Ende der Welt
Nomadinnen auf Zeit
Das Herz war schuld. Wie immer, wenn es sie ans «Ende der Welt» zieht. Das Fernweh nistet sich jeweils so hartnäckig ein, dass keine Vernunft dagegen ankommt. Naja, meist seien es halt ein bisschen verrückte Destinationen, die sie auswähle, sagt Tina Steinauer und zwirbelt die Pfefferminzblätter mit dem Löffel durchs Wasserglas. Wir sitzen in einem marokkanischen Café in Zürich und die Fotografin erklärt, weshalb sie normale Ferienorte mit ihren Sehenswürdigkeiten einfach langweilen: zu ausgetrampelt, zu abfotografiert. «Und als Naturmensch fühle ich mich schlicht mehr hingezogen zu ursprünglich lebenden Stämmen als zu urbanen Zentren.»
Turkmenistan, Usbekistan, China, die Mongolei – seit Emma auf der Welt ist, nimmt Tina die Kleine einfach mit. Da können Freunde und Bekannte noch so lange Bedenken äussern wegen drohender Krankheiten oder Unannehmlichkeiten. Schliesslich lebte Tina mit ihrer Tochter ein Jahr lang auf dem Sternenberg im Zirkuswagen, schleppte Wasser und heizte ein: «Ich weiss, was wir zwei ertragen können! » Tina ist umsichtig, nähert sich dem Ziel immer Schrittchen für Schrittchen. Und: Wichtig für das Kind ist doch einfach Mamas Rockzipfel. Egal, ob der gerade in Bern Bümpliz weilt oder bei den Nomaden hinter dem Polarkreis.
Immer nordwärts
Als eine Freundin Tina von einer Tante in Sibirien erzählt, ist es wieder da, das Reissen. Tina kauft eine CD mit russischem Grundwortschatz, klärt sich und ihre Tochter medizinisch gründlich ab, stellt eine Reiseapotheke zusammen, schaufelt sich zwei Monate frei – und fliegt ab nach Russland.
Von Moskau aus tuckern Tina und Emma drei Tage lang mit dem Zug durch das endlos grosse Land, immer Richtung Norden. Nach weiteren 6 Stunden Auto- und 12-stündiger Bootsfahrt kommen sie nach Samburg, dem letzten Dorf vor der weiten Tundra. Geschafft!, denkt Tina.
Ganz so leicht lässt es sich aber nicht vorstossen zu ihrem Traumziel, den nomadischen Nenzen. Denn nicht nur die Tante der Freundin, auch die russischen Dorfbewohner versuchen Tina von ihrem Vorhaben abzuhalten: «Zu den Wilden willst du? Bist du verrückt?» Alkoholiker seien die Nenzen, gefährlich und zurückgeblieben.
Die klassischen Vorurteile der Herrenvölker Minderheiten gegenüber. Selbst die Geheimpolizei in Samburg zitiert Tina in ihr Büro. Weniger wegen der angeblich barbarischen Nomaden, sondern weil deren Lebensraum seit einiger Zeit zum Sperrgebiet deklariert wurde.
Die Halbinsel Jamal liegt über dem möglicherweise reichsten Erdgasgebiet der Welt und wird vom russischen Gasmonopolisten Gazprom beherrscht. Angesichts der Frau in weiten Röcken und blondem Engelshaar allerdings kommt die Behörde schnell davon ab, es könnte sich bei Tina um eine Spionin handeln.
Fernsehabend im Zelt
Tinas grösstes Glück ist Georgi. Selber ein Nenze, weilt er gerade in Samburg. Ab und zu muss schliesslich auch ein Nomade Grundnahrungsmittel und Hygieneartikel im Dorfladen kaufen. Georgi spricht russisch und zieht – wie schon seine Vorfahren – mit seinem Zelt durch die sibirische Tundra. Und er hat nichts dagegen, der Fotografin aus dem Westen seine Welt zu zeigen. Drei Wochen lang werden Tina und Emma mit ihm, seiner Frau Olga, Sohn Andrej und Enkel Gosha zusammen im Zelt leben.
