
Anne Gabriel-Jürgens
Vatersein
Welcher Papa willst du sein?
Von Samantha Taylor
Die Rolle der Väter ist im Wandel. Wir haben drei von ihnen gefragt, wie sie ihre Vaterrolle erleben, welche Klischees sie überwinden wollen und womit sie am meisten hadern.
Der Durchschnittsvater in der Schweiz sieht laut Statistik folgendermassen aus: Er ist 34 Jahre alt, wenn das erste Kind zur Welt kommt, Vollzeit oder in einem Pensum zwischen 80 und 90 Prozent erwerbstätig und er leistet pro Woche rund 19 Stunden Haus- und Familienarbeit. Zwar ist die Rollenverteilung in Familien hierzulande bis heute ziemlich traditionell und von einer 50 : 50-Aufgabenteilung weit entfernt, trotzdem hat sich über die Jahre einiges verändert: Väter beteiligen sich mehr bei der Familienarbeit und sind häufiger in Teilzeit erwerbstätig. Vaterschaft hat sich aber nicht nur in Bezug auf Fakten gewandelt. Auch ihre Rolle sehen Väter heute anders als frühere Generationen. Das Bild des Ernährers rückt in den Hintergrund. Dafür wollen Väter vermehrt präsent, engagiert und empathisch sein. Wir haben drei Väter besucht.
Ramon Hungerbühler, 35 aus Zürich und sein Sohn, 4 Jahre alt. Ramon arbeitet als Künstler in unregelmässigem Pensum.
Zeit. Davon will Ramon möglichst viel mit seinem vierjährigen Sohn verbringen. Beim Skaten, Basteln, Mittagessen, Malen, am Familientisch. «Meine schönsten Kindheitserinnerungen sind jene, als mein Vater ungeplant früher von der Arbeit nach Hause kam. Dieses Spontane will ich auch für mein Kind.» Ramons Vater war Schichtarbeiter in einer Fabrik. Er verliess das Haus früh und kam spät heim. Und er starb zu früh: Als Ramon elf Jahre alt war, erkrankte sein Vater schwer, kurze Zeit später verstarb er.
Ramons Blick aufs Vatersein ist aufgrund seiner Geschichte ein etwas anderer als der vieler anderer Väter. Der Blick des 35-Jährigen ist aber auch anders, weil er kein konventionelles Leben führt. Er ist Künstler, seine Partnerin Musikerin. Der Alltag der Familie ist geprägt von Unregelmässigkeit. Bis vor Kurzem lebten sie gemeinsam in Zürich und Berlin, seine Partnerin pendelt noch immer zwischen den Städten. Ramon fällt auf, durch seinen Style, seine vielseitigen Talente, seine Tattoos. Seine Art und sein Blick auf das Leben haben etwas gleichermassen Radikales wie Sanftes.
Liebe fürs Leben
Wenn er von seinem Sohn erzählt, spürt man diese Sanftheit. Es sei unglaublich schön, Zeit mit ihm zu verbringen und zu sehen, wie er zu einer eigenständigen Person heranwachse. Ramon beschönigt nichts. Der Anfang sei hart gewesen, unglaublich hart. Der Schlafmangel, die Fragen, die Überforderung. Und: das ständige Verhandeln. Für den Zürcher und seine Partnerin war klar, dass sie sich die Familienarbeit 50:50 teilen. Aus Überzeugung, Respekt vor der Arbeit des anderen und Liebe zum Kind. Ihr Leben als Künstler: innen ist für dieses Modell so hilfreich wie hinderlich. Das Fehlen von Strukturen schafft Flexibilität. «Niemand von uns muss um 8 Uhr im Büro sein.» Das bedeutet aber auch, dass das Paar selbst einen Rahmen definieren und diesen immer wieder neu abstecken musste. Vorbilder, bei denen man hätte abschauen können, gab es keine. Ramon und seine Partnerin waren die ersten in ihrem Künstler:innenFreundeskreis mit einem Kind. Auch davon, wie man eine Vaterrolle ausfüllt oder wie ein intaktes Familienleben sein könnte, hatte Ramon wenig klare Vorstellungen. Zu turbulent sei seine Kindheit und Jugend gewesen. «Wir mussten alles selbst herausfinden. Vieles ist uns gut gelungen.»
