Freiwilligenarbeit
Wärme für einsame Babys
Neugeboren und allein im Krankenhaus: Solchen Babys schenken Freiwillige des Vereins «First Hug» in Israel Liebe und Zuwendung.
Da liegen sie, zwischen all den Monitoren, dem Piepsen, den Kabeln: Die Kleinen in ihren Bettchen oder Brutkästen. Nicht wissend, worauf sie warten oder weshalb sie hier sind. Es ist Nachmittag im Tel Hashomer Krankenhaus in Ramat Gan. Von den oberen Etagen des Krankenhauses sieht man die Skyline von Tel Aviv. Doch in diesem fensterlosen Raum sieht man nichts, erlebt nur den Moment. Und in diesen begibt sich Sappir Namir jedes Mal aufs Neue.
Seit 2004 kümmert sich der Verein «First Hug» in Israel um Neugeborene, die aus verschiedenen Gründen viel Zeit alleine im Krankenhaus verbringen. Die 370 freiwilligen Helferinnen, Helfer und Sozialarbeiter sind in 29 Krankenhäusern im ganzen Land im Einsatz und geben den Babys während ihren Einsätzen die Liebe und Geborgenheit, die sie sonst missen würden. Um die 300 Neugeborene werden in dieser Form jährlich vom Verein betreut. Wer den Verein und die Arbeit der Freiwilligen unterstützen möchte: Eine Spende ist auch von der Schweiz aus möglich. ➺ tinokot.org.il/en/donation
Sappir ist freiwillige Mitarbeiterin des israelischen Vereins «First Hug» (Erste Umarmung, «Chibuk Rishon» auf Israelisch). Eine Organisation, die Neugeborenen, welche die ersten Wochen oder Tage ihres Lebens aus unterschiedlichen Gründen einsam im Krankenhaus verbringen, die Wärme schenkt, die sie von ihren Eltern nicht erhalten können.
Emotionale Stärke ist wichtig
Sappir ist 27 Jahre alt und schmust erst seit einem halben Jahr. Ende Woche wird sie heiraten. Die Kolleginnen im Krankenhaus reagieren erstaunt auf ihr Erscheinen. Dass sie vor ihrem grossen Tag dafür noch Zeit findet. Sappir entgegnet, das sei doch die schönste Form der Entspannung, bevor die ganze Aufregung losginge.
Und so sterilisiert sich Sappir die Hände mit der roten Seife, weil die weniger stark rieche als die blaue, zieht sich den Einweganzug über ihre Kleidung und geht auf das kleine Bettchen mit dem noch kleineren Leben zu. Der Monitor zeigt den regelmässigen Herzschlag. Als existierten all die Kabel nicht, nimmt sie den Kleinen hoch, hält ihn an ihre Brust und streichelt das nackte Füsschen. «Er ist so ein tolles Kind», sagt sie mit dem Stolz einer Tante. «Bei ihm merkt man richtig, wie sehr er sich über meinen Besuch freut. Schaut! Er lächelt! Hallo, du kleiner schöner Junge ... Ist er nicht wunderschön?»
Für drei Stunden wird Sappir nun alles andere ausblenden. Die Kabel, das Piepsen, ihr eigenes Leben, die Welt draussen. Das Handy liegt in einem anderen Raum. Ihre Aufmerksamkeit gilt nun für drei Stunden ganz dem Kleinen.
Schwieriger Start ins Leben
Das kleine Frühchen wird bald nach Hause können. Seine Eltern haben daheim noch weitere Kinder, inklusive den stärkeren Zwilling, und können nicht jeden und schon gar nicht den ganzen Tag im Krankenhaus verbringen. Es gibt auch keine Familienmitglieder, die in der Häufigkeit, die ein Neugeborenes verlangt, anwesend sein können, um es zu halten, zu besingen, küssen, streicheln, oder einfach nur, um daneben zu sitzen.
Das Baby, mit dem Sappir heute schmust, hat ein vergleichsweise leichtes Schicksal. Andere Neugeborene, um die sich die Freiwilligen bei «First Hug» kümmern, tragen schon früh eine schwere Geschichte auf ihren winzigen Schultern.
