Intelligenz
Normal hochbegabt
Sechs Monate alt war Michael Kearney, als er seinen Kinderarzt mit dem Satz «I have a left ear infection» von seinen Ohrenschmerzen in Kenntnis setzte. Ob der verstörte Kinderarzt den Säugling daraufhin fallen liess, einen Exorzisten herbeirief – oder das Guinessbuch der Rekorde anrief, ist nicht überliefert. Während andere Babys in dem Alter brr, grr und blpp glucksen, plauderte Michael in korrekten Sätzen, buchstabierte zwei Monate später Texte von Werbeplakaten und griff dann auch bald zum Buch, um ein wenig zu lesen, während ihn seine Mutter im Kinderwagen umherschob. Michael Kearney, geboren 1984 in Honolulu, machte mit 10 Jahren seinen Abschluss an der University of Alabama und lehrt heute Biochemie in Tennessee.
Die schlausten zwei Prozent
Ein Wunderkind. Hochbegabt. Mittelpunkt eines Riesenhypes.
Recht «normal» plätschert dagegen so ein Morgen in der Zürcher «Talenta» dahin. Zwar lernen an Europas erster Primarschule für hochbegabte Kinder Buben und Mädchen, die mindestens einen Intelligenzquotienten von 130 nachweisen müssen. Sie gehören damit zu den schlausten zwei Prozent der Gesellschaft. Aber vor allem lernen an dieser Schule Kinder.
Auf dem Schulhof kreischen die Jüngsten beim Fangis. Einer heult, weil gefangen zu werden ja irgendwie immer blöd ist. Zwei kicken mit dem Fussball, leider auch gegen das Auto der Autorin. Und ein paar Mädchen stecken die Köpfe zusammen und kichern, wie es weltweit Mädchen in dem Alter so tun.
Pausenalltag. Keine Ballung dicker Brillen, niemand trägt eine Abhandlung über «Euklidische Pfadintegralformulierung» unter dem Arm. Und obwohl die «Talenta» eine Privatschule ist, springen einen nicht mehr Tommy Hilfiger- und Abercrombie- Logos an als in manchen öffentlichen Zürcher Schulen auch.
Erstaunlich, wie viele Klischees über Schlaumeier sogar in Köpfen spuken, die selber leidlich schlau sind. Die Mythen reichen von der Ansicht, Hochbegabte seien fiese kleine Streber und sozial isolierte arme Tröpfe, über den Verdacht, Gezücht überambitionierter Eltern zu sein, bis hin zur neidischen Vermutung, den mit mehr Grips Gesegneten flögen die Sechser nur so zu.
«Das alles ist reiner Unfug», sagt Xaver Heer (56), Leiter der «Talenta» und Vater eines Sohnes, der mit 15 seine Matura hingelegt hat. «Unsere Schüler haben – wie jedes Kind – schlicht den Wunsch, dass ihre Bedürfnisse gesehen und sie ihren Fähigkeiten entsprechend gefördert werden.» Leider klappe das in den «normalen» – an der Norm orientierten – Klassen häufig nicht.
Okay, Stützunterricht für die Schwachen gibt es. Das findet jeder richtig. Aber Begabungsförderung für die Besten? Muss das sein? Ist das nicht ein bisschen elitär?
Zwar hat sich in den vergangenen 20 Jahren einiges getan: Binnendifferenzierung, Überspringen, am Unterricht höherer Stufen teilnehmen, all das gibt es. Trotzdem knirscht es, wenn Durchschnittsunterricht auf Hochbegabung trifft, ein Siebenjähriger, der daheim «Die Tribute von Panem» liest, sich im Unterricht an Sätzen wie «Mimi malt Mama» abarbeiten soll.
«Jungen fangen dann schon mal an, massiv zu stören oder machen den Clown», erzählt Xaver Heer. Mädchen dagegen blieben eher klaglos unter ihrem Potenzial, klinkten sich geistig aus, wirkten niedergeschlagen oder randalierten daheim.
Wie Julia. Zehn ist sie jetzt. Im Frühling macht sie die Gymi-Aufnahmeprüfung. Zwei Jahre zu früh.
Manische Wissbegierde
«Gott sei Dank ist sie jetzt auf dieser Schule», sagt Julias Vater, Christian Fischer. Zu Hause sei es zeitweilig enorm anstrengend mit ihr gewesen: Streit mit der älteren Schwester, die die ewigen Belehrungen und Korrekturen der Kleinen satt hatte. Zank mit dem Zwillingsbruder, der sich nicht von der Gleichaltrigen erziehen lassen wollte –, «und uns Erwachsenen gegenüber hat sich Julia benommen, als ob sie 16 Jahre alt wäre. Leider nicht wie eine glückliche 16-Jährige», seufzt Christian Fischer. Als bei einem Krach sogar ein Teller an der Wand landete und Julia weinte, sie wolle nicht mehr in die Schule, sondern zurück in den Kindergarten, wo sie wenigstens machen könne, was sie wolle, gingen die Eltern mit Julia zur Schulpsychologin. Fazit der Abklärung: Ein IQ, den die Schulpsychologin seit 10 Jahren nicht mehr gemessen hatte und der schriftliche Befund, «im normalen Klassenverband nicht beschulbar». Deshalb trägt auch die Gemeinde einen Teil des Schulgeldes von 2000 Franken pro Monat. Seit vier Jahren lernt Julia jetzt unter Mädchen und Buben, die sind wie sie – mindestens 30 IQPunkte über dem Durchschnitt. Blitzdenker von manischer Wissbegierde, Autodidakten im Lesen und Schreiben schon vor dem Chindsgi und ebenso wenig daran gewöhnt, dass man für die Schule lernen muss, wie daran, dass es tatsächlich Kinder gibt, die genauso schlau sind wie man selbst.
Konzentriert hocken jetzt die Jungs und Mädchen der Gruppe Blau an ihren Bunsenbrennern. Der ganze Raum riecht wie ein Weihnachtsmarkt. Über den Flammen blubbert Rotwein. «Wenn Alkohol kocht, verdampft er nämlich und das Coolste: man kann ihn in Brand setzen», erklärt Julia und hält ein Streichholz an die Schwaden. Zischen, Flamme, Jubel der Gschpänli. Der Unterricht läuft hier selten im Klassenverband. Projektarbeit, eigenständiges Tüfteln, Lernen im individuellen Tempo sind hier Prinzip.
Gleichschritt gilt nicht als erstrebenswerte Gangart.
Üben muss sein. Leider.
Adrian will einen Vortrag halten über einen heiligen Berg in Südamerika! Okay. Janina möchte präzise wissen, was Amyloplasten sind? Wird erklärt. Leonie will unbedingt im Computer gucken, wie das noch mal war mit dem Kohlenstoff C und der Aktivkohle. Hingehen, nachlesen.
Frag nicht, gibt es nicht.
Ein einziges Wunschkonzert ist die Schule trotzdem nicht. «Hochbegabte brauchen besonders viel Struktur», findet Xaver Heer. «Viele von ihnen wissen ja gar nicht, wie das geht: üben, sich anstrengen …» Doch ohne Disziplin, Fleiss und Einsatz klappts selbst für kleine Einsteins nicht im Leben. Jede Woche ein Diktat, jede Woche Kopfrechnen, wöchentlich zehn neue Fremdwörter und Französisch-Vokis büffeln wie überall, sind Pflicht. Und das ist ausnahmsweise mal weder zu hinterfragen noch zu diskutieren.
Klingeln.
Der Unterricht ist zu Ende. «Als Hausaufgabe macht ihr eine exakte Versuchsbeschreibung und Analyse, bitte», sagt Xaver Heer. Gemopper, Gemoser, lautes Seufzen der Schüler – wie überall auf der Welt. Warum auch nicht? Schliesslich musste selbst Michael Kearney, schlau wie nur einer von einer Million, seine Mama mit zur Uni bringen, denn schreiben konnte der Achtjährige wie ein Achtjähriger.
Hochbegabt, ja. Normal, auch.