Fragt man Ramon heute, wie er trotz allem als Vater sein will, zögert er keine Sekunde mit der Antwort. «Wie mein Vater», sagt er. Sein Vater nahm sich Zeit und interessierte sich für seinen Sohn. Er sah Ramons sportliches Talent und liess ihn ausprobieren, wozu er Lust hatte. Er sah seine Kreativität und schuf Platz dafür. «Er ist früh gestorben, aber er hat mir, bis ich elf war, so viel Liebe mitgegeben, dass sie für den Rest meines Lebens reicht.»
Die Kunst der Abstriche
Für seinen eigenen Sohn will Ramon kein Vorbild sein. Weil er nicht viel von Vorbildern hält. Das Konzept ist ihm zu eng. Viel wichtiger findet er das Vorleben. Spricht er darüber, blitzt seine andere Seite, die Radikalität, durch: «Ich will, dass er sieht, dass mich meine Arbeit glücklich macht. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn ich über Jahre unzufrieden wäre und ihm dies vorleben würde.» Für dieses Glück, das er in der Kunst findet, ist Ramon bereit, Abstriche zu machen. Etwa bei der finanziellen Sicherheit. «Viele Menschen priorisieren finanzielle Stabilität und Sicherheit, sobald sie Kinder haben. Sie glauben, das sei das Wichtigste.» Seit er Vater ist, tut Ramon das Gegenteil: Er geht noch weniger Kompromisse ein. «Seit mein Sohn auf der Welt ist, versuche ich, noch mehr aus mir herauszuschöpfen.» Seine Entscheidungen seien klarer und manchmal radikaler – zugunsten seines Wohlbefindens.
Bereut hat er dies bisher noch nie: «Ich lebe heute mit meinem Sohn jenes Leben, das ich mir immer gewünscht hätte. Das Leben, das mein Vater auch mit mir gelebt hätte. Ich schöpfe alles aus. Dass ich diese Möglichkeit habe, dafür bin ich sehr dankbar.»

Seit er Kinder hat, hat Andi auf den Abenteuermodus umgestellt. Dahinter steht ein pragmatischerer Gedanke, als man zunächst vermuten könnte. Mit Abenteuer meint der 39-Jährige nicht verrückte Aktivitäten, grosse Reisen oder Lagerfeuer. Das eine oder andere kommt vielleicht mal vor. Aber eigentlich meint Andi eher das Gegenteil. Für ihn besteht das Abenteuer darin, sich möglichst offen und vollständig auf die Elternschaft einzulassen – auf ihre Unvorhersehbarkeit und ihre Alltäglichkeit.
Mit seiner Partnerin und den beiden Töchtern, vier und zwei Jahre alt, lebt Andi in Walchwil, einer ländlichen Gemeinde im Kanton Zug. In ihrem Umfeld, aber auch darüber hinaus ist die Familie ein Sonderfall. Weil sie sich für ein Modell entschieden haben, das noch immer eine Seltenheit ist: Andi übernimmt mehr Betreuungsarbeit als seine Partnerin. Konkret kümmert er sich unter der Woche zwei Tage um die Kinder und ist in einem 60-ProzentPensum erwerbstätig – eine Zeit lang als Schiffskapitän und im Informatikbereich, mittlerweile nur noch in der IT. Seine Partnerin hat eine leitende Position in einem 80-Prozent-Pensum.
Ein durchdachter Macher, so könnte man Andi beschreiben. Er macht sich viele Gedanken, bevor er entscheidet, wägt sorgfältig und zugleich pragmatisch ab und setzt dann beherzt um. So war es auch beim Betreuungsmodell. Als es um die Familiengründung ging, machte das Paar eine Auslegeordnung. Am Ende haben drei Faktoren für das jetzige Modell gesprochen. Da waren die Karriereaussichten. Zwar mag Andi seinen Job, aber ein Aufstieg stand bei ihm, im Gegensatz zu seiner Partnerin, nicht an. «Mir war es auch nicht so wichtig. Meine Persönlichkeit baut nicht auf meinem beruflichen Erfolg auf.» Dann gab es die «Milchbüechlirechnung» und die Frage, was finanziell Sinn macht. «Mir ist bewusst, dass dieser Wirtschaftscheck bei vielen Familien dazu führt, dass sie in klassische Muster geraten: Er arbeitet hoch-, sie tiefprozentig. Ich sehe es als Privileg, dass wir es anders machen können.» Und schliesslich war da das Emotionale. Er habe sich gefragt, ob er sich in der Rolle der Hauptbetreuungsperson sehe. Die Antwort war ein klares Ja. «Ich finde das, was ich als Vater leiste, oft sinnvoller und erfüllender als so manches im Job.»
