Kinderspital
Im Notfall
Zwei grosse Flachbildschirme hängen über dem Herz der Notfallaufnahme, dem Eingang zum Büro des Arzt- und Pflegeteams im Kinderspital Zürich. Sie sind Orientierungshilfe für die sieben diensthabenden Ärzte und Pflegefachfrauen. Für jeden der kleinen Patienten im Warteraum oder in einem der Behandlungszimmer ist eine Zeile reserviert. Links steht die exakte Eintrittszeit, daneben Name und Geburtsdatum, die Nummer des Behandlungszimmers, das Gewicht, das beim Eintritt gemessen wurde und für eine allfällige Medikamentendosierung wichtig ist. Weiter ist ersichtlich, wer sich um das Kind kümmert, ob Massnahmen wie Röntgen verordnet und durchgeführt wurden und schliesslich noch die Dringlichkeit des Falls und der Eintrittsgrund.
Sieben Kinder sind an diesem Montagabend im Juli um 19 Uhr auf der Notaufnahme, wurden wegen eines Unfalls aus dem Alltag gerissen oder sind krank – und die Sorge um sie hat ihre Eltern veranlasst, hierher zu fahren. Sieben Kinder sind nicht viele, sie füllen bloss knapp die Hälfte eines Monitors. «Im Winter sind oft beide Bildschirme voll», sagt Georg Staubli, Leiter des Kispi- Notfalls. Doch es ist Ferienzeit. «Wir haben ein Sommerloch», meint der Arzt. Sein Schmunzeln macht deutlich, dass ihn das freut – für die Eltern und für die Kinder, die ihre Ferien unversehrt geniessen können.
Befürchtungen zerstreuen
Wer heute Abend auf den Notfall kommt, muss keine langen Wartezeiten absitzen. Ziel ist auch in Spitzenzeiten, dass es am Empfang nicht länger als zwei Minuten dauert, bis eine Pflegefachfrau eine Erst-Triage macht, also den Patienten anschaut, die Personalien aufnimmt und entscheidet, wie dringlich der Fall ist. Triage 1 bedeutet sofortige Behandlung, Triage 5 in den nächsten zwei Stunden.
In einer Zweit-Triage schaut eine Pflegefachfrau den Patienten nochmals genauer an, verabreicht wo nötig Schmerzmittel oder korrigiert die Dringlichkeit – nie nach oben, sondern nur nach unten. «Kommen akute Notfälle herein, warten Patienten mit weniger hoher Dringlichkeit länger», erklärt Staubli. 40 Minuten beträgt die durchschnittliche Wartezeit, vor zehn Jahren waren es noch zwei Stunden.
Gerade mal 10 bis 15 Minuten dauert es für Rino Stellato und seine Eltern, bis ein Arzt kommt, obwohl der Vierjährige der Triage 4 zugeordnet ist. Rino hat eine geschwollene Handfläche, seit er vor zwei Tagen im Gras umgefallen ist. Das schwarze Pünktchen deutet auf einen Insektenstich hin. Als der Bub auch noch Fieber bekommt, kontaktiert die Mutter den Kinderarzt, dieser schickt die Familie ins Kinderspital. Von der Assistenzärztin Carlotta Ponzio gerufen, die Rinos Hand bereits angeschaut hatte, bestätigt Georg Staubli deren Vermutung, dass es sich um eine Lokalreaktion handelt. Klärt die Eltern auf, dass die Schwellung drei Tage nach einem Stich am schlimmsten ist und bis zu zehn Tage dauern kann. Die Befürchtung der Eltern, es handle sich um eine allergische Reaktion, kann er zerstreuen: «Diese würde in den ersten 30 Minuten nach dem Stich auftreten und mit Schwellungen am ganzen Körper einhergehen.» Er empfiehlt Fenistil- Tropfen und die lokale Kühlung der Hand 3 x 20 Minuten täglich.
Rino ist heute Abend nicht der letzte Patient mit Insektenstich. Ebenfalls gleich mehrmals erscheinen Kinder mit Brechdurchfall, geprellten Gliedmassen und lädierten Knochen – typisch für einen Sommerabend. Wieder zurück im Büro trägt Assistenzärztin Ponzio den Befund am Computer in der Patientendatei ein. Währenddessen schaut Staubli mit Assistenzarzt Bernhard Voss an einem Wandmonitor das Röntgenbild der Lunge von einem einjährigen Mädchen an. Voss erklärt Staubli in knappen Worten den Fall. Das Kleinkind ist hier, weil es beim Essen stark zu husten begann und fast nicht mehr aufhörte. Die Mutter hat Angst, dass Broccoli- oder Pouletstückli in die Lungen gelangt sind, doch auch Staubli kann auf dem Bild keinen Fremdkörper erkennen. «Dieser Austausch mit den Assistenzärzten ist wichtig, ganz besonders bei Unsicherheiten», erklärt Staubli. Die Stimmung im Büro ist locker, aber konzentriert. Und weil heute so wenig los ist, schlecken ein paar Teammitglieder um 21 Uhr sogar Glace: «Eine Seltenheit!», freuen sie sich.
Verbesserte Qualität Wer die Notfallnummer eines Kinderspitals wählt, wird – wenn die Situation nicht eine sofortige Notaufnahme erfordert – oft an das kostenpflichtige 0900-Beratungstelefon verwiesen. Ab 1. Oktober 2014 wird das Beratungstelefon neu organisiert. Bisher wurden die Anfragen von einem Callcenter entgegengenommen. Um den Service zu verbessern, haben sich nun mehrere Kinderkliniken zusammengeschlossen und betreiben ein eigenes Beratungstelefon für Kindernotfälle. Die Beraterinnen sind erfahrene Pflegefachfrauen oder medizinische Praxisassistentinnen, die schon lange mit Kindern gearbeitet haben.
Kostenpflichtiges Beratungstelefon für Eltern
0900 266 711
Fr. 3.23 pro Minute, aus dem Festnetz
In lebensbedrohlichen Situationen
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Ambulanz-Rettungsdienst
Keine fünf Minuten später ist Raphael Zellweger parat für einen Minieingriff. Ein Blumentopf ist auf die Zehe des Viereinhalbjährigen gefallen, wahrscheinlich steckt noch ein Stücklein Scherbe drin. Die Anästhesiesalbe, die vor einer Stunde aufgetragen wurde, sollte nun so gut wirken, dass die Wunde verarztet werden kann. Bevor die Zehe mit einer Spritze komplett unempfindlich gemacht wird, erhält der Bub Lachgas. Die Pflegefachfrau lässt ihn das Aroma wählen: Vanille, Beeren oder Schoggi? Raphael entscheidet sich für Vanille. Die Maske mit dem Gas wird aufgesetzt:«Jetzt musst du tief einatmen, wie bevor du im Schwimmbad untertauchst.» Die Mama streichelt Raphaels Arm, dieser drückt seinen Plüschbären, Papa nimmt Mamas Hand. Um 21.32 Uhr kommt Staubli herein. Als erstes wird er gebeten, den Fernseher über der Behandlungsliege anzustellen. Dann gehts zur Klein-Operation an der winzigen Zehe. Staubli reinigt die Wunde von Dreck und undefinierbarem Material – sind es Tomatenstückli? Es ist nun ganz ruhig im Behandlungszimