Monatsgespräch
«Kinder wollen entdecken»
«wir eltern»: Frau Hipeli, in Ihrem Ratgeber «Medien-Kids» geben Sie anderen Tipps. Wie mediensüchtig sind Sie selber?
Eveline Hipeli: Zuerst einmal erstaunt es mich immer wieder, wie unterschiedlich wir unsere Medien beurteilen. Bücher und Zeitschriften werden positiv bewertet, digitale Medien weniger. Ich nutze tatsächlich viel mein iPad Mini, aus beruflichen aber auch aus privaten Gründen. Ich versuche generell, Balance zu halten. * Wie schaffen Sie das?* Ich bin beispielsweise ein Serien-Junkie. Es gab eine Zeit, in der ich parallel Serien angeschaut und nebenher noch E-Mails beantwortet habe. Ich habe dann festgestellt, dass ich so weder beim Serienschauen noch beim E-Mails beantworten 100 Prozent konzentriert bin und keine der Tätigkeiten mehr geniessen kann. Auch Medienexperten sind vor übermässigem oder unbedachtem Konsum nicht gefeit.
Gehört es zum Aufwachsen als Digital Native, dass Kinder schon als Dreijährige auf dem iPad Spiele machen – und bedeutet es umgekehrt für Kinder später einen Nachteil, wenn die Eltern das nicht zulassen?
Es hängt davon ab, was Erwachsene Kinder spielen lassen, warum und wie lange. Bewegte Bilder üben auf Kinder und Jugendliche eine unglaubliche Faszination aus. Wenn Säuglinge und Kleinkinder jedoch keinen oder wenig Kontakt zu realen Personen haben und nur noch auf Apps herumdrücken, die sie kognitiv gar nicht verarbeiten können, ist das sicherlich nicht förderlich. Wenn ein dreijähriges Kind hingegen 15 Minuten ein kindgerechtes App spielt, schadet ihm das sehr wahrscheinlich nicht. Aber: Kein Kind im Vorschulalter hat später einen Nachteil davon, wenn es noch nicht auf einem iPad herumspielen darf.
Was ist entscheidend?
Der Inhalt. Und das Motiv: Spielt es aus Langeweile? Weil seine Eltern Pause haben wollen? Oder weil dem Kind sonst nichts anderes in Sinn kommt? Danach kommt sicher auch die Dauer.
Was halten Sie von Eltern, die Einjährige während des Essens mit dem iPad spielen lassen, damit das Kind abgelenkt ist und es problemlos isst?
Ich verstehe zwar den Hintergrund der Eltern, nämlich, dass sie auch einmal in Ruhe das Essen geniessen möchten. Wenn es das Kind allerdings immer nur so erlebt, gehen wertvolle gemeinsame Momente in der Familie verloren. Ich persönlich finde eine solche Lösung nicht optimal.
Was finden Sie das Schwierigste an einer konsequenten Erziehung?
Meine Töchter sind zweieinhalb und knapp fünf Jahre alt. Wir kämpfen mit denselben Baustellen wie andere Eltern auch. Auch bei uns quengeln die Kinder mal, weil sie noch länger schauen möchten. Meine ältere Tochter muss nach einer vorher vereinbarten Zeit das Gerät wieder ausschalten. Macht sie das nicht wie abgemacht, muss sie eine Weile auf ihre iPad- oder DVD-Zeit verzichten. Wichtig ist, dass man als Eltern diese Abmachung auch selber ernst nimmt und beim nächsten Mal konsequent durchsetzt.
Worauf achten Sie konkret?
Auf Länge, Nutzungskontext und Inhalt. Meine beiden Kinder haben eine kleine Bibliothek mit altersgerechten DVDs. Vieles von dem, was im Fernsehen kommt, verstehen sie vom Alter her gar noch nicht. Wir haben als Eltern anfänglich auch immer mitgeschaut. Dem Prinzip sind wir treu geblieben: Die Kinder werden nicht alleine einer neuen Sendung überlassen, sondern begleitet. Dann können wir auch auf Fragen eingehen – und diese Fragen kommen immer.
Welche Medienregeln herrschen im Hause Hipeli?
Zu meiner Studentenzeit lief im Hintergrund sehr oft der Fernseher. Heute schauen mein Mann und ich unsere Serien am Abend, wenn die Kinder schlafen. Der Fernseher läuft tagsüber nur bei grossen Sportevents. Die Mediengewohnheiten von Nicht-Eltern zu Eltern verändern sich automatisch.
Wie medienkompetent müssen Eltern sein?
Medienkompetenz ist ein komplexes Wort. Aber letztendlich bedeutet Medienkompetenz nicht nur, dass man weiss, was schädlich ist, sondern wie wir kreativ mit Medien umgehen können, wie wir sie verstehen lernen und dass wir wissen, wann genug ist und wie wir mit Medien genussvoll umgehen können. Dazu müssen wir unseren eigenen Medienkonsum immer wieder kritisch hinterfragen. Alle Eltern verfügen aufgrund ihrer Lebenserfahrung über einen grossen Strauss dieser Fähigkeiten, und die meisten dieser Kompetenzen haben nichts mit Technik zu tun. Eltern können mehr Medienkompetenz vermitteln, als sie glauben.
Meine Tochter wird bald vier Jahre alt und will sehr oft auf dem Computer oder Handy spielen. Was mache ich falsch?
Nichts. Wenn Kinder heranwachsen, wollen sie entdecken. Sie beobachten, wie die Welt um sie herum gestaltet wird. Das Kind möchte natürlicherweise mitmachen. Wenn Ihre Tochter sieht, wie Mami auf dem iPhone was sucht, dann will sie das auch benutzen. Wenn sie sieht, wie Papi sich auf dem Computer den neusten Kinofilm anschaut, dann möchte sie das auch.
Der Umgang mit Bildern ist heute liberaler. Es gibt viele Eltern, die posten jedes Familienbild auf Facebook und gewähren so viel Einblick in ihr Privatleben. Ist das gut?
Dadurch, dass viele Eltern selber bei sozialen Netzwerken angemeldet sind, sehen sie bei ihren Freunden Fotos vom Baby, aus dem Familienurlaub. Eltern müssen sich bewusst sein, mit wem sie die Bilder teilen. Eltern sind in der Rolle der Beschützers. Sie müssen sich fragen: Was passiert, wenn mein Kind dieses Bild in zehn Jahren findet?
Heute sind viele Familien digital omnipräsent. Beobachten Sie auch einen Gegentrend, quasi eine neue Zurückhaltung, gerade weil Eltern sensibilisierter sind?
Ich kenne tatsächlich viele Elternpaare, die viel weniger auf sozialen Medien präsent sind, seitdem sie Kinder haben. Gerade aus der Überlegung heraus, dass nicht alle alles vom Kind sehen sollen.
Heute erscheint es vor der Vielfalt der neuen Medien schwieriger, Kinder zu erziehen. Ist das bloss eine persönliche Wahrnehmung?
Die Erziehungsarbeit ist ähnlich geblieben. Wir möchten die Kinder zu lebensfähigen, glücklichen Menschen erziehen. Was sich verändert hat, sind die Rahmenbedingungen. Unsere Privatsphäre ist eine andere als noch vor 20 Jahren, sie ist durchlässiger. Es ist heute einfacher, einen Ruf mit einem Klick zu ruinieren. Es braucht zusätzliche Informationen, die das Kind entweder von seinen Eltern oder in der Schule mitbekommt. Eltern müssen keine digitalen Experten sein, aber ein Interesse für die Entwicklungen zeigen. Eltern sind Experten im Elternsein. Erziehung gehört zum Alltag – auch Medienerziehung.
Sie raten Eltern, mit dem Kind gemeinsam Regeln zu diskutieren. Wie?
Es hängt natürlich vom Alter des Kindes ab. Mit einem einjährigen Kind können Sie nicht über Medienkompetenz diskutieren. Mit einem drei Jahre alten Kind hingegen schon – auf einfache Art und Weise. Wenn die Eltern mit ihrem Kind zum Beispiel 15 Minuten Spielzeit vereinbaren und das Kind sich partout nicht daran hält, dann sollten Eltern sicher Konsequenzen ziehen und mit ihrem Kind darüber sprechen, weshalb das nicht klappt. Man muss Regeln vorgeben und sie auch begründen und danach auch Konsequenzen ziehen. Je älter das Kind wird, desto mehr begreift es, dass es keine Strafe ist, sondern dass es zu seinem eigenen Schutz ist.
Sie sagen, gemeinsam Geschichten oder Musik hören verbinde. Warum?
Die Eltern von heute haben oft zu Büchern, Kassetten oder CDs eine persönliche Erinnerung. Es ist ganz besonders, wenn man diese dann an die eigenen Kinder weitergeben kann. Ein Musikbuch etwa, das Heranwachsende über Generationen hinweg in einem Haushalt geprägt hat, bringt natürlich einen ganz anderen emotionalen Wert mit. Man taucht als Erwachsener dann auch ein bisschen in seine Medienvergangenheit ein.
Dagegen erscheint eine Spiel-App geradezu profan…
Gemeinsam ein App zu erkunden kann auch ein geteilter Medienmoment sein. Ein Buch mit emotionalem Wert aber ist mit einer Erinnerung verbunden. Natürlich geht eine Erinnerung tiefer ins Empfinden. Grundsätzlich finde ich es wichtig, dass Kinder und Jugendliche beide Varianten kennenlernen dürfen: sowohl die Seiten in einem Buch durchzublättern, den Geruch von Büchern zu kennen, aber auch die praktischen Vorteile eines E-Books erfahren zu dürfen.
Die Medien ersetzen also auch weiterhin keine realen Erfahrungen?
Nein, auf keinen Fall. Ein Kind, das mit Legoklötzen spielt, lernt viel. Es ist in Ordnung, wenn es auch eine Lego-App hat. Ein Kind, das allerdings nur eine Lego-App hat und keine haptischen Erfahrungen mit Bausteinen macht, verpasst entscheidende Entwicklungsschritte.
Eveline Hipeli ist Kommunikationswissenschaftlerin und Medienpädagogin, sie arbeitet derzeit an der Pädagogischen Hochschule Zürich im Bereich Medienbildung. Sie ist verheiratet und hat selbst zwei junge Mediennutzer zu Hause. In ihrem Buch «Medien-Kids. Bewusst umgehen mit allen Medien von Anfang an» präsentiert Eveline Hipeli Tipps – von Eltern und von Experten, die selber Eltern sind. Die Autorin möchte Medien nicht verteufeln, im Gegenteil. «Sinnvoll eingesetzt, bieten sie viel Positives und können das Leben von Kindern und Jugendlichen bereichern», sagt sie.