Eigenes Saatgut ziehen
Samengewinnung für den eigenen Garten
Wer unabhängig Pflanzen anbauen will, braucht eigenes Saatgut. Im Gemeinschaftsgarten in Frauenfeld züchten Erwachsene und Kinder ihr eigenes Saatgut, um von der Agrarindustrie unabhängig zu sein. Wir zeigen, wie die Samengewinnung geht.
Die Selbstversorgung mit gesunden, frischen Lebensmitteln ist von existenzieller, sozialer und politischer Bedeutung. Wer unabhängig Pflanzen anbauen will, braucht deshalb eigenes Saatgut. In der europäischen Landwirtschaft werden jedoch immer weniger unterschiedliche Pflanzen angebaut. Viele traditionelle Sorten gehen verloren oder werden nur noch in Samenbanken für die Nachwelt aufbewahrt. Gleichzeitig sind die grossen Saatgut-Multis dazu übergegangen, Samen zu züchten, die bezüglich Grösse und Geschmack gleichförmige Pflanzen hervorbringen, die möglichst alle gleichzeitig reif sind und maschinell optimal geerntet werden können. Die Krux: Die Samen sind teilweise steril oder bringen als Pflanze andere Merkmale hervor, sind also nicht sortenecht; es entsteht eine Abhängigkeit vom Lieferanten. Wer selber Saatgut gewinnen will, braucht Samen, die die positiven und erwünschten Eigenschaften der Eltern fortpflanzen.
Yuna und Luan sitzen auf dem Zwetschgenbaum und machen eine kleine Pause. Genug genascht! Gerade geht keine einzige grasgrüne Zuckererbse mehr in ihre Bäuche. Also ab zum Klettern und in luftiger Höhe das süsse Grünzeug verdauen. So sind Kinder. Sie hören auf ihren Bauch und wenn er Stopp sagt, verkrümeln sie sich. Erwachsene haben es nicht mehr so einfach. An diesem Nachmittag Ende Juni will das Grüppchen von fünf Gärtnerinnen und einem Gärtner hier im Klösterli-Garten in Frauenfeld entscheiden, welche 20 bis 30 Zuckererbsenpflanzen ihnen die Samen für die Gartensaison 2021 liefern werden. Das gibt einiges zu tun. Und zu probieren.
Die Garten-Leute gehören zum Projekt Offenes Gärtnern in Frauenfeld, genannt ogif, und bewirtschaften einige Hundert Meter vom Klösterli entfernt gemeinschaftlich 400 Quadratmeter Land. 2018 hat ein Teil des ogif mit der Saatgutzucht begonnen, angeregt und unterstützt durch Robert Zollinger, einem Pionier in Sachen Samenzucht. Zusammen mit seiner Frau Christine gründete der Gärtner und Pflanzensoziologe vor rund 30 Jahren im Wallis einen biologischen Saatzuchtbetrieb, mit dem Ziel, die Sortenvielfalt in den Schweizer Gärten zu erhalten und Gegensteuer zu geben zur modernen Hybridzüchtung der Agrarindustrie (siehe Box). Heute leitet Zollinger Gemeinschaftsgärten in der ganzen Schweiz an, auf professionellem Niveau eigene Samen zu gewinnen, ein Projekt, das vom Bundesamt für Landwirtschaft unterstützt wird.
Sie wollen selber Samen gewinnen? Lesen Sie hier wie es geht!
Woher kommen die Samen?
Als Zollinger 2017 im ogif die Samen-
gemeinschaftszucht (Sagezu) vorstellte, kam er im exakt richtigen Moment. Ogif-Präsidentin Fiona Käppeli, Mutter von Yuna und Luan und Lehrerin an einer Primarschule, hatte mit ihren Fünftklässlerinnen und Fünftklässlern im Schülergarten gerade einen kompletten Pflanzenzyklus durchlebt: Im Frühling Samen in die Erde gesteckt, Sprösslinge ausgedünnt, die wachsenden Pflänzchen gehegt, gepflegt, gedüngt. Den Garten in trockenen Sommerwochen gegossen, schliesslich geerntet, das Gemüse gegessen und dabei über Werden und Sterben der Pflanzen gesprochen, bis ein Schüler sagte: «Scho guet, Frau Käppeli, aber woher kommen die Samen?» Der Lehrerin war klar, dass «aus der Migros» oder «von der Gärtnerei» nicht war, was der Junge wissen wollte. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass es eigenes Saatgut braucht, um den Pflanzenkreislauf zu schliessen.
Deshalb sagte Fiona Käppeli Zollinger spontan zu. Ein paar weitere Gemeinschaftsgärtnerinnen liessen sich ebenfalls begeistern und erhielten von der katholischen Kirche im Klösterli kostenlos ein Stück Land, das etwas abseits von anderen Gemüsegärten liegt und damit ideal ist für die Samenzucht, weil sich fremdbefruchtende Pflanzen untereinander kreuzen können und sich damit das Saatgut verändert. In einem ersten Schritt wählte die Gruppe drei Arten aus, die sie vermehren wollte: Andenbeeren, Snackgurken und Zuckererbsen. «In unserem Gemeinschaftsgarten gärtnern viele Familien. Wir wünschten uns deshalb Gemüse und Beeren, welche die Kinder direkt vom Strauch essen können», sagt Fiona Käppeli.
Zwei Jahre später hat sich die Samengemeinschaftszucht zu einem Vorzeigeprojekt entwickelt. Zwischen den Nutzpflanzen blühen Wildblumen – Mohn, Schafgarbe, Kornblumen. Üppig und in zwei Reihen ranken die Zuckererbsen der Sorte Sultan am Maschendraht hoch. Mehrere hundert Pflanzen sind es und auf den ersten Blick sehen alle gesund und kräftig aus; manche Hülsen sind bereits so prall gefüllt, dass sich darunter die kugelrunden Erbsen abzeichnen. Robert Zollinger erklärt, was zu tun ist: «Zuerst laufen wir einfach mal durch das Beet, schauen uns die Pflanzen an, nehmen Kontakt mit ihnen auf und lernen sie kennen. Man könnte auch sagen, wir sprechen mit ihnen», sagt er mit einem Augenzwinkern.
Wer gewinnt?
Vorsichtig, aufmerksam und ohne Eile betreten die Gärtnerinnen das Beet, stecken hier und da eine Erbse in den Mund, freuen sich über das lustige Knacken der Schmetterlingsblütler, rühmen ihre Süsse und ihren Geschmack. Auch Zollinger lobt, dass er so schöne Bestände noch selten angetroffen habe und verteilt jetzt orange Plastikbändel, mit denen alle kümmerlich kleinen, schwachen oder kranken Pflanzen etikettiert werden. Darauf erhalten die rund 40 schönsten, kräftigsten und gesündesten Pflanzen eine gelbe Etikette. Die Degustation kann beginnen. Zollinger steht mit Papier, Klemmbrett und Stift parat.
Es ist wie bei einer Weindegustation. Die ersten paar Proben unterscheiden sich noch voneinander, Nr. 2. ist etwas fader als Nr. 1 und Nr. 3, Nr. 4 sogar etwas bitter. Danach wird es immer schwieriger, die Geschmacksnuancen zu unterscheiden und Fiona stellt fest, dass sie die «grossen Bömber» am besten findet; Yuna und Luan nicken zustimmend. Ab Nr. 11 stellt sich bei den Teilnehmerinnen eine gewisse Sattheit ein; die Kinder sind längst auf den Baum geklettert. Bei Nr. 22 beschliesst die Gruppe, die Degustation an einem der nächsten Tage fortzusetzen, weil Erbse nur noch wie Erbse schmeckt, und erst die Siegerpflanzen zu wählen, die weiter gezüchtet werden, wenn sich im Gaumen wieder eine gewisse Objektivität eingestellt hat. Einig ist man sich allerdings bereits mit dem Namen, den die neue Zucht erhalten wird: Sultan aus dem Klösterli.
Manche Samen können direkt aus der Frucht geerntet werden, wie zum Beispiel Erbsen, Bohnen, Tomaten, Zucchini, Gurken oder Kürbisse.
Diese Früchte müssen allerdings länger reifen, als wenn sie zum Verzehr geerntet werden. Noch länger dauert es beim Blattgemüse, wie etwa Mangold, Rucola, Grün- oder Rotkohl. Da wir diese Gemüse ernten, bevor sie blühen, Früchte und Samen tragen, sind diese Vegetationsstadien meist gar nicht bekannt. Sie müssen also stehen gelassen werden, bis sich Samen bilden. Auch hier sollten die Samen gut ausreifen, aber noch geerntet werden, bevor sie von selbst herunterfallen.
Unterschieden wird zwischen ein- und zweijährigen Sorten. Einjährige Pflanzen überdauern nur eine Vegetationsperiode. Das heisst, sie keimen im Frühjahr, wachsen und blühen über den Sommer, tragen Samen und sterben im Herbst ab.
Zweijährige Pflanzen hingegen keimen im Frühling oder im Herbst, überwintern und blühen erst im Folgejahr. Sind ihre Samen ausgereift, sterben auch sie ab.
Einjährige Pflanzen
Blumenkohl, Bohnen, Broccoli, Erbsen, Kopfsalat, Kürbis, Peperoni, Radieschen, Rucola, Spinat, Tomaten, Zucchini, Zuckermais.
Zweijährige Pflanzen
Chinakohl, Fenchel, Krautstiel, Sellerie, Lauch, Rüebli, Pastinaken, Schwarzwurzeln, Randen, Kohl, Zwiebeln.
So gewinnen Sie Samen
Busch-, Stangen- oder Feuerbohnen
In mehreren Etappen die trockenen Hülsen ablesen, mit einem Stock dreschen oder von Hand auskernen. Nur gesunde Bohnen verwenden; diese glänzen und haben keine Verfärbungen oder Runzeln.
Erbsen und Kefen
Hülsen an den Stauden ausreifen lassen. Nach dem Ablesen nachtrocknen lassen, dann dreschen oder von Hand auskernen.
Kopfsalat
Nach der Kopfbildung so lange weiter wachsen lassen, bis er blüht. Die untersten Blätter entfernen. Während und nach der Blüte vor Regen schützen, da die Samen sonst schimmeln. Nach der Blüte braucht es keine Bewässerung mehr, da der Salat mit seiner tiefen Pfahlwurzel genug Feuchtigkeit aufnimmt. Die ganzen Samenstände an einem trockenen Ort auf ein Tuch ausbreiten und nachtrocknen lassen. Dreschen und danach sorgfältig durch ein Sieb reiben, damit die Samen unten herausfallen. Mit dem Föhn oder durch Blasen die leichte Spreu vom schweren Samen trennen.
Tomate
Die voll ausgereiften Tomaten aufschneiden und das samenhaltige Fruchtfleisch mit Wasser und einer Prise Zucker in einem Schraubglas ein bis zwei Tage vergären, bis die Samen auf den Boden sinken. Vorsicht: Das Glas keinesfalls dicht abschliessen, da Druck aufgebaut wird. Täglich mehrmals umrühren, um Sauerstoff zuzuführen. Danach in einem feinen Sieb abspülen und die Samen mit Küchenpapier trocken tupfen. Die Samen in einen Kaffeefilter geben und zum Trocknen aufhängen. Darauf achten, dass die Samen nicht zusammenklumpen.
Spinat
Männliche (gelbliche) und weibliche (dunklere) Pflanzen aufstengeln lassen. Ernten, bevor die Samen ausfallen. Auf einem Tuch nachtrocknen und in einem Sack dreschen.
Vorsicht mit Kürbis, Gurke und Zucchini
Kürbisgewächse lassen sich einfach vermehren: Kerne abspülen, trocknen, fertig. Wer allerdings keine sortenechten Samen verwendet, sondern solche von Hybrid-Pflanzen, läuft Gefahr, dass die Ernte im nächsten Jahr den Bitterstoff Cucurbitacin enthält. Dieser wurde aus den Speisekürbissorten herausgezüchtet, kann aber bei einer Weiterzucht wieder auftreten. Cucurbitacin ist extrem giftig, verursacht Übelkeit und Durchfall und kann sogar zum Tod führen. Schmecken also Zucchini, Kürbisse oder Gurken giftig bitter, nicht essen!
Veronica Bonilla wollte früher Fallschirmspringerin werden. Seit sie den freien Fall bei der Geburt ihrer Kinder erlebt hat, hat sich dieser Wunsch in Luft aufgelöst. Übergänge und Grenzerfahrungen faszinieren sie bis heute. Dabei liebt sie es, um die Ecke zu denken und sich davon überraschen zu lassen, was dort auftaucht. Und stellt immer wieder fest, dass ihr Herz ganz laut für die Kinder schlägt. Sie war bis 2022 auf der Redaktion fest angestellt, seither als Freie für das Magazin tätig.