Kindheit
Rettet die Kindheit
Kennen Sie Nirvana? Dann kennen Sie vielleicht auch Dave Grohl, den Ex-Schlagzeuger der Band, Multiinstrumentalisten und heutigen Frontmann der Foo Fighters? Ohne Zweifel: ein musikalisches Genie. In einem Interview hat dieser Dave Grohl kürzlich erzählt, wie er sich als Kind das Schlagzeugspielen beigebracht hat: «Ich habe auf mein Kopfkissen getrommelt. Denn meine Eltern konnten sich ein Drumkit nicht leisten.» Während er sein Kissen malträtierte, habe er sich Platten von seinen Lieblingsbands angehört; diese hiessen «Bad Brains» oder «Dead Kennedys » – nicht unbedingt die Art von Musik, die man sich zur Yoga-Stunde auflegt. Doch Dave Grohl vertiefte sich auf seine Weise; allein im Zimmer imitierte er stundenlang seine Idole, spielte jeden Takt des Schlagzeugs nach – bis zur Perfektion. Viel «Gescheiteres» tat er nicht. Und so brach Grohl früh die Schule ab, verdingte sich als Lagerarbeiter, spielte in miesen Garagenbands und landete irgendwann in den späten Achtzigerjahren bei Nirvana. Der Rest ist Musikgeschichte.
Wird Kindheit abgeschafft?
Warum ich Ihnen dies alles erzähle? Nun, es ist die klassische Geschichte einer Tellerwäscherkarriere. So was hört man immer gern. Viel interessanter ist allerdings ein anderer Aspekt. Nämlich die Frage: Was würde wohl aus Dave Grohl heute werden? Nehmen wir an: Seine Mutter würde jeden Abend mitanhören und –sehen müssen, wie ihr Sonnenschein zur Musik der «kranken Hirne» sein Kopfkissen traktiert. Ihr würden doch sämtliche Alarmglocken schrillen! Und dann würde sie ihr Kind entweder mit Verdacht auf eine Hyperaktivitätsstörung psychiatrisch abklären lassen. Oder – ebenfalls gut denkbar – sie würde ihren Sohn unter den Arm klemmen und ihn montags, mittwochs und samstags in einen Förderkurs für Kinder mit besonderer rhythmischer Begabung stecken. Und schon sind wir im Spannungsfeld, in dem unsere Kinder heutzutage aufwachsen: irgendwo zwischen Panikmache und Förderwahn. Kindheit zerrieben zwischen zwei Polen, zwischen Zwölfjährigen, die in Autositzen festgezurrt werden und englischsprechenden Dreijährigen. Wo sind sie bloss hin, die blutverschmierten Knie, die von Langweile triefenden Mittwochnachmittage und die Räuber- und Poli spielenden Kinderbanden, die durchs Quartier rasten? Ist das schöne Konzept von der unbeschwerten Kindheit etwa gescheitert?
Wirft man einen Blick auf die zahlreichen Buch-Neuerscheinungen rund um das Thema Kinder, machen sich die schlimmsten Befürchtungen breit: «Entdecken Sie mit Ihren Kindern den Wald», wird da etwa der jungen Elternschaft geraten. So weit ist es mit uns also schon gekommen; man erklärt uns, dass Kinder Natur brauchen. Fragt man hingegen bei Experten nach, muss man sich belehren lassen: Die unbeschwerte Kindheit hat gar nie existiert, schon gar nicht früher. In der vorindustriellen Zeit wurde ein Kind oft als Last empfunden. Um die Verhütung war es zu jener Zeit schlecht bestellt. Und so war ein Kind nicht selten der Kollateralschaden einer leidenschaftlichen Nacht. Gerade für unverheiratete Frauen hatte ein solcher «Unfall» enorme gesellschaftliche Konsequenzen.
Oder regiert die Nostalgie?
