Hochbegabung
«Husten begabte Kinder anders?»
wir eltern: Herr Professor Rost, Sie forschen seit 25 Jahren zum Thema Hochbegabung, haben eine Langzeitstudie dazu durchgeführt, ein dickes Buch über Intelligenz geschrieben und leiten die Beratungsstelle BRAIN. Sie müssen es wissen: Welche Klischees über Hochbegabte sind Humbug?
Detlef H. Rost: Klischees sind fast immer Quatsch. Nehmen wir das Klischee, Hochbegabte langweilten sich im Unterricht. Langeweile ist kein festgezurrtes Persönlichkeitsmerkmal, sondern eine Reaktion auf ein anregungsarmes Umfeld. Langeweile in der Schule ist kein Zeichen von Hochbegabung, sondern von schlechtem Unterricht. Haben Sie sich in der Schule nicht manchmal gelangweilt? Na, bitte. Sind Sie hochbegabt? Langeweile tritt übrigens genauso häufig bei Überforderung wie bei Unterforderung auf. Das kann jeder testen: Man setze sich in eine Vorlesung zur fortgeschrittenen Chemie. Ich wette, ein Nicht-Naturwissenschaftler wird sich enorm langweilen.
Weitere Klischees?
Da gibt es viele. Etwa, dass Hochbegabte verschrobene Persönlichkeiten seien. Hässlich, mit Pickeln und Brille. Im Sport schlecht seien und psychische und soziale Probleme hätten ... Das ist alles dummes Zeug. Eher das Gegenteil ist richtig. Im Vergleich schneiden Hochbegabte besser ab als «Normale». Im Zweifelsfall ist Hochbegabung eher Segen als Fluch. Und: Auch durchschnittlich Begabte sind zuweilen schwierig, oder nicht?
Wie konnte dann so ein falsches Bild entstehen?
Erst mal: Seriöse Studien sind teuer. Wir haben über 7000 Kinder getestet, um 151 hochbegabte zu finden. Sieben Psychologen waren dafür ein ganzes Jahr lang unterwegs. Das hat damals mehrere Hunderttausend Mark gekostet. Uns hat die Bundesregierung unterstützt, wer kann sich das sonst schon leisten? Also gehen willige Forscher meist anders vor. Sie suchen sich «Eltern für das hochbegabte Kind»-Gruppen und befragen da. Nur: Kennen Sie eine einzige Selbsthilfegruppe für das sonnige, unproblematische Kind?
Warum nicht?
In solchen Elternvereinen sind Leute überrepräsentiert, die Schwierigkeiten mit ihrem Kind oder ein schwieriges Kind haben. Neulich hat mich ein Psychiater angerufen und gesagt, es stimme nicht, dass Hochbegabte ziemlich «normale» Menschen seien. In seiner Praxis hätten die hochbegabten Patienten sehr grosse Probleme.
Und wie lautete Ihre Antwort?
Meine Antwort: «Meinen Sie etwa, jemand, der sich rundum wohlfühlt, geht mal einfach so in eine psychiatrische Praxis?» Zudem schreiben manche Autoren gern voneinander ab. Schreibt einer: «Das hochbegabte Kind hustet anders und schläft wenig», liest man das sicher bald anderswo. Nur stimmen tuts nicht. Der typische Briefträger-beisst-Hund-Effekt. Über etwas, das normal und glatt läuft, schreibt kein Mensch. Und doch ist genau das bei den meisten Hochbegabten der Fall.
Friede, Freude, Eierkuchen.
Nein. Ich finde, jedes Kind hat das Recht, dass auf seine Bedürfnisse eingegangen wird. Egal, wie schlau sie sind. Hochbegabte Kinder sind wie alle Kinder – nur im Denken schneller. Gute Lehrer, die im Unterricht differenzieren, können das in der Klasse auffangen.
Wenn in einer Klasse fremdsprachige Kinder sind, ADHS-Kinder, Hochbegabte ... könnte ein Lehrer überfordert sein.
Klar. Die Hochbegabten zeigen wieder: Die Orientierung am Durchschnitt ist Unfug. Der Durchschnitt passt für keinen. Man muss Unterschiedlichkeit wertschätzen, von Anfang an differenzieren. Das erfordert allerdings andere Rahmenbedingungen, mehr finanzielle Mittel, mehr und besser fortgebildete Lehrer. Doch es ist machbar.
Sehr optimistisch.
Ich weiss. Eine meiner Töchter konnte mit vier Jahren fliessend lesen und schreiben. Das war aber kein Problem. Die Lehrerin war klasse, und meine Tochter durfte, während die anderen As und Is gelernt haben, in ihrem Pippi Langstrumpf-Buch lesen. In Finnland beispielsweise wird konsequent von Anfang an differenziert. Der Lehrerberuf hat dort ein hohes Ansehen und die Besten wollen Lehrer werden. Dort ist Hochbegabung kein ideologisch belastetes Thema, sondern schlicht Ausdruck der Tatsache, dass jeder anders ist. Und jeder auch so ernst genommen werden sollte.
Apropos Ideologie: Als Sie in den 80er-Jahren anfingen, zum Thema Hochbegabung zu forschen, wurde Ihnen noch angedroht, man schlitze Ihnen die Autoreifen auf. Steckt man Ihnen heute stattdessen Visitenkärtchen unter den Scheibenwischer?
So ungefähr. Zur damaligen Zeit war das Thema verpönt. Das klang zu sehr nach Elite. Gleichheit war angesagt. Selbst meine Kollegen an der Uni haben mich für einen komischen Vogel gehalten. Heute ist das Pendel in die andere Richtung ausgeschlagen. Auch nicht gut. Wir hatten schon Mütter in der Beratungsstelle, die fast zu weinen angefangen haben, nachdem sie erfahren hatten, dass ihr Kind intelligent, aber nicht hochbegabt ist. Und es gibt Eltern, die schlussfolgern: Mein Kind hat keine Freunde, kommt mit dem Lehrer nicht zurecht und ist auch ansonsten eigenartig – es muss hochbegabt sein. Unsinn. Dieses ausschliessliche Schielen auf hohe IQ-Werte ist unangebracht. Dieses ganze Gefördere mit irgendwelchem Englischunterricht für Zweijährige – das grenzt an Kindesmisshandlung. Die beste Förderung ist, oft mit seinem Kind zu sprechen. Wenn alles rund läuft, braucht es keine Abklärung. Man geht ja auch nicht zum Arzt und lässt mal seine Milz vermessen.
Und doch wird, etwa wenn das Überspringen einer Klasse angezeigt ist, der Intelligenzquotient erhoben.
Dann hat es einen Grund. Aber das sollten seriöse Fachleute machen. Man geht mit Zahnschmerzen schliesslich auch nicht zum Schuster.
Kann man Intelligenz überhaupt messen?
Durchaus.
Geschwindigkeit des Denkens, schnelles effektives Arbeiten und originelles Problem lösen scheinen die Hauptindikatoren zu sein. Bedeutet langsam gleich dumm?
Das kann man so nicht behaupten. Es gibt auch zähe, aber gute Denker. Aber sagen wir es mal so: Einstein hat seine Relativitätstheorie in vielleicht zwei Jahren entwickelt. Ich bräuchte 15 Jahre, um sie auch nur zu verstehen.
Kann man Intelligenz pushen?
Intelligenz ist zu einem nicht unerheblichen Teil angeboren und zum Teil umweltbedingt. Die Schule beispielsweise ist das Intelligenz-Förderprogramm schlechthin: unterschiedliche Inhalte, verschiedene Trainer, viele Stunden täglich, mehr als 40 Wochen im Jahr. Jedes Jahr weniger Schule macht dümmer. In IQ-Werte umgerechnet, im Schnitt etwa 4 Punkte.
Also doch fördern, fördern, fördern?
Nein und ja. Denn auch Hochbegabte haben das Recht, mal nicht gefördert zu werden. Wie jeder. Wenn ich nach Hause komme, will ich mich ja auch entspannen. Reden, fernsehen ... Manchmal gucke ich sogar «Deutschland sucht den Superstar».
Detlef H. Rost ist Professor für Pädagogische Psychologie und Entwicklungspsychologie an der Uni Marburg (D), Studienleiter des Marburger Hochbegabten-Projektes, Gründer der Begabungsdiagnostischen Beratungsstelle BRAIN – und einer der Vorreiter der Hochbegabungsforschung.