungen, die uns nie einfallen würden. Lassen Sie mich ein Beispiel geben: Es gab da eine Gruppe, die ganz in ein Rollenspiel vertieft war, es ging um einen schwerkranken Patienten, der nur mit einer Zauberblume geheilt werden konnte. Ein Junge stand schon längere Zeit daneben, irgendwann fasste er sich ein Herz und fragte, ob er mitspielen dürfe. «Nein», antwortete jemand, «du darfst nur noch die Katze sein.» Ist das nicht grandios? Mit viel Mühe hatten diese Kinder ihre Rollen ausgehandelt und wollten den Prozess nun verständlicherweise nicht von vorne beginnen. Trotzdem fanden sie eine Lösung, mit der sie ihr Spiel nicht unterbrechen mussten und der Junge mitmachen konnte. Niemand musste dabei das Gesicht verlieren. Die Bitte eines Erwachsenen, man solle den Jungen doch mitspielen lassen, hätte die Gruppe hier überfordert.
- Mechthild Dörfler und Lothar Klein: «Konflikte machen stark», Verlag Herder, 2003 (antiquarisch)
- Eveline Degani-Bischof: «Und wie streiten Sie?», Verlag Tredition, 2014, Fr. 19.90
Sollten wir uns als Erwachsene möglichst aus kindlichen Konflikten raushalten?
Ja. Meistens reicht es vollkommen aus, dass wir im Hintergrund präsent sind. Kinder lernen in Konflikten, wie man sich durchsetzt und kooperiert, wie man Regeln aufstellt und Freundschaften bildet, wie man Machtstrukturen etabliert und wieder verändert. Sie lernen ihr Gegenüber mit dessen Absichten, Gefühlen und Grenzen kennen und auch sich selbst. Hinzu kommt, dass Erwachsene selten den ganzen kindlichen Konflikt erfassen, auch, weil sie der Sprache zu grosse Bedeutung beimessen. Kinder streiten aber längst nicht nur verbal – ein Zweijähriger und eine Sechsjährige könnten ja sonst gar nichts miteinander aushandeln – sondern auch mit Gesten und ihrer Mimik. Ein Lachen tut manchmal mehr weh als ein Schubs. Und eine Umarmung kann versöhnender wirken als manches Wort.
Muss man eingreifen, wenn Kinder einander hauen?
Solange sich niemand ernsthaft wehtut: Nein. Ich würde sogar sagen, dass es Kindern schadet, wenn sie Konflikte nicht auch körperlich austragen dürfen. Handgemenge werden in unserer Sprache zu schnell als aggressives Verhalten und Gewalt interpretiert. Andernorts gehört das «rough-and-tumble play» ganz selbstverständlich zum Spielrepertoire dazu. Man kann aber gemeinsam mit den Kindern Regeln aufstellen. Und natürlich gibt es Situationen, in denen man als Erwachsener dazwischen gehen muss. Meistens mischen wir uns aber zu früh ein. Damit nehmen wir Kindern die Möglichkeit, zu erleben, dass sie es sind, die etwas bewirken.
Woran merkt man, dass ein Handgemenge in Gewalt kippt?
Man muss den Kindern ins Gesicht schauen. Meistens sieht man es ihrem Blick an, ob eine Situation freundschaftlich ist und ihnen auch im Gerangel immer wieder ein Lächeln übers Gesicht huscht. Selbst bei spielerischen Kämpfen ist es normal, dass die Grenze zur Gewalt manchmal kurz überschritten wird, um danach in den Rahmen des Zulässigen zurückzukehren. Lernen Kinder nicht gerade auf diese Weise die Wirkung ihres Körpers besser kennen und kontrollieren Macht ein Kind aber weiter, obwohl ihm das andere klar signalisiert, dass es nicht mehr möchte, muss man eingreifen.
Wenn mein Sohn seinen Bruder beisst oder an den Haaren zieht, muss er sich entschuldigen. Sie halten wenig von solchen Aufforderungen. Warum?
Eine Entschuldigung ist eine Konvention, die vorrangig Eltern beruhigt und vorgibt, nun sei die Ordnung wieder hergestellt. Der Konflikt unter den Kindern ist damit nicht gelöst, er geht einfach auf einer anderen Ebene weiter. Das merkt man auch daran, dass eingeforderte Entschuldigungen oft halbherzig ausgesprochen werden. Viel authentischer ist es für Kinder, wenn sie erleben, dass auch Eltern sich nach einem Streit entschuldigen. Aufforderungen wie «Ihr sollt euch nicht hauen» und Fragen wie «Wer hat angefangen?» bringen ebenfalls wenig. Kinder wissen sehr wohl, dass sie nicht treten oder beissen sollten. Wichtiger wäre es, zu fragen, was sie damit erreichen wollten. Kein Kind schlägt ohne Grund.
Kinder sollten doch aber wissen, dass sie anderen nicht wehtun dürfen.
Natürlich gibt es Momente, in denen Erwachsene streitende Kinder auch einmal trennen müssen. Wenn die Gefühle hochgehen, nützt Reden kaum. Wichtig ist, was danach passiert: Wenn man die Situation später mit den Kindern bespricht, stellt sich vielleicht heraus, dass der Junge seinem Bruder gar nicht wehtun wollte. Dann könnte man ihn fragen, ob er ihm das nicht sagen möchte. Das ist viel echter, als eine Entschuldigung zu fordern, ohne zu wissen, was eigentlich vorgefallen ist. Die Rolle der Erwachsenen ist die eines Anwaltes für alle Beteiligten, nicht die eines Richters.
