Inklusion
Lehrerin mit Beeinträchtigung
In Zürich werden Menschen mit Behinderungen zu Schulpersonal ausgebildet. Eine davon ist Rahel Heuberger. Wir haben sie im Klassenzimmer begleitet.
Ich wünsche dir einen guten Morgen, einen schönen Tag», singt die Kindergartenklasse von Nicole Hecht an diesem Herbstmorgen. Die Kinder wirken noch etwas verschlafen, gähnen und rutschen auf den kleinen Stühlen hin und her. Mit den Kindern im Kreis sitzen heute Nicole Hecht, die Kindergartenlehrperson und Rahel Heuberger. Rahel Heuberger assistiert Nicole bis zu den Herbstferien in der Schule Waidhalde in Zürich. Die 38-Jährige ist Studentin und lebt mit mehreren unsichtbaren Behinderungen. «Lasst uns alle Wochentage aufsagen», instruiert Nicole die Kindergartenkinder. Alle Kinder und Erwachsenen zählen die Tage auf. «Lasst uns auch grad die Kinder zählen», sagt Rahel, alle zählen zusammen bis achtzehn. Einige Kinder schauen fragend zur Kindergärtnerin: «Ja, eigentlich wären wir neunzehn, aber ein Kind ist heute krank», erwidert die Lehrerin und kündigt an, dass Rahel heute etwas Besonderes mitgebracht habe. Die Kinder schauen gespannt zu Rahel, die einen kleinen Tisch aufbaut, ein Tuch darüberlegt und Herbstblätter darauf ausbreitet. «Häää, was machst du da?», ruft ein Kind dazwischen, «Zaubereiiii», sagt Rahel und lacht. Dann nimmt sie ein Buch mit grossen Bildern hervor und beginnt, den Kindern eine Bildergeschichte zu erzählen: «Ein Bär sitzt gemütlich auf dem Bänkli und wartet auf seinen Freund Goliath, doch der kommt und kommt nicht, ein ganzes Jahr nicht.»
Schwierige eigene Schulzeit
Rahel Heuberger ist Teil des Projekts «écolsiv» am Seminar Unterstrass in Zürich, hier absolviert sie mit anderen Menschen mit Behinderungen den Lehrgang zur Assistenz mit pädagogischem Profil. Seit 2017 bietet das Seminar dieses Hochschulprogramm an und schafft dadurch Menschen einen Zugang zu Bildung im tertiären Bereich, die sonst diese Chance nicht hätten. Rahel wurde mit einer Schwerhörigkeit und unentdeckten Polypen im Ohr geboren. Es folgten zwei Operationen: «Ich war als Kind einmal hörend, dann nicht hörend, dann wieder hörend, diese Erfahrung hat mich sicher sehr geprägt, bis heute bin ich zum Beispiel sehr schreckhaft.»
Rahel absolvierte die Primarschule noch in der Regelschule, aufgrund ihrer Schulleistungen besuchte sie dann aber die Oberstufe in einer Sonderschule. Es folgten Praktika und eine Ausbildung mit Unterstützung der Invaliditätsversicherung (IV). Die Anforderungen seien jedoch zu hoch gewesen. Rahel blickt zurück: «Ich habe mich stets sehr bemüht und war sehr ehrgeizig, trotzdem habe ich nie gute Noten erreicht und mich dadurch immer mehr als Versagerin gefühlt. Ich hatte zum Beispiel grosse Mühe mit dem Rechnen und Schreiben, erst später wurde klar, dass ich eine Dyskalkulie und Legasthenie habe.» Schlussendlich brach Rahel zusammen, es folgten ein Klinikaufenthalt und viele Krisen. «Meine Eltern haben mich damals und auch heute noch sehr unterstützt, die Familie ist mir sehr wichtig», sagt Rahel. Im Erwachsenenalter arbeitete sie mehrere Jahre im geschützten Arbeitsbereich, bis sie durch eine Freundin und ihren Vater zum Seminar Unterstrass kam: «Eigentlich war ich schon an der oberen Altersgrenze für die Ausbildung – ich bin heute 38 Jahre alt – doch der Schulleiter drückte ein Auge zu.»
Nicole Hecht, Kindergartenlehrerin
Nicole fragt die Kinder: «Habt ihr auch schon mal wie der Bär ein ganzes Jahr auf etwas gewartet?» Ein Junge erzählt, dass er sehr lange auf eine Verwandte warten musste, die reisen war. «Auf den Geburtstag müsst ihr jeweils auch ein ganzes Jahr warten», erklärt die Lehrerin. Jetzt machen wir aber erst mal Pause.» Die Kinder rennen in die Garderobe und holen ihre Rucksäcke in den Kreis, packen ihr Essen aus. Rahel unterstützt einige Kinder dabei.