Mama ist im Entzug
«Wir sorgen uns auch um Babys, deren Mütter sich nach der Geburt direkt in Rehabilitationszentren begeben, um von ihrer Drogensucht loszukommen», erklärt Sappir. «Es sind Babys, deren Mütter auch während der Schwangerschaft Drogen genommen haben. Diese Kleinen machen zeitgleich wie ihre Mütter einen Entzug durch. Das ist physisch enorm schmerzhaft für sie.» Wieder andere werden direkt nach der Geburt zur Adoption freigegeben. Bis sie von ihren neuen Eltern oder den Sozialarbeitern des Kinderheims abgeholt werden, liegen sie dort allein, gäbe es Menschen wie Sappir nicht.
Ein exklusives Schalom
Besonders tragisch ist es, wenn ein kleiner Mensch mit Missbildungen zur Welt kommt, die das Leben auf einen ganz kurzen Zeitraum begrenzen. Sappir erinnert sich an ein Neugeborenes mit Trisomie 13. Seine Lebenserwartung lag bei maximal einem Jahr. «Auf solche Fälle habe ich mich psychisch vorbereitet, bevor ich mit dieser Arbeit angefangen habe», erzählt sie. «Ich versuche dann, mit leichtem Herzen und guter Energie dem Baby zu begegnen.» Besonders die Kleinsten reagierten sensibel auf Energie und Stimmungen. Um dem Baby das geben zu können, was es braucht, sei es wichtig, jede Schicht mit einem Lächeln zu beginnen und zu beenden. Zwar nehmen solche Schicksale die freiwilligen Helferinnen mit. Trotzdem konzentriere man sich auf den Moment. Diese drei Stunden, in denen man hier sei. In diesen versucht Sappir, alles von sich zu geben: «Wenn ich ans Bettchen herangehe, begrüsse ich die Kleinen immer. Ich sage ‹Schalom›. Aber nicht so, wie ich es anderen Menschen sagen würde. Es ist ein ‹Schalom›, das nur den Kleinen gehört. Es klingt irgendwie anders.»
Jede Woche 9 Stunden im Einsatz
Aktuell engagieren sich 370 Freiwillige bei «First Hug», acht von ihnen sind Männer. Jährlich nimmt die Organisation zirka 300 Babys in ihre Obhut und unterstützt Eltern, die diese Arbeit nicht allein bewältigen können oder wollen. Es ist ein zeitintensives Ehrenamt: Die Einsätze finden zwei bis dreimal die Woche statt, immer für je drei Stunden. Hinzu kommen An- und Abreise, die im israelischen Strassenverkehr viel Zeit in Anspruch nehmen kann. Die Organisation hätte eigentlich genug Freiwillige, um die Einsätze kürzer zu halten.
Doch die Krankenhäuser wollen keine unüberschaubare Gruppe auswärtiger Mitarbeitender in ihren Räumlichkeiten. Deshalb wird von denselben Personen regelmässige Präsenz verlangt. Dies entspricht auch dem Anspruch des Vereins, dass sich jede Freiwillige gezielt und so exklusiv wie möglich um ein Kind kümmert.
Viele der Geschichten sind für Laien nur schwer zu ertragen. Vor allem diejenigen von Eltern, die ihre Kinder nicht behalten wollen. Die Gründe sind vielschichtig, aber egal, wie sehr man als Aussenstehender, der eine solche Entscheidung im Leben nicht fällen musste, versucht, darüber nicht zu urteilen, so ist insbesondere dies ein Thema, bei dem sich die meisten ein Urteil kaum verkneifen können.
Auch Sappir und ihre Kolleginnen müssen sich immer wieder disziplinieren. «Natürlich ist es schwer, nicht zu urteilen. Den Kopf zu schütteln, wenn man solche Geschichten hört, wäre eine menschliche und normale Reaktion. Aber ich darf nicht. Ich muss im Moment bleiben. Dem Kind zuliebe. Wem wäre denn geholfen, wenn ich urteilte?»