Kinder treten bisweilen nicht nur einander ans Schienbein, sondern auch ihre Eltern. Die Bitte, aufzuhören, trägt da nicht immer Früchte.
Wenn Sie selbst betroffen sind, müssen Sie sofort und unmissverständlich Grenzen setzen. Sie vermitteln damit letztlich auch Ihrem Kind, dass man Nein sagen muss und darf, wenn einem etwas zu weit geht. Man kann Kindern aber selbst in dieser Situation vermitteln, dass ihre Wut gesehen und ernst genommen wird. Manchmal reicht es schon, wenn sie erklären dürfen, was sie so geärgert hat und man sie dabei «spiegelt», also weiwiederholt, was sie gesagt haben. Wenn sich die Situation beruhigt hat, kann man auch besprechen, welche andere Möglichkeiten es gäbe, seinen Unmut rauszulassen, auf ein Kissen zu hauen oder ein paar Mal laut zu schreien zum Beispiel.
Streiten Geschwister anders miteinander als mit Freunden?
Ja, ich glaube schon. Wenn Brüder und Schwestern in Konflikt geraten, tun sie dies als Geschwister, die sich Papa und Mama teilen müssen. Hinzu kommt das Mass an Nähe und Intimität, das die Familie vom Kindergarten oder der Schule unterscheidet. In einem sicheren und geborgenen Umfeld trauen sich Kinder mehr, weil die Beziehungen nicht sofort in Gefahr geraten.
Kinder diskutieren auch im Kindergarten nicht mit allen gleich.
Freunde handeln Konflikte länger und kreativer aus als Kinder, die kein Interesse aneinander haben. Es geht längst nicht nur um die Schaufel, die der andere gerade hat, sondern immer auch um die Beziehung untereinander, das zeigen auch Sätze wie «Dann lade ich dich nicht zu meiner Party ein» oder «Du bist nicht mehr meine Freundin». Das Mädchen, das im Sandkasten mitspielen möchte, wirft den Berg, den die anderen gebaut haben, nicht einfach um, sondern tippt ihn vermutlich erst mal einfach an. Kinder sind sich durchaus bewusst, dass sie Freundschaften gefährden, wenn sie gleich draufloshauen.
Trotzdem gibt es Kinder, die häufiger als andere in Schlägereien geraten.
Oft sind das Kinder, die zu Hause viel Druck und Gewalt erleben und mit dem Gefühl aufwachsen, konfliktreichen Situationen einfach ausgesetzt zu sein und diese nicht selbst beeinflussen zu können. Sie haben nicht ausreichend gelernt, Gesten und Blicke richtig zu deuten und gehen schnell davon aus, dass man sie angreifen will.
Die Erwachsenen von heute erinnern sich kaum daran, dass sich ihre Eltern oder Erzieher bei Konflikten eingemischt hätten. Haben uns die Grossen früher mehr uns selbst überlassen?
Kinder haben viel mehr Zeit ohne elterliche Aufsicht verbracht und es gab grössere Freiräume, das war bestimmt so. Ich glaube aber, es war auch weniger Interesse am Innenleben der Kinder vorhanden, und vieles wurde übersehen. Es ist schon gut, dass wir heute mehr hinhören und uns als Eltern auch einmal infrage stellen.
Streit unter Kindern scheint uns heute aber oft unangenehmer zu sein als diesen selbst.
Konflikte stören unser Bild einer harmonischen Kindheit, in der alles friedvoll sein soll. Wir sind sicher ängstlicher und kontrollierender geworden in den letzten Jahrzehnten. Auch der Kindergarten wird häufig als ein Schonraum angesehen, als Ort fernab der harten Realität des Alltags. Dabei entsteht echte Harmonie doch gerade dann, wenn ein Streit gut überstanden ist. Vielen Erzieherinnen wäre es lieber, wenn die Kinder nicht streiten würden, auch wenn sie wissen, dass Auseinandersetzungen dazugehören. Das ist auch ein Frauenthema. Männer tun sich weniger schwer mit körperlichen Auseinandersetzungen, das ist immer noch so.
zvg
Mechthild Dörfler (59) ist diplomierte Pädagogin und ehemalige Leiterin einer Kita. Für das Deutsche Jugendinstitut in München untersuchte sie in den l990er-Jahren Konflikte unter Kindern und integrierte ihre Erkenntnisse später in die Fort- und Weiterbildung von Erzieherinnen und Erziehern. Sie war mehrere Jahre im Stadtschulamt der Stadt Frankfurt tätig und arbeitet seit 2016 bei der Karl Kübel Stiftung für Kind und Familie in Bensheim. Mechthild Dörfler lebt in Frankfurt am Main. Sie ist verheiratet und Mutter von zwei erwachsenen Kindern.
Das könnte Sie auch noch interessieren:
Samichlaus geht ja noch durch, als Teil unserer Rituale und Kultur. Eltern flunkern ihre Kinder aber auch in anderen Lebensbereichen an. Tun Sie es auch? Klicken Sie sich durch die Galerie der 10 Elternlügen, die jeder kennt.