Zucker
Süsse Liebe
Von Veronica Bonilla Gurzeler, Manuela von Ah
Der kindliche Zuckerkonsum ist ein heikles Thema: In Familien und in der Gesellschaft. Fakten, Rat und Elternstimmen für einen vernünftigen Umgang mit der süssen Versuchung.
Von Glacé über Schoggi zu Gummibärchen und Kuchen – kaum etwas lieben Kinder mehr als Süsszeug. Ach was, nicht nur Kinder! Auch wir Erwachsenen schlemmen uns genüsslich durchs Dessertbuffet oder können der täglichen Portion Süssem oft nicht widerstehen. Kein Wunder. Der Mensch ist von Beginn weg auf Süsses geprägt: Das Fruchtwasser, das der Embryo trinkt, ist süsslich und nach der Geburt gehts genau so weiter – mit süsser Muttermilch und ebensolcher Formulamilch. Von Natur aus bedeutet süss denn auch bekömmlich. Tatsächlich gibt es keine einzige süsse Frucht, die giftig ist. Hingegen schmecken die allermeisten Giftstoffe bitter, und saure Geschmäcker weisen auf etwas Verdorbenes hin. Sogar unser Gehirn steht auf Zucker: Sobald die Geschmacksnerven auf der Zunge Süsses wahrnehmen, schüttet das Hirn das Glückshormon Dopamin aus. Davon wollen wir mehr, mehr, mehr.
Blöd nur, dass zu viel Zucker unserem Körper nicht guttut, die Datenlage dazu ist erschlagend. Zum Glück aber ist Zucker nicht gleich Zucker. Hier deshalb Fakten und Wissenswertes zum Thema:
Vorkommen von Zucker
In natürlicher Form kommt Zucker in Früchten, Gemüse, Getreide, Hülsenfrüchten, Milch und Milchprodukten vor, und ist ein wichtiger Bestandteil einer ausgewogenen Ernährung. Weil der Körper aus diesen Nahrungsmitteln ausreichend Zucker zieht, braucht er im Prinzip keinen zusätzlichen Zucker; er findet sich deshalb auch nicht auf der Liste der Grundnahrungsmittel. Bei der Herstellung von Lebensmitteln und beim Kochen wird oft freier Zucker (Haushaltzucker, Glukosesirup etc.) zugesetzt – einzig mit dem Ziel, den Geschmack zu verbessern und die Haltbarkeit zu verlängern. Einen Nährwert besitzt dieser Zucker nicht.
In Salatsaucen, Ketchup, Chips – überall steckt Zucker drin. Allerdings unter Namen wie Glukose, Fruktose oder Maltose.
Zucker ist wichtig für die Entwicklung
Ernährungswissenschaftlich gehören alle Zuckerarten zu den Kohlehydraten. Da sich Babys und Kinder im Wachstum befinden, sind Kohlehydrate für sie besonders wichtig. Allerdings brauchen sie vor allem komplexe Kohlehydrate, wie sie in Obst, Gemüse und Vollkornprodukten vorkommen. Der Körper muss diese bei der Verdauung aufspalten, dadurch machen sie lange satt; ausserdem gehen komplexe Kohlehydrate nur langsam ins Blut über und treiben den Blutzuckerspiegel nicht so stark in die Höhe. Problematisch sind die schnellen Kohlenhydrate, wie sie zugesetzter Zucker enthält. Sie lassen den Blutzucker in die Höhe schnellen und lösen ständig neue Hungergefühle aus.
Zuckerkonsum
Die WHO empfiehlt, den Konsum von freiem Zucker auf weniger als 10 Prozent der Energiezufuhr oder maximal 50 Gramm zu beschränken. Schweizer:innen lieben es allerdings süss. Laut dem Agrarbericht des Bundesamts für Landwirtschaft konsumieren wir im Durchschnitt täglich 115 Gramm Zucker – und überschreiten damit die WHO-Empfehlung deutlich. Für Kinder gibt es dazu keine spezifischen Daten. Erhebungen aus Belgien und den Niederlanden zeigen, dass Kinder bis zu 26 Prozent ihrer Energiezufuhr durch freie Zucker decken, hauptsächlich aus gesüssten Produkten (40–50 Prozent), Süssgetränken (20–35 Prozent) und Milchprodukten (6–18 Prozent).
Versteckter Zucker
Tückisch: Nicht nur Schokolade, Kuchen und Bonbons enthalten zugesetzten Zucker. Auch in verarbeiteten Lebensmitteln, allen voran in Fertiggerichten, aber auch in Salatsaucen, Instantkaffee oder Chips steckt Zucker – der allerdings anders heisst. Nämlich Glukose, Fruktose, Maltose, Dextrose, Maltodextrin, Glukosesirup, Zuckercouleur, Invertzucker, Laktose, Raffinade, Sorbit oder Xylit. Besonders kritisch wird Isoglukose gesehen, auch Maissirup genannt. Der billig produzierte Glukose-Fruktose-Sirup wird in den USA seit vielen Jahrzehnten in der Lebensmittelindustrie verwendet und für die enorme Zunahme von Fettleibigkeit und Typ 2-Diabetes verantwortlich gemacht. Seit 2017 darf Isoglukose auch in der europäischen Lebensmittelindustrie verwendet werden.
Folgen von zu hohem Zuckerkonsum
Nehmen wir viel mehr Zucker auf, als wir brauchen, speichert der Körper die Energie für knappere Zeiten. Bleibt die Hungersnot aus und die Zuckerzufuhr dauerhaft hoch, gerät der Blutzuckerspiegel ausser Kontrolle. Die Folgen sind Übergewicht, kardiovaskuläre Erkrankungen, Diabetes Typ 2 oder Fettstoffwechselstörungen. Häufig sind auch Mangelerscheinungen und Zahnkaries. Wissenschaftler vom Londoner University College belegen einen Zusammenhang zwischen dem Zuckerkonsum und der Entstehung psychischer Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen.
Zuckeralternativen
Im Handel gibt es heute zahlreiche Zuckeralternativen – die aber deutlich teurer als der weisse Haushaltszucker sind. «Vollrohrzucker, Kokosblütenzucker, Ahorn- oder Dattelsirup enthalten zwar kleine Mengen Mineralstoffe, sind in ihrer chemischen Zusammensetzung dem Haushaltszucker aber sehr ähnlich», sagt Moana Werschler, ganzheitliche Ernährungsberaterin und Buchautorin. «Weil sie den Blutzuckerspiegel ebenso schnell ansteigen lassen und Karies verursachen können, sollten wir auch Zuckeralternativen zurückhaltend verwenden.» Vorsicht ist bei Xylit, Erythrit und Stevia geboten, bei kleinen Kindern können sie Verdauungsbeschwerden verursachen. Auch Agaven- oder Birnendicksaft empfiehlt Werschler wegen ihres sehr hohen Fruktoseanteils nicht. In ihrem Vorratsschrank stehen neben normalem Zucker Yacon-, Reis-oder Ahornsirup, die sie aber sehr selten benutzt.
Das tun Staat und Industrie
Die Zuckerreduktion in Lebensmitteln wäre auch Staatssache. Aber die Zuckerproduktion wird hierzulande subventioniert, damit die Preise mit denjenigen aus dem Ausland mithalten können. Mit Zucker als Geschmacksverstärker lassen sich Produkte eben besser verkaufen – Zucker ist sozusagen das weisse Gold der Nahrungsmittelindustrie. Immerhin setzten sich bis anhin 24 Schweizer Unternehmen (u.a. Coop, Migros, Emmi Schweiz, Nestlé) mit Bundespräsident Alain Berset an einen Tisch und unterzeichneten die sogenannte «Erklärung von Mailand». Damit verpflichten sie sich, den Zuckergehalt in Erfrischungs- und Milchmischgetränken sowie in Quark zu verringern. Das ist zwar eine blosse Absichtserklärung, nichtsdestotrotz sank seit 2018 der Gehalt an zugesetztem Zucker in Joghurts um rund fünf, in Cerealien um rund 13 Prozent. Da sich Politik und Lebensmittelindustrie allzu träge bewegen, versuchen Verbände und Vereine, einen Beitrag zur Zuckerreduktion zu leisten. Im Mai 2023 veröffentlichte der Verein «Allianz Ernährung und Gesundheit» ein Zuckermanifest: Damit wird von der Politik mehr Engagement verlangt. Weil gerade Eltern sich oft nicht bewusst sind, wie viel Zucker viele Nahrungsmittel enthalten, fordert die Allianz, dass Babynahrung und für Kinder konzipierten Lebensmitteln gar kein Zucker mehr zugefügt wird.