Ihr Ruf war ruiniert – und mit ihr wurde auch das Kind stigmatisiert und an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Natürlich hatten Kinder damals auch einen Wert – vor allem aber einen ökonomischen: Sie legten auf dem Bauernhof Hand an oder waren wichtige Hilfskräfte in handwerklichen Familienbetrieben. «Es war ein faires Geben und Nehmen», sagt Heidi Simoni vom Marie Meierhofer Institut für das Kind. «Die Kinder hatten ein Dach über dem Kopf, bekamen zu Essen und erhielten, wenn nötig, medizinische Betreuung. Im Gegenzug sicherten sie das Überleben des Betriebs und sorgten für ihre Eltern, wenn diese alt wurden.»
Nicht viel besser erging es dem Nachwuchs der Aristokraten. Kinder wurden in Adelsfamilien bis zum 18.Jahrhundert eher als lästige Bälger empfunden – für nichts Besonderes nütze und auch nicht wirklich liebenswert. Ziemlich zackig wurden sie deshalb nach der Geburt einer Amme anvertraut, die mühselige Fütterung und Betreuung wurde «outgesourcet», um sich den netteren, oder zumindest wichtigeren Dingen des Lebens zu widmen. Nicht selten wuchsen Kinder aus bestem Haus in richtigen Drecklöchern heran. Ein Umdenken fand erst im späten 18. Jahrhundert statt, als sich grosse Denker wie Jean-Jacques Rousseau der Angelegenheit Familie annahmen, insbesondere um der hohen Kindersterblichkeit aufgrund der oft miserablen hygienischen Verhältnisse entgegenzuwirken. Er forderte die Mütter dazu auf, ihre Kinder doch bitte fortan selber zu stillen. Und siehe da: Es funktionierte. Auch, weil die Mütter im neuen Modell eine Chance sahen, ihr Image und ihre Stellung zu verbessern. Fortan standen sie im Zentrum der Familie. Immerhin.
Eltern spielen Bodyguard
Heute stehen dort die Kinder. Sie sind die Sonne, um die sich alles dreht im Familiensystem. Englischsprachige Psychologen haben dafür den Begriff «Helikopter-Erziehung » kreiert. Was im Grunde nichts anderes bedeutet, als dass sich Kindheit unter den Argusaugen der Eltern abspielt. Es gibt kaum eine Minute am Tag, in denen Mütter und Väter nicht genau wissen, wo sich ihr Nachwuchs gerade aufhält, was er tut und mit wem er sich abgibt. Wie kam es zu diesem Kind zentrierten Blick in unserer Gesellschaft? Der Entwicklungsspezialist Remo Largo erklärt: «Heute, vierzig Jahre nach Erfindung der Antibabypille, sind rund 80 Prozent der Kinder Wunschkinder. Kommt hinzu, dass diese Kinder – bei einer durchschnittlichen Geburtenrate von 1,4 Kindern pro Frau – mehrheitlich als Einzelkinder aufwachsen.» Kaum erstaunlich also dass unsere Kinder zur gut gehüteten Investition werden. Auf eine Rarität muss man schliesslich gut aufpassen. Nur: Wie gut ist gut genug? Und wie weit dürfen wir es mit unserer Sorge letztlich treiben, ohne dass wir den Kindern damit schaden?
Beziehungsweise: Realisieren wir überhaupt noch, wenn wir unseren Kindern schaden? So berichten Eltern, die mit ihren Kindern den gymnasialen Prüfungskampf ausfechten, dass sie zu regelrechten Generälen im Kinderzimmer mutieren. Am Ende eines Schultags operieren sie nur noch mit Sätzen, wie: «Hast du die Hausaufgaben schon gemacht?» – «Wann ist nun die Mathe-Prüfung?» und «Solltest du nicht langsam deinen Vortrag vorbereiten?» Zweifellos, gut gemeint. Doch wissen wir in dieser Zeit überhaupt noch wie es unseren Kindern geht, was sie antreibt, was ihnen Angst macht oder was sie freut? Gut gemeint ist es natürlich auch, wenn wir den Bodyguard auf dem Schulweg für unsere Kinder spielen. Aber haben wir etwa vergessen, wie toll es doch war bei Herrn Huber, Frau Meier und den Geissmanns das «Lüütispiel» auf dem Heimweg zu spielen? Gut gemeint ist es auch, wenn wir das Trottinettfahren auf Nebenstrassen verbieten, schliesslich wollen wir damit Verkehrsunfälle verhindern.
