Herbst
Kastaniensammeln mit Kindern
Beim Kastaniensammeln werden Kinder zu Goldschürfern: Sie folgen den Spuren der kulinarischen Nuggets und füllen begeistert ihre Eimer und Tüten. Unsere Autorin ist mit ihrer Familie durch die Wälder nördlich des Comersees gestreift – und mit reicher Ernte zurückgekommen.
Unser Programm an diesem Tag ist ein Picknick an der Kapelle mit Aussicht auf den Lago di Dascio. Für die Wanderung von Dascio dort hinauf brauchen wir laut Karte eine halbe Stunde. Ein Klacks sozusagen, selbst für die kurzen Beine unserer Dreijährigen. Trotzdem ist mein Rucksack mit Jacken, Getränken und Broten voll bepackt wie für eine Bergtour. Mein Mann hat die Kraxe geschultert – und unsere Tochter Anouk trägt gut gelaunt ihren gelben Eimer in der Hand. Besorgt hat sie uns zu Hause noch gefragt, ob wir auch ausreichend «Gipfelsnacks» eingepackt hätten, so nennt sie ihre Guetzli für Wanderungen. Denn wir alle rechnen fest damit, ein paar Stunden draussen unterwegs zu sein. Unser eigentliches Ziel liegt nämlich gar nicht auf dem Berg – sondern auf dem Weg dorthin: Esskastanien wollen wir sammeln, die Schätze des Herbstes.
Zwischen Ende September und Mitte Oktober fallen auf den sonnigen Hängen des Tessins, Südtirols und der Lombardei reife Esskastanien wie kleine Nuggets von den Bäumen. Das ploppende Geräusch, wenn sie auf dem Boden aufschlagen, ist der Soundteppich der Wanderungen. Das Vergnügen ist fast überall frei zugänglich: Solange die Kastanienbäume nicht auf Privatgelände stehen, darf man so viele Früchte sammeln, wie man mag.
Wir versuchen unser Glück im Herbst 2020 am Nordzipfel des Comersees: Eine Woche lang gehen wir in den Wäldern und Hängen über Gera Lario, Sorico und Dascio auf die Suche.
«Schau mal, da vorne liegt schon eine», ruft Anouk. Und dann beginnt ihre Jagd. Denn da vorne liegt nicht nur eine, sondern zwei, drei, zehn, zwanzig. Anouks gelber Eimer füllt sich in Windeseile – und ihr Sammeleifer ist kaum zu bremsen. Sie rennt voraus, hüpft über Pfützen und merkt dabei gar nicht, dass sie schon wieder einen Kilometer weit gelaufen ist. Manchmal bleibt sie plötzlich stehen, bückt sich und hebt eine besonders grosse Kastanie auf. «Guck mal Mama, die ist aber wirklich sehr toll», sagt sie dann – so stolz, als habe sie die Kugel eigenhändig aus Knete geformt. Aber ich muss ihr recht geben: Manche der frischen, glänzenden Kastanien sehen wirklich aus wie Kunstwerk. «Daraus kochen wir uns ein Festmahl», rufe ich ihr zu.
Auch meinen Mann und mich packt auf unseren Wanderungen das Sammelfieber. Alle paar Meter bücken wir uns, wühlen mit den Fingern zwischen den stacheligen Hüllen umher und freuen uns wie Kinder, wenn wir ein besonders dickes Exemplar finden.
Kiloweise schleppen wir in dieser Woche die Esskastanien von unseren Wanderungen nach Hause. Wenn es abends kalt wird, rösten wir sie im Ofen und vernaschen sie dann gemeinsam.
Am besten schmecken Kastanien, wenn sie frisch und heiss auf den Tisch kommen. Dann bröckelt mit einem Knistern die Schale ab, und darunter kommt goldgelb und butterweich die geröstete Marone zum Vorschein. Zuerst schmeckt sie süsslich, doch schiebt man sie von einer Backe in die andere, breitet sich ein wunderbares Aroma aus. Viel zu schnell zerschmilzt der heisse Kern im Mund. Zurückbleiben wohlige Wärme und die Erinnerung an Kindheit und Kartoffelfeuer.
Ich liebe den Geschmack von Kastanien, seit ich denken kann. Im Garten neben dem Haus meiner Eltern stand ein Kastanienbaum, der jeden Herbst eine üppige Ernte abwarf. Einige Früchte fielen auch auf unser Grundstück herunter. Die sammelte ich und liess sie abends von meinem Vater in der Pfanne rösten. Noch besser schmeckten mir allerdings jene Kastanien, die ich aus Nachbars Garten stibitzte. Ich bildete mir ein, sie seien grösser, frischer, süsser. Vielleicht klebte aber einfach nur ein bisschen Angstschweiss meines Mundraubs daran.
Grundsätzlich ist Kastaniensammeln überall in der Schweiz erlaubt. Die kantonalen Behörden können das Sammeln aber zeitlich, geografisch und nach Art und Menge beschränken. Im Tessin gedeihen die Kastanien aufgrund des Klimas und der Bodenbeschaffenheit sehr gut. Hier existieren einige thematische Wanderwege wie der «Sentiero del castagno» im Malcantone und der «Sentée da l’albur» im Mendrisiotto. Im Herbst finden in den Dörfern rund um Ascona und im Muggiotal zahlreiche Kastanienfeste statt.
Die grössten Kastanienhaine Europas stehen im unteren Bergell (GR), zwischen den Dörfern Soglio, Bondo und Castasegna. Im Oktober beginnt dort die Erntesaison, dann wird vier Wochen lang die «Festa della Castagna» gefeiert – mit Führungen, Degustationen und thematischen Wanderungen rund um die Kastanie.
In den vergangenen Jahren sind auch in der Zentralschweiz alte Kastanienhaine aufgeforstet und neue erschlossen worden. Viele liegen an den Ufern des Vierwaldstättersees. Zwischen Weggis und Vitznau etwa befindet sich die «Chesteneweid», durch die ein schöner Wanderweg führt. Weitere Haine finden sich in Weggis, Horw, Vitznau, Meierskappel, Adligenswil und in der Stadt Luzern.
Auch der bekannte Autor Otfried Preussler muss Kastanien sehr gerne gegessen haben. Wieso sonst hätte er einem Maronimann ein ganzes Kapitel in seinem Kinderbuchklassiker «Die kleine Hexe» gewidmet? Der arme Maronimann jedenfalls steht frierend auf dem Markt und verbrennt sich jedes Mal die Finger, wenn er die Esskastanien aus dem Feuer holt. Die kleine Hexe sorgt dafür, dass dem armen Kerl nicht mehr so kalt ist – und hinterlässt im Herzen von Millionen Kindern den Wunsch, einmal im Leben den Maronimann zu treffen. Wer weiss, vielleicht treibt er sich ja auf dem Weihnachtsmarkt herum?
Auf den vorweihnachtlichen Märkten kommen viele, die nicht selber sammeln, auf den Geschmack von Kastanien. Denn am Duft der leicht angekokelten Maronen kommt so leicht niemand vorbei. Und die kurze Saison macht die Früchte noch begehrenswerter: Die ersten Kastanien fallen Mitte September, die letzten Ende Oktober und spätestens an Weihnachten muss die Ernte gegessen sein. Denn Kastanien sind kein Trockenobst: Bei falscher Lagerung runzelt ihr Fruchtfleisch, die Haut wird blass, im schlimmsten Fall werden sie auch noch von Schimmelpilz befallen.
Also lieber die eigene Ernte schnell aufessen – oder zu anderen Leckereien weiterverarbeiten.
Denn aus den Früchten lassen sich auch wunderbar cremige Suppen und Eintöpfe kochen, Salate toppen, Gänse füllen und Desserts zaubern. Jeder mittelmässig kücheninteressierte Tessiner kennt ein Rezept für Kastanienkuchen. In Südtirol schwören sie auf Kastaniencreme, in Frankreich rühren sie aus Maronen herzhafte Pasteten zusammen oder beträufeln die Früchte so lange mit Zucker, bis ein «Marron glacé» entsteht. In einigen europäischen Kastanienregionen brauen sie aus Kastanien sogar Bier oder brennen Schnaps damit – und das nicht erst seit gestern.
Denn Kastanien gehören zu den ältesten Nutzpflanzen der Welt. Die getrockneten Blätter dienten früher als Viehfutter im Stall, Stamm und Äste wurden als Baumaterial für Pfähle, Möbel und Werkzeuge eingesetzt. Die Früchte selbst galten als Arme-Leute-Essen, das verlässlich und günstig sättigte.
Doch in den letzten Jahren hat die Kastanie eine Renaissance erlebt: In den Gemüseabteilungen der Supermärkte findet man sie vakuumiert fast das ganze Jahr über zu Preisen, als seien es Preziosen, und in Blogs überschlagen sich Hobbyköche mit Rezepten.
In Deutschland wurde die Esskastanie 2018 sogar zum «Baum des Jahres» gekürt und in vielen Regionen der Schweiz werden neue Kastanienhaine erschlossen. Inzwischen hat die Kastanie sogar Einzug in die gehobene Gastronomie gehalten.
In Anouks Welt besteht die «gehobene Gastronomie» noch aus einem Hochstuhl und ein paar Grissini, die sie in der Dorf-Pizzeria vor dem Essen knabbert. Doch beim Kastaniensammeln in den norditalienischen Wäldern wird sie schnell zur Expertin: Sie heftet ihren Blick auf den Boden und späht konzentriert nach den schönsten Schätzen. Längst nicht alle Exemplare dürfen in ihren Eimer und unsere Tüten: Die wurmstichigen sortieren wir gleich aus, ebenso die angeknabberten. Denn auch für Vögel und Nagetiere sind die Kastanien offenbar eine Delikatesse.
An manchen Tagen begegnen wir auf unserer Schatzsuche Einheimischen, die freundlich grüssen und anerkennend auf unsere Tüten zeigen. Anfangs dachten wir, sie belächelten unsere Sammelwut. Doch nachdem wir einige ältere Herren gebückt im Unterholz sahen, stellten wir fest: Kastaniensammeln ist im Herbst hier ein Volkssport. Viele Einheimische haben geheime Sammelplätze, an denen sie die schönsten Exemplare suchen gehen.
Anouk hat an diesem Tag wieder reiche Beute gemacht: Bereits der dritte Eimer ist jetzt voll. «Ich will jetzt mal was essen», fordert sie. Richtig, das Picknick! Mit Blick auf den See und schneebedeckte Gipfel lassen wir uns Brote und Äpfel schmecken.
Danach möchte Anouk in die Kraxe – Kastaniensammeln scheint anstrengend zu sein. Gut gelaunt lässt sie sich auf dem Rückweg von uns bergab tragen. An manchen Stellen gibt sie mir von ihrem Hochsitz aus zackige Kommandos: «Heb mal die Kastanie da vorne noch auf, Mama.» Doch kurz bevor wir in Dascio einlaufen, fallen ihr die Augen zu. Und als ich sie zu Hause schlafend aus der Kraxe hebe, kullert aus ihrer Hand eine kleine Kastanie.
Das Schreiben hat Stéphanie Souron an der Hamburger Henri-Nannen-Journalistenschule gelernt. Bei der Erziehung ihrer kleinen Tochter benötigt sie allerdings täglich Improvisationstalent: Das Mädchen hat Energie für Drei und liebt es, überallhin «schnell» laufen. Am liebsten ist unsere Autorin mit ihr und ihrem Mann draussen in der Natur unterwegs.