Die Kindergärtnerin sagt, sie habe bereits früher mit Klassenassistenzen gearbeitet und immer sehr gute Teams erlebt. Mit Rahel spüre sie aber noch mehr Entlastung, da sie Kenntnisse aus dem Studium habe und Unterrichtssequenzen übernehme, das machen Klassenassistenzen sonst nicht. Nicole verschaffe Rahels Arbeit mehr Zeit, um sich gerade auch den neuen Kindern zu widmen, zum Schulanfang sei das sehr wichtig und oft fehle dazu die Zeit: «Ich kann nicht nachvollziehen, dass Menschen mit so vielen Fähigkeiten wie Rahel von der IV abhängig sein müssen. Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels müssten doch viel mehr Menschen mit Behinderungen oder Lernschwierigkeiten so ausgebildet werden», sagt Nicole Hecht.
Keine Untersützung von der IV
Matthias Gubler ist der Institutsleiter des Seminars Unterstrass und hat das Projekt «écolsiv» ins Leben gerufen. Er erklärt: «Unsere Voraussetzungen für eine Aufnahme sind eigentlich eine positive Diskriminierung. Die Studierenden müssen eine Lernbehinderung oder kognitive Behinderung haben, wir verlangen dennoch keine Diagnoseberichte oder Bestätigungen.» Idealerweise würden die Studierenden eine IV-Rente beziehen, denn zum aktuellen Zeitpunkt könne er noch nicht garantieren, dass die Abgänger:innen alle genug verdienen werden für ihren Lebensunterhalt, der Weg zur gelebten Inklusion sei ein harziger. Auch die Finanzierung der Ausbildung ist immer wieder ein Kampf. Es gibt dafür keine Unterstützung der IV. «écolsiv» wird daher querfinanziert von Schulgeldern des Seminars und durch Spenden. «Bevor wir Studierende aufnehmen, müssen diese sicherlich schnuppern und sich ihres Wunsches, mit Kindern zu arbeiten, sehr sicher sein.» Er höre oft die Frage: «Aber wie können den Menschen mit kognitiven Behinderungen in der Schule mithelfen? Geht das denn?», er antworte dann immer dasselbe: «Einfach machen, es geht.» Auch mit Studierenden, die nicht so viele Ressourcen haben wie Rahel.
Lehrgang Stufe Primar
Rahel wohnt allein in einer Wohnung. Eine Sozialarbeiterin hilft ihr mit den Büroarbeiten. Das Studium sei anspruchsvoll, aber dadurch, dass sie sehr unterstützt werde durch die Dozierenden und ihre Tutorin beim Lernstoff zudem sehr motiviert sei, falle ihr das Lernen leichter. Im Praktikum im Kindergarten sieht sie aber auch Herausforderungen: «Ich bin nicht so die Spielerin und ich singe nicht sehr gerne, im Kindergarten ist das aber wichtig. Ich begleite die Kinder am liebsten in kreativen Aufgaben wie heute mit dem Weben oder Malen.» Sie mache den Lehrgang auf der Stufe Primar, auch weil sie später mit grösseren Kindern, am liebsten mit Jugendlichen arbeiten möchte. Sie liebe aber die Begeisterungsfähigkeit der Kleinen im Kindergarten Waidhalde: «Wenn alle mit einem Lächeln heimgehen, bin ich auch glücklich», sagt sie.
«Ich habe Hunger», sagt ein Kind, ein anderes möchte heimgehen und nicht mehr spielen, es beginnt zu weinen. Es ist beinahe 12 Uhr mittags. Rahel begleitet einige Kinder in die Garderobe, hilft beim Packen der Rucksäcke, leitet beim Anziehen an und schlichtet einen Streit zwischen zwei Jungs. Die Kinder stellen sich in einer Reihe auf und verabschieden sich bei der Lehrperson und Rahel. «Tschüss, liebe Kinder», sagt Rahel im lauten Gewusel und beginnt danach das Klassenzimmer aufzuräumen. Heute Nachmittag gehe es dann nur mit den grossen Kindergärtnern weiter, sagt sie: «Und morgen ist Dienstag, da habe ich am Nachmittag frei und lerne. Aber erst gehe ich dann im Wald spazieren, das hilft mir am besten beim Verarbeiten.»