Wie viel Sorge ist zu viel?
Nur, haben wir dabei bedacht, dass ohnehin schon viele unserer Kinder an einem massiven Bewegungsdefizit leiden? Und wann, wenn nicht jetzt, sollen sie lernen, sich im Verkehr zu bewegen; vielleicht wenn sie achtzehn sind und über die Autobahn brausen? In guter Absicht haben wir auch erwirkt, dass Spielplätze mit Gummibelägen, Babyrutschen und Minischaukeln ausgestattet wurden – garantiert verletzungsfrei. Nur noch eine Frage der Zeit, in der solche Spielparks mit meterhohen Zäunen eingegrenzt werden, um die totale Kontrolle zu erlangen – wie es in den USA schon lange gang und gäbe ist. Dass diese Spielghettos, aber nicht unbedingt dazu dienen, die Fantasie unserer Kleinsten anzuregen, haben wir dabei nicht einkalkuliert. Letztlich wollen wir sicher nur das Beste, wenn wir uns in Sachen Erziehung Rat in der Fachliteratur holen. Ratlos können wir also nicht sein, aber trauen wir uns noch etwas zu? Und: Wie viel trauen wir eigentlich unseren Kindern noch zu?
Dass sich Eltern um das Wohlergehen ihrer Kinder sorgen, ist nicht neu. Neu ist hingegen die elterliche Hilflosigkeit. «Eltern konnten lange Zeit auf ein Erfahrungswissen zurückgreifen, was Erziehung und den Umgang mit Ängsten betrifft», sagt Heidi Simoni vom Marie Meierhofer Institut für das Kind. «Frage ich heute die Studierenden der ersten Semester in Entwicklungspsychologie, wer schon Mal einen Säugling auf dem Arm gehalten hat, gehen nur noch die Hälfte der Hände hoch.» Wir wissen also einfach nicht mehr, wie es geht und werden deshalb panisch? «Das auch», meint Heidi Simoni, «zugleich haben sich aber auch unsere Erwartungen, Hoffnungen und Ängste verändert. Heute steht nicht mehr im Zentrum der Wunsch, dass es unseren Kindern später einmal gut oder besser als uns gehen soll. Vielmehr betrachten wir unsere Kinder als unser Projekt, als Sinnstifter für unser eigenes Glück und natürlich auch als künftigen Leistungsnachweis unseres Einsatzes.»
Durchschnitt? Gibts nicht!
Fehlgeleiteter Ehrgeiz nennt man das. Ein elterlicher Bewusstseinszustand, der auch mich – aller Vorbehalte gegenüber Frühförderung zum Trotz – heimsuchte. Fies und durchaus hinterhältig heftete er sich am ersten Kindergarten-Standortgespräch an meine Fersen und blieb dort wie ein ekliger Kaugummi kleben. Was für ein wahnsinnig liebes Kind mein Sohn doch sei und so voller Fantasie, gab die Kindergärtnerin zum Besten und fügte abschliessend hinzu, dass er sich vollkommen durchschnittlich entwickeln würde. «Durchschnittlich?», schrillte mein inneres Alarmsystem, ich bewahrte aber selbstverständlich Haltung und setzte ein Lächeln auf. Durchschnitt ist Mittelmass. Und mittelmässig sind nur Looser, hallte es in meinem Kopf. Das eigene Kind soll bitteschön zu den Gewinnern gehören, wenn nicht sogar zur exklusiven Gilde der Hochbegabten. So sass also auch ich in der Falle: Hätte ich doch meinen Sohn damals zur Frührhythmik geschickt oder ins Frühenglisch verfrachtet, dachte ich, aber nein, nicht einmal zum Babyschwimmen konnte ich mich durchringen. Nun bekam ich eben die Quittung für mein fahrlässiges Verhalten.
