Gesellschaft / Affäre
Wie viel Vater braucht ein Kind?
Um gesund gross zu werden, braucht es nicht zwingend Eltern in einer Paarbeziehung mit Wohngemeinschaft, sagt Psychologin Simone Dietschi Pisani.
zvg
ist Psychologin für Psychotherapie FSP in der Praxis für Entwicklungsförderung in Aarau und Fachrichterin Psychologie am Familiengericht Aargau. Sie lebt in Zürich, ist verheiratet und Mutter von drei Söhnen.
wir eltern: Simone Dietschi Pisani, unsere Gesellschaft scheint heute weltoffen. Trotzdem wurde die porträtierte Frau für eine Affäre mit einem verheirateten Mann und dem dadurch entstandenen Kind schwer diffamiert. Der Vater hingegen kam recht ungeschoren davon. Sind wir noch nicht weiter in Sachen Frauenbilder und Gleichberechtigung?
Simone Dietschi Pisani: Frauen werden noch immer anders behandelt als Männer, die Rollenbilder sind stark verankert in den Köpfen. Ist ein Vater abwesend, findet das niemand aussergewöhnlich. Bei einer Mutter sieht das ganz anders aus. Zu der Situation der porträtierten Frau kann ich nichts sagen. Jedoch spielen in der Schweiz lokale, Stadt/Land-Unterschiede eine grosse Rolle, wie tolerant die Gesellschaft gegenüber unkonventionellen Familienkonstellationen ist. Dabei kann beispielsweise ein Kind, das aus einer Affäre entstanden ist, eine durchaus willkommene Situation für die Frau sein.
Wie meinen Sie das?
Nun, eine Frau kann sich sehr wohl ein Kind wünschen, ohne dass sie Erwartungen an eine Partnerschaft mit dem Vater des Kindes hat.
Ist das egoistisch?
Nein. Viele Kinder leben heute in Eineltern-Haushalten. Für ein gesundes Aufwachsen braucht es nicht zwingend Eltern in einer Paarbeziehung mit Wohngemeinschaft. Wichtiger ist, ob und wie sich die Erwachsenen um das Kind kümmern und sich auf der Elternebene finden.
Ein Kind ist aus einem Seitensprung entstanden, was ist für dieses Kind wichtig?
Wichtig ist, dass aus seiner Herkunft kein Geheimnis gemacht, sondern dass offen kommuniziert wird. Das Kind darf nicht zur heimlichen Affäre gemacht werden. Es muss erfahren dürfen, woher es kommt und unter welchen Umständen es entstanden ist. Auch wenn der Vater nicht präsent ist.
Wie wichtig ist für das Kind die Beziehung zum Vater?
In Beziehungen gilt immer der Grundsatz der Verlässlichkeit, Verfügbarkeit und vor allem des Vertrauens. Eine Beziehung kann für Kinder sehr verwirrend sein, wenn diese im On-Off-Modus funktioniert, wenn also der Vater einmal erscheint zu den vereinbarten Treffen, dann wieder nicht. Auch wenn das Kind von Seiten des Vaters Desinteresse spürt und dass der Besuch für ihn lediglich Pflichtprogramm ist, wären das ungute, negativ geprägte Gefühle.
Dann besser keinen Kontakt?
Wenn der Vater kein Interesse hat, keine Verlässlichkeit garantieren will oder kann und wenn Väter sich zurückziehen, muss man das ernst nehmen und respektieren. Ein erzwungener Kontakt ist nicht von Vorteil. Vielleicht ist der Vater später bereit für eine Beziehung zu seinem Kind. Oder das Kind sucht als Jugendlicher den Kontakt zum Vater. Wenn die Voraussetzungen für einen guten Kontakt zum biologischen Vater nicht gegeben sind, kann das Kind auch gute, gefestigte Beziehungen zu anderen Bezugspersonen leben.
Väter sind ersetzbar?
Wie gesagt, der Idealfall wäre eine nahe, geerdete Vater-Kind- Beziehung. Eine gute Variante wäre auch, wenn der Vater regelmässig so viel Zeit mit dem Kind verbringt, dass diese als qualitativ gute Zeit erlebt wird. Ein gemeinsamer Samstag im Monat, den beide geniessen, ist besser als lange Wochenenden, in denen das Kind die Überforderung des Elternteils spürt. Es ist jedoch oft nicht einfach, getrennt lebende Eltern zu einem gemeinsamen Konsens zu bringen, der für alle stimmt. Das erleben wir in unserer Arbeit täglich.
Viele Differenzen dürften sich wohl seit der Einführung des gemeinsamen Sorgerechts ergeben haben?
Der einzige Unterschied zu vorher ist, dass die gemeinsame Sorge nicht beantragt werden muss. Sie besteht von Gesetzes wegen. Wenn aber die Mutter sich Lösungen verweigert, ist es für die Väter oft schwierig.
Mütter haben die Macht über die Beziehungen?
Das passiert nicht selten. Der wissenschaftliche Begriff dazu ist maternal gatekeeping. Dabei spielen negative Emotionen in Bezug auf die gescheiterte Paarbeziehung, Rachegefühle, Verletzungen und Enttäuschungen eine Rolle. Oft ist es auch das Unvermögen, Vertrauen zu können, dass auch der Vater gut für das Kind sorgen kann, auch wenn er vieles anders macht. Für Mütter ist es oft schwierig, loszulassen. Vor allem, wenn das Kind noch klein oder sogar noch ein Baby ist.
Ist es nicht die Aufgabe von Fachpersonen und Gerichten, allen zu ihren Rechten zu verhelfen?
Natürlich. Wir sind intensiv im Dialog mit allen Beteiligten. Oft hilft es, die Eltern aufzufordern, sich in Bezug auf die Trennung vom Kind in die Rolle des anderen hineinzuversetzen. Wir nehmen aber auch die Ängste der Mütter ernst.
Und wo bleibt das Recht des Kindes auf beide Eltern?
Mütter haben durch die Schwangerschaft, den Mutterschaftsurlaub und die Babyzeit oft einen Bindungsvorsprung im Vergleich zu den Vätern. Wenn das Kind spürt, dass die Mutter starke negative Gefühle hat, wenn der Vater es abholen will, verweigert es oft den Kontakt zum Vater von sich aus. Kinder leiden, wenn zwischen den Eltern Konflikte bestehen.
Können Sie in Ihrer Arbeit mit Eltern viel bewegen?
Ja. Ich stehe für die Bedürfnisse der Kinder ein, welche die Eltern oft aus den Augen verlieren. Schön ist es, wenn wir erreichen, dass Mütter ihrem Kind einen präsenten Vater gönnen. Unser Ziel ist, dass Eltern das Kind und dessen Bedürfnisse in den Mittelpunkt rücken und gemeinsam längerfristige Perspektiven entwickeln. Das schaffen heute durchaus schon viele Paare und das oft auch ohne externe Hilfe. Doch dazu braucht es starke Mütter und interessierte, engagierte Väter, denen es gelingt, zwischen der Paar- und der Elternebene zu unterscheiden.
28.2.2017