Verständnis
Kuck mal, wer da spricht
Die grossen Augen der fünf Monate alten Nora ruhen auf dem Gesicht ihrer Mutter, in deren Armen sie liegt und die mit ihr spricht. Als der Papa sich dazusetzt und ihre Eltern über die Ferien sprechen, wandern sie von der Mama zum Papa und wieder zurück. Als würde sie sich genau wie diese auf den gemeinsamen Urlaub freuen, brabbelt die Kleine plötzlich vergnügt drauf los und quiekt begeistert, als die Eltern sich ihr zuwenden. Hat Nora etwas von dem Gespräch verstanden?
Wohl eher nicht, sind sich Entwicklungspsychologen und Kinderärzte einig. «Wenn eine Mutter zu ihrem Säugling spricht, ist der Inhalt ihrer Wörter für das Kind nicht von Bedeutung», schreibt der Kinderarzt Remo H. Largo in seinem Standardwerk «Babyjahre». Erst mit vier bis sechs Monaten beginnt das Kind den Sinn bestimmter Wörter zu begreifen, ist in vielen anderen Babyratgebern zu lesen. Als erstes bringt es Namen mit Menschen in Verbindung. Seit Kurzem hält Nora im Spiel inne, wenn sie mit ihrem Namen angesprochen wird. Hört sie die Mutter «Papa» sagen, schaut sie zum Vater. Bald schon wird sie bestimmte Wörter mit Gegenständen und Situationen in Verbindung bringen.
Auch wenn Wörter und Sätze in den ersten Monaten für den Säugling also noch ohne Bedeutung sind, erfasst er aber bereits Tonlage, Melodie und Gefühlsausdruck der menschlichen Stimme. «Er hört den reinen Klang der Wörter und fühlt, welche Empfindungen dieser in ihm wach ruft», schreibt der bekannte amerikanische Wissenschaftler Daniel N. Stern in seinem Buch «Tagebuch eines Babys». Denn die erste und entscheidende Aufgabe des Kindes bestehe darin, die nonverbale «Basis» zu erwerben, auf der später alle sozialen Interaktionen und auch die Sprache aufbauten. Deshalb kommunizieren Babys und ihre Bezugspersonen in den ersten zwei Lebensjahren fast ausschliesslich über die Körpersprache. Nora hat demzufolge wohl kaum begriffen, dass sie in zwei Tagen in die Ferien fahren wird, in ein anderes Land, wo es wärmer ist. Sicher aber hat sie die Aufregung und Vorfreude der Eltern gespürt und mit fröhlicher Erregung darauf reagiert.
Der Säugling, das unbekannte Wesen
In der Vergangenheit glaubten Mediziner, dass Früh- und Neugeborene keinen Schmerz empfinden und operierten noch bis in die 80er-Jahre ohne Anästhesie. Lange Zeit hielt sich auch die Überzeugung, dass Säuglinge in den ersten Tagen und Wochen nach der Geburt nicht hören können. Heute wissen wir, dass das Gehör bei der Geburt vollständig funktionsbereit ist und auch Frühgeborene Schmerz fühlen. Muss auch die heute gängige Lehrmeinung, Säuglinge verstünden die gesprochene Sprache in den ersten Lebensmonaten nicht, irgendwann revidiert werden? Davon ist die französische Kinderpsychologin Caroline Eliacheff überzeugt. In ihren Büchern beschreibt sie, wie sie traumatisierte Säuglinge und Kleinkinder psychoanalytisch, also einzig mit der Kraft der Sprache, behandelt und dabei aufsehenerregende Heilerfolge erzielt.
Zum Beispiel: Oliver. Der zweieinhalb Monate alte Bub lebt im Säuglingsheim, weil sich seine Mutter ausserstande sah, ein weiteres Kind aufzuziehen und ihn zur Adoption frei gab. Mit fünf Wochen entwickelt Oliver auf dem Gesicht und der Kopfhaut schorfartige Ekzeme und Schuppen, zudem sind seine Bronchien so stark verschleimt, dass beim Atmen ein lautes Geräusch zu hören ist. Im Erstgespräch bei Caroline Eliacheff erzählt die Erzieherin, dass das Personal des Säuglingsheims davon überzeugt war, die Mutter werde ihren Adoptionsentscheid rückgängig machen. Bei einer Besprechung mit der Mutter mussten sie jedoch feststellen, dass sie sich getäuscht hatten. Unmittelbar danach sei Oliver krank geworden, obwohl er beim Gespräch nicht dabei war. Nach diesem Bericht wendet sich Caroline Eliacheff an den Jungen und spricht mit ihm über seine Mama. Sie erklärt ihm, dass seine Mutter eine gute Frau sei. Sie wolle zu seinem Besten, dass er in einer anderen Familie aufwachse, in einer, die ihm optimale Startchancen geben könne. Dass diese Familie wohl nicht die gleiche Hautfarbe haben werde wie er, der dunkelhäutig sei. Dass er deswegen aber nicht seine Haut ändern müsse. Er werde immer der Sohn seiner leiblichen Eltern bleiben. Eine Woche später ist Olivers Ekzem völlig geheilt. In der weiteren Behandlung ordnet die Therapeutin auch die Atemwegserkrankung einem Sinn zu, worauf auch diese verschwindet.
Die Botschaft hinter dem Wort
Eliacheff sieht die Krankheiten und Funktionsstörungen des Kindes als Ausdruck seines seelischen Zustandes. In der psychoanalytischen Behandlung gehe es nicht darum, zu trösten, Wiedergutmachung zu leisten oder eine medizinische Behandlung zu ersetzen, wenn diese notwendig sei. Bemühe man sich jedoch, den Störungen einen symbolischen Sinn zu geben, sei man immer wieder erstaunt, festzustellen, dass «die Funktionsstörungen verschwinden. Als ob die Sprache ein ‹Organisator› wäre, der die Funktionsweise von Körper und Psyche zurechtrückt, verändert oder neu ordnet. Dabei spüre ich die Gewissheit, dass mich das Kind versteht», so die Psychoanalytikerin.
Diese Erfahrung hat auch Monika Strauss, Oberärztin für Psychosomatik und Psychiatrie am Kinderspital Zürich, gemacht: «In meiner Arbeit mit Säuglingen und Kleinkindern stelle ich fest, dass es eine direkte Wirkung auf das Kind hat, wenn man mit einer Deutung ins Schwarze trifft. Als müsste das Kind sein Leiden, seine Bedürfnisse oder seine Botschaft nicht mehr über den Körper ausdrücken, sobald es verstanden wird.»
Doch: Wie merkt das Baby, dass es verstanden wird, wenn es die Bedeutung der Wörter noch nicht begreift? Auch Monika Strauss kann das nicht exakt erklären, denn bis heute haben Neurobiologen nicht herausgefunden, wie das psychotherapeutische Gespräch wirkt. «Da ist ein Missing Link, ein fehlendes Bindeglied. Wir stehen an der Schnittstelle zur geistigen oder spirituellen Welt», so Strauss, «das, was dem Wort zugrunde liegt, kommt beim Kind an.» Allerdings kann sich Monika Strauss auch vorstellen, dass der Säugling auf das reagiert, was während der Therapiestunde bei den anwesenden Personen «passiert». Das Kind merkt, dass die Deutung die Haltung der betreffenden Personen ihm gegenüber verändert, womit es entlastet wird.
Unerklärbar heisst nicht falsch
Auch Caroline Eliacheff hat keine Erklärung, wie die Therapie wirkt: «Ich selbst weiss es nicht, auch wenn ich andere Wissenschaftsbereiche als die Psychoanalyse heranziehe. Betrachtet man jedoch das Kind als Subjekt, das von Beginn an agiert und nicht bloss reagiert, dann erlaubt die Psychoanalyse eine wesentliche Umkehrung der Frage, die nun nicht mehr lautet: Wie versteht ein Säugling? Sondern: Wie und warum haben wir uns so lange eingebildet, dass er nichts versteht?».
Klare Sätze für schwierige Situationen
Wird das Kind in heiklen Momenten oder bei schwierigen Übergängen angemessen informiert, meistert es sie besser, ist die Kinderpsychiaterin Monika Strauss überzeugt. Beispiele aus dem Alltag mit Babys:
Trennung von der Mutter direkt nach der Geburt
Eine solche Situation hinterlässt bei Mutter und Kind oft seelische Wunden, deswegen ist es sinnvoll, mit dem Baby darüber zu reden. Die Mutter sollte allerdings einigermassen über das Trauma hinweg sein, damit das Kind nicht erneut traumatisiert wird; dazu lohnt es sich, die Hilfe einer auf Geburtsverarbeitung spezialisierten Fachperson in Anspruch zu nehmen. Am besten ist der Vater beim Gespräch auch dabei. In einfachen Worten und ohne zu beschönigen beschreibt die Mutter, wieso es zur Trennung gekommen ist, sagt, wie froh sie ist, dass beide überlebt haben. Vielleicht schliesst sie mit den Worten: «Und jetzt haben wir die Gelegenheit, uns kennenzulernen.»
Das Kind wird abgestillt
Idealerweise – oder wenn man sehr viel Glück hat – ist das ein gegenseitiger Prozess. Wenn nicht, kann die Mutter sagen: «Ich habe dich gerne gestillt, aber jetzt habe ich genug davon.» Das ist ein ganz normaler Interessenskonflikt. Das Kind fühlt sich vielleicht im ersten Moment zurückgewiesen. Aber es kommt auch etwas Neues. Vielleicht hat jetzt der Vater die Möglichkeit, sich mehr mit dem Baby abzugeben und es zu füttern.
Das Kind kommt in die Krippe
Wichtig ist, dass das Kind während der Eingewöhnungszeit eine Beziehung zur Betreuungsperson aufbauen kann. Die Eltern erklären dem Kind: «Hier wirst du sein, wenn der Papa und die Mama arbeiten. Diese Person wird zu dir schauen.» Das Wichtigste ist, dass die Eltern hinter dem Krippen-Entscheid stehen können. Eine allfällige Zerrissenheit spürt das Kind, sie erschwert ihm den Übergang. Die Mutter oder die Eltern können sagen: «Es fällt uns schwer, dich wegzugeben, aber wir wollen oder müssen wieder arbeiten.»
Die Eltern trennen sich
Der Elternteil, in dessen Obhut das Kind lebt, tut gut daran, sich die nötige Unterstützung zu holen, zum Beispiel von Freunden oder Fachpersonen. Denn oft ist es schwierig, mit dem Kind über die neue Situation zu sprechen. Zentral für das Kind ist, zu wissen, dass es nicht Schuld ist an der Trennung. Die Mutter kann sagen: «Dein Vater wird uns immer wichtig bleiben, denn ohne ihn gäbe es dich nicht. Wir haben uns aber entschieden, getrennte Wege zu gehen.»