Warum Zuwendung so wichtig ist
Sivan Almoz ist die Direktorin des Vereins und zeigt viel Verständnis, wenn die Emotionen mit ihren Kolleginnen durchgehen: «Ich erinnere mich, wie mich eines Tages eine Helferin anrief, um sich über den Vater eines Babys aufzuregen. Der Vater kam nur einmal pro Woche und die Helferin sah, wie er draussen mit dem Kleinen stand, in der anderen Hand eine Zigarette hielt und gleichzeitig am Telefon war.» Die Helferin sei über die scheinbare Anteilnahmslosigkeit des Vaters entsetzt und wütend und traurig zugleich gewesen. «Ich meinte zu ihr: Lass jetzt mal alles am Telefon raus, fluche dich aus und atme dann tief ein und versuche, mit neuer Energie zurück zu den Kleinen zu gehen.»
Es gibt unzählige Studien, welche die Wichtigkeit von Liebe und Geborgenheit während des ersten Abschnitts des Lebens verdeutlichen. Zuwendung fördert die emotionale und körperliche Entwicklung von Neugeborenen und Kindern. Schmusen, Küssen, Halten, mit ihnen sprechen, ihnen vorsingen ... Die Spannbreite, wie Kindern Liebe vermittelt werden kann, ist gross. Entzug hingegen – vor allem in der ersten Lebensphase – kann Folgen bis ins Erwachsenenalter haben.
Sivan Almoz’ persönliche Lebensgeschichte unterstreicht die Erkenntnisse solcher Studien. Sie selbst wurde aus einem koreanischen Kinderheim adoptiert. Ihr Bruder aus einem vietnamesischen. Sivan hat bis zu ihrem vierten Lebensjahr in Korea im Kinderheim viel Liebe erfahren. Ihr Bruder, der seine ersten Lebensjahre in einem kalten, sozialistisch geprägten Waisenhaus verbracht hatte, hingegen nicht.
«Sowohl mein Bruder als auch ich sind uns einig, dass ich mich im Leben besser zurechtfinde. Ich bin emotional belastbarer und stabiler. Mein grosser Bruder hingegen fällt eher in sich zusammen und ist schnell überfordert.» Ein Unterschied, der nicht nur auf die Persönlichkeit, sondern auch auf die unterschiedliche Behandlung im Kleinkindalter zurückgeführt werden kann.
Sappir würde dieser Arbeit nicht nachgehen, wenn sie nicht von der Bedeutung dieser Zuwendung und Liebe überzeugt wäre. Auch aus diesem Grund verlässt sie ein Kind fast nie, wenn es wach ist, auch wenn das ihren Dreistundeneinsatz überschreitet. Und wenn sie geht, weiss sie nicht, ob sie ihren Schützling wiedersehen wird. «Wir werden nicht darüber informiert, wann die Kleinen entlassen werden. Sie sind dann einfach weg.» Meistens ein erleichternder Moment für das Team, weil die meisten zu ihren Familien nach Hause gehen dürfen. Doch manchmal nagt ein Schicksal an den Helferinnen. «Ganz abzuschalten ist nicht immer einfach. Gewisse Geschichten nehme ich nach Hause mit und manche werde ich vielleicht immer im Herzen tragen», sagt Sappir.
Kinder, die zur Adoption freigegeben werden, erhalten in der Adoptionsmappe Informationen des Vereins. «First Hug» gibt es seit 15 Jahren. Mit 18 Jahren erhalten solche Kinder Einblick in ihre Unterlagen. «Es wird spannend sein zu sehen, ob dann manche von ihnen mit uns in Kontakt treten wollen», sagt Sivan Almoz, die Direktorin. Wichtig sei das aber nicht. Denn das ganze Team weiss, was es diesen Menschen auf ihren Lebensweg mitgegeben hat: Zeit, Liebe und auch ein Stück ihres Herzens.
Zwischen 2013 und Ende 2021 lebte und arbeitete die Zürcherin Joëlle Weil in Tel Aviv. Es gibt wenig Orte auf dieser Welt, die ihrer Meinung nach so vielseitig und spannend sind, wie Israel. Inzwischen ist die freie Journalistin mit ihrer Familie in die Schweiz gezogen um sich hier ein Leben aufzubauen.