Andi versucht, sich nicht allzu sehr über Dinge zu ärgern, die er nicht ändern kann. Er mag es nicht, zu lamentieren, und er hat gelernt, nicht alles persönlich zu nehmen. Dass es etwa auf Männertoiletten kaum Wickeltische gibt, sei zwar mühsam, sich darüber aufzuregen bringe aber nichts. «Dann wickle ich halt in der Frauentoilette und gehe beim nächsten Mal in ein anderes Lokal.» Dass ihn ältere Männer und Frauen manchmal mit diesem «Kann-der-das-Blick» beäugen, perlt an ihm ab. Das Einzige, was er etwas «nervig» findet, ist die Frage: Hast du Papitag ? «Ich verbringe nicht hin und wieder einen Spasstag mit meinen Kindern. Es ist Vaterschaft und Alltag. Und das kann genauso schön sein.» Andi ist sicher: Weil er alltägliche Situationen mit seinen Kindern erlebt, vertieft sich ihre Beziehung. «Für sie spielt es keine Rolle, wer sie tröstet, wer mit ihnen spielt oder für sie kocht. Dass ich für sie ein vollwertiger Elternteil bin, ist eine wunderschöne Erfahrung.»
Andi Schmid
Andi sieht sich als Vater nicht in einer besonderen oder vorgegebenen Rolle. Er hat sich darum auch nicht überlegt, was er explizit als Vater vorleben oder welche Position er in der Familie einnehmen möchte. «Ich will für meine Töchter ein möglichst positiver Teil ihres Lebens sein, als Elternteil, Bezugsperson, Freund, Begleiter und Mensch. Ich will vollumfänglich für sie da sein.» Woher diese Haltung kommt, weiss er nicht. Er selbst ist relativ klassisch aufgewachsen: Sein Vater führte ein Geschäft, seine Mutter war erwerbstätig und kümmerte sich grösstenteils um die Kinder. Beide Elternteile seien aber emotional immer «verfügbar» gewesen. Das habe ihn vermutlich schon geprägt. «Sie waren immer für uns da und ein wichtiger Teil.» Bis zum Krebstod von Andis Mutter im Dezember 2024 waren sie auch ein Pfeiler bei der Kinderbetreuung.
Andi hofft, dass sich mehr Väter diese Betreuungsarbeit «gönnen» können. Würde er Vollzeit arbeiten, wäre ihm die Zeit mit seinen Töchtern zu knapp. «Und nein, ich trage keine rosarote Brille. Elternschaft ist anstrengend, nervenaufreibend und erschöpfend. Sie sorgt für Schlafmangel und einen Karriereknick. Man muss also schon für sich abwägen, ob es einem das wert ist. Aber: Die Möglichkeit, ein Kind zu begleiten, ist unglaublich erfüllend.»

Für Vivek war immer klar, dass er Kinder möchte. Er weiss bis heute nicht, woher das Klischee, Frauen wollen Kinder, Männer muss man dazu überreden, kommt. «Das stimmt einfach nicht», sagt er vehement. Bei dem Thema kommt der 45-Jährige, der sonst ein ruhiger, besonnener Typ ist, in Fahrt. Die Zuschreibungen an Väter ärgern ihn, genauso wie das Bild, das manche Väter selbst von sich haben. Zum Beispiel das Lob, das Väter erhalten, wenn sie mit ihren Kindern Zeit verbrin - gen. Oder das Bild des «Spass-Daddys», der nur die tollen Sachen macht. Oder die Haltung, dass es für einen Mann kaum zumutbar sei, Kinder zu betreuen und den Haushalt zu erledigen. All das irritiert ihn, seit Beginn seiner Vaterschaft bis heute.
Vor 17 Jahren kam Viveks Tochter zur Welt. Drei Jahre später wurde sein Sohn geboren. Vor acht Jahren gab es dann so etwas wie ein drittes Mal. Damals kam kein Kind zur Welt, aber Vivek wurde doch noch einmal Vater – ein anderer, als er bis dahin war. Zu jener Zeit trennten sich Vivek und seine Partnerin. Die Familie musste sich neu finden: zwei Wohnungen, geteiltes Sorgerecht, neue Rollen. Zwei Tage pro Woche und die Hälfte der Ferien verbrachten die Kinder fortan bei ihm. Vivek sah seine Kinder zwar nicht mehr jeden Tag, als Vater war er aber gefragter als zuvor. «Waren sie bei mir, war ich die einzige Ansprechperson. Ich war zuständig fürs Kochen, Wäschewaschen oder für die Hausaufgaben. Ich war aber auch derjenige, der Streit schlichtete, mal streng war oder tröstete.»
Der Oltner war, wie er findet, schon immer ein präsenter Vater. «Ich hatte das Bedürfnis, Zeit mit meinen Kindern zu verbringen. Ich wollte ein liebevoller Vater sein, der für Geborgenheit sorgt, ihnen auf Augenhöhe begegnet.» Ging es aber um die Aufgabenverteilung, so übernahm Vivek die ersten Jahre klassische Papa-Tasks: spielen, ins Bett bringen, Ausflüge. Vivek ist ein selbstkritischer Typ. Darum sagt er rückblickend: «Auch ich war für den Spass zuständig.» Das lag nicht zuletzt am Familienmodell. Vivek war 100 Prozent erwerbstätig, seine Ex-Partnerin blieb zu Hause. «Ich hätte mir damals vorstellen können, mein Pensum zu reduzieren. Sowohl für meinen Arbeitgeber als auch für meine Ex-Partnerin war das aber keine Option.» Vivek fügte sich, weil das Modell für ihn, die Familie und in die Zeit passte. Die Selbstverständlichkeit, mit der es in der Schweiz gelebt wurde, über - raschte ihn trotzdem.
Vivek Sharma.
Er selbst war anders aufgewachsen. In einer «liberalen» Familie in Indien. Seine Eltern arbeiteten beide viel und hart. «Wir gehörten zur unteren Mittelschicht, dafür leisteten meine Eltern aber einiges.» Seine Mutter sei stets selbstbestimmt und finanziell unabhängig gewesen. Sie verdiente mehr als sein Vater. Vivek verliess sein Zuhause mit 16 Jahren fürs Studium. Mit Anfang 20 ging er in die USA, anschliessend kam er aus beruflichen Gründen in die Schweiz.
Schaut sich Vivek heute in seinem Freundesund Bekanntenkreis um, hat sich einiges verändert. Väter von kleinen Kindern sträubten sich teilweise gegen das Wort «Papitag», weil sie mehr als das für die Familie leisten wollen. Mehr und mehr Männer arbeiten Teilzeit. Das überschwängliche Lob, das ein Vater bekommt, der mit seinem Kind unterwegs ist, ist weniger geworden. Zu Recht, findet Vivek, aber das reiche noch nicht. Väter erhielten noch zu oft eine Sonderbehandlung, von ihrem Umfeld, von anderen Vätern, von sich selbst. «An mich als Vater werden kaum Erwartungen gestellt.» Feiere sein Kind Geburtstag und er kaufe einen Kuchen, seien alle hellbegeistert, dass er sich engagiere. «Kauft eine Mutter denselben Kuchen, findet man das lausig. Von ihr erwartet man selbstverständlich ein selbst gebackenes Werk. Es täte uns gut, an diesen Erwartungen auf beiden Seiten zu schrauben.»
Vivek fühlt sich in seiner Vaterrolle wohl. Er liebt es, seine Kinder zu begleiten. Neue Schuhe zu kaufen oder sie zum Aufräumen zu überreden, findet er nicht die grösste Erfüllung. Aber es gehöre zum Vaterpaket dazu. Er hofft, dass in Zukunft in Hinblick auf Vaterrollen noch einiges passiert: «Es muss normal sein, dass Väter genauso viel emotionale wie alltägliche Arbeiten übernehmen und übernehmen wollen wie Mütter. Wir Väter sind nicht der Gegenpol zur Mutter. Wir sind zusammen Eltern. Das müssen wir Männer begreifen.»