Aus dem Vaterland
Liebe Eltern, hier schiffts!
In einem Brockenhaus bin ich auf eine riesige Sammlung alter Postkarten gestossen. In mehreren Schuhschachteln lagen Karten aus allen Ecken unseres Landes. Adressiert waren sie an eine Frau in Winterthur. Da ich Lehrer bin und deswegen über viel Freizeit verfüge, habe ich mich in die Lektüre vertieft. Es stellte sich heraus, dass die Frau – nennen wir sie Frau Frutig – mindestens ein halbes Dutzend Kinder hatte und wahrscheinlich dreissig Enkel. Alle schrieben ihr von den Ferien. Manche kurz («Grüsse aus Samnaun »), andere bis zum unteren Kartenrand.
Vor allem interessierte ich mich für die Postkarten, die Frau Frutig von ihren Enkelkindern erhielt, die sich gerade auf einer Klassenreise befanden. Mit etwas Stolz darf ich behaupten, dass ich jetzt vermutlich eine der grössten Sammlungen von Enkelkinder-Postkarten in der Schweiz besitze.
Einige dieser Karten sind mir sehr ans Herz gewachsen. Zum Beispiel eine Ansichtskarte aus Lenk. Geschrieben von Dani: «Liebes Omi, danke für das Geld. Leider ist es nicht genug für das Micky-Maus-Heft. Dein Dani.» Oder Yvonne. Sie befindet sich in Frutigen und freut sich schon auf die Rückkehr: «Ich bin um 10.45 Uhr wieder in Winterthur (auf dem Gleis 3 oder Gleis 2). Deine Yvonne!» Am meisten gefällt mir aber Thomas. Er hält sich in einer SAC-Hütte auf und schreibt: «Das Wetter hier geht so. Das Essen ist anders als zu Hause und wir schreiben viel. Dein Thomas.»
Als ich diese Karte las, musste ich innehalten. Sie hätte von mir stammen können. Als Fünftklässler ging ich auch einmal in eine Rotondohütte irgendwo in den Walliser Bergen. Unser Lehrer war ein Deutscher. Er hiess … nein, das sage ich jetzt besser nicht. Auf jeden Fall war er speziell. Ziemlich streng und ziemlich ein A …, nein, das schreibe ich jetzt auch nicht. Ich verdanke ihm die Beherrschung der schriftlichen Addition. Montags mussten wir nämlich immer zusammenrechnen, wie viele Kilometer unser Herr Lehrer am Sonntag mit dem Fahrrad hinter sich brachte.
Die Hütte, die wir aufsuchen mussten, befand sich über 2000 Meter. Wir verbrachten dort zwei Wochen. Es regnete: zwei Wochen. Ununterbrochen. Nicht Sprühregen oder Dunstregen, nein, der Himmel hatte zwei Wochen lang Durchfall. So etwas habe ich vor- und nachher nie wieder erlebt. Unser Lehrer wollte uns eigentlich zwei Wochen lang schinden. Klettern, Höhenwandern, Mineralien klopfen usw. Jetzt waren wir aber zwei Wochen lang in einer kleinen Hütte. Was kann man schon 14 Tage lang machen? Im Tal unten hatte sich der kleine Bach zu einem reissenden Ungeheuer verwandelt, sodass wir nicht mehr runtersteigen konnten. Also mussten wir eine Woche lang lernen, wie man Briefe schreibt. Ich schrieb etwa 20 Entwürfe an meine Eltern. Der Lehrer hatte sie immer wieder korrigiert und war nie zufrieden. Er wollte natürlich nicht, dass wir an unsere Eltern schreiben: «Hier schifft es jetzt schon 11 Tage ohne Ende. Zum Essen gibt es immer nur Brot mit Konfi. Das Plumpsklo vor der Hütte stinkt grauenhaft. Manuel schnarcht grauenhaft. Unser Lehrer ist grauenhaft. Ich vermisse euch unendlich!»
Nein, die Karte, die noch heute in meiner Erinnerungskiste liegt, hat folgenden Inhalt: «Liebe Eltern, wir verbringen lehrreiche Ferienwochen auf der Rotondohütte (2189 m ü. M). Das Wetter und Essen hier unterscheidet sich von dem in Dättwil. Liebe Grüsse, Euer Beni.»
Unser Lehrer müsste jetzt etwa 70 Jahre alt sein. Vielleicht arbeitet er jetzt ehrenamtlich bei der NSA. Auf jeden Fall lernte ich bei ihm schon früh, misstrauisch zu sein, wenn ich einen Text lese.