Wenn man bedenkt, dass ab der dritten Primarschulklasse pro Jahr und Klasse durchschnittlich 40 bis 60 Prüfungen geschrieben werden, scheint der Druck, der auf elterlichen Schultern lastet, durchaus verständlich. Wer kann uns verübeln, dass wir nicht wollen, dass unsere Kinder untergehen? Schliesslich warten Tausende von «hungrigen» Nachwuchskräften aus China und Indien nur darauf, den Platz unserer gesättigten und verwöhnten Kinder einzunehmen. «Niemand», sagt Remo Largo. «Nur sollten die Eltern dabei unbedingt ihre eigenen Erwartungen hinterfragen. Denn es ist eine pure Anmassung zu glauben, man könne sein Kind nach den eigenen Wünschen und Vorstellungen formen. Kinder werden im besten Fall das, was in ihrem Wesen ohnehin schon angelegt ist – verbiegt man sie, führt das letztlich nur zur Unzufriedenheit auf beiden Seiten.» Wir sollten uns auch bewusst werden, was es heisst, unsere Kinder für die Zukunft fit zu machen. In der Schweiz sind 70 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Dienstleistungssektor tätig. Es braucht also offensichtlich Menschen, die sozial kompetent sind und gut kommunizieren können. Erreichen wir das wirklich, in dem unsere Kinder in einer Welt aufwachsen, die von uns Erwachsenen organisiert, strukturiert und überwacht wird – in der sie nicht viel mehr sind als Marionetten, die am elterlichen Fadenkreuz baumeln? Oder erreichen wir es, in dem wir ihnen ein Stück Selbstbestimmung zurückgeben? Die Mittwochnachmittage etwa, an denen sie vor Langeweile zu sterben drohen, sich dann aber aufraffen und «Gspändlis» aus dem Quartier zum Spielen mobilisieren, sich über die nachmittägliche Beschäftigung zuerst streiten – soll es Fussball oder «Versteckis» sein – sich einigen und letztlich die Regeln für das Spiel selber bestimmen.
Ein besseres Lernumfeld ist bis heute nicht erfunden worden. Klar aber ist: Wenn wir unseren Kindern nicht mehr die Möglichkeit geben, Abenteuer zu erleben, werden sie später wahrscheinlich am Abenteuer Leben scheitern.
Kinder an der Leine
Streifradius
Nach einem Report des «Childrens Play Council» war der Streifradius von Kindern zwischen sechs und zehn Jahren in den 70er-Jahren fünf Mal grösser als heute.
Mobilität
Rund 10 % der Schüler werden laut einer Studie des Verkehrsclubs der Schweiz (VCS) in die Schule gefahren. Tendenz steigend.
Elterliche Präsenz
Eine Studie der University of Essex belegt, dass sich die Zeit, die für die Kindererziehung aufgewendet wird, bei Männern seit 1961 vervierfacht, bei den Frauen verdoppelt hat. Und das obwohl Eltern heute deutlich mehr arbeiten.
Nachhilfestunden
63 % der Schweizer Schülerinnen und Schüler besuchen in ihrer Schulzeit Nachhilfeunterricht, wie 2008 die Universität Bern erhob.
Motorische Fähigkeiten
Kindergärtnerinnen klagen, dass Kinder zwischen vier und sechs Jahren motorische Fähigkeiten in alltäglichen Belangen, wie Schuhe selber binden, Reissverschluss schliessen oder T-Shirt selber ausziehen, verlieren.
Verkürzung Schulzeit
Mitte der 90er-Jahre beschloss eine Mehrzahl der Kantone eine Verkürzung der Schulzeit bis zur Matura von 13 auf 12 Jahre – dies bei gleichbleibender und mittlerweile erhöhter Stundenzahl.
Ängste
Am häufigsten leiden Schweizer Kinder und Jugendliche an Angststörungen. Rund 10 % eines Jahrgangs sind davon betroffen. Dies belegt eine Studie zur Kinder- und Jugendpsychiatrischen Versorgung.