Seit Jahrhunderten ziehen die Nenzen mit ihren Rentieren durch die Tundra, die meisten von ihnen sind mausarm. Unter ihren Weidgründen liegt zwar Erdgas in rauen Mengen, das Wandervolk aber hat kaum etwas davon. Im Gegenteil: Die hundertfachen Probebohrungen von Gazprom zerstören die traditionellen Routen der Nenzen. Die russischen Magnaten zeigen sich dem alten Nomadenvolk gegenüber zwar kulant, stellen Arbeitsplätze zur Verfügung und bauen feste Häuschen mit Gärten. Damit aber werden die Leute je länger desto sesshafter – die Tradition stirbt aus.
Vielleicht zieht es Tina deshalb immer wieder zu indigenen Völkern hin, weil es sie bald nicht mehr gibt. Längst überlappen sich aber auch bei den Nenzen die Lebenswelten von indigener Kultur und moderner Lebensweise. Dank einem Generator flimmern Abend für Abend kitschige Filme über einen kleinen Bildschirm im Zelt, und der grösste Herzenswunsch jedes Nenzenjungen und -mädchens ist, ebenso wie bei den Russenkindern, ein eigenes Handy. Die Kinder der Nenzen verbringen viele Monate im Jahr in der Internatsschule in Samburg und kehren nur in den Ferien zurück zu ihren Eltern in die Zelte.
Statussymbol Rentier
Die Erziehung, erzählt Tina, sei bei den Nenzen so hart wie das Leben selbst. Da werde der Nachwuchs nicht «verbäbelet» wie bei uns. Weder Ratgeberliteratur für werdende Mütter, noch Geburtsvorbereitungs- oder Erziehungskurse sind von Bedeutung. Die Kinder müssen früh mithelfen, Zelte aufstellen und abbrechen, Brennholz sammeln, Rentiere hüten, schwer beladene Schlitten steuern. Dennoch bleibt im harten Alltag viel Platz für menschliche Wärme. Die Familien leben eng zusammen im Chum, dem Nomadenzelt; hier kochen, spielen, schlafen sie in einem einzigen Raum. Auch Tina und Emma kuscheln sich während der Nächte neben Olga und Gosha auf das Bettlager aus Renntierfellen.
Georgi gehört zu den wohlhabenderen Nomaden. Denn bei den Nenzen gilt: Je mehr Renntiere, desto angesehener ist ein Mann. Die Tiere sind aber nicht nur Statussymbol, sie ernähren die Nenzen auch. Ihr Fleisch wird verzehrt oder verkauft, ein lukratives Geschäft sind die Geweihe: Pulverisiert verhelfen sie den Benachbarten Chinesen zu vermeintlich mehr Potenz.
Auch während Tinas Aufenthalt wird geschlachtet, Emma mag dann jeweils nicht hingucken. Als Georgi das tote Tier aber ausweidet und Enkel Gosha zwischendurch aus dem noch dampfenden Leib kleine Stückchen Eingeweide herausholt und sie genüsslich wie Schokoladestückchen in den Mund steckt, ist Emma tief beeindruckt: «Wenn ich so gross bin wie Gosha, esse ich auch rohes Fleisch.»
Spielen jenseit von Sprachgrenzen
Überhaupt: Emma und Gosha kennen keine kulturelle Fremdheit – ob Schwyzerdütsch oder Nenzenisch, die beiden verstehen sich bestens. Mit Georgi zusammen fangen sie grosse Fische im Fluss und lassen sich von den Rentieren mit dem Schlitten über das Sommergras ziehen. Georgis Familie hätte das Mädchen am liebsten behalten. Tina hingegen, finden sie, wäre nicht für ein Nomadenleben geeignet. Das findet sie wohl auch selber. Aus Angst vor Tuberkulose benutzte sie fast obsessiv die mitgebrachten Handfeuchttücher, und als die beiden 100er-Packungen aufgebraucht waren, schien ihr das als Zeichen zur Rückkehr.
Der Pfefferminztee ist ausgetrunken, der dicke Stapel Fotos gezeigt. Würde sie es wieder wagen, auf eigene Faust ans «Ende der Welt» zu reisen? Sicher. Wieder mit Emma? «Wäre es auch nur Ansatz gefährlich geworden für mich und meine Tochter, ich hätte alles abgebrochen.» Bei Emma jedenfalls hat die Reise Spuren hinterlassen. Als ihr Grossvater kürzlich einen ganzen Fisch aus der Migros mitbrachte, fragte ihn die Kleine: «Opa, wo hast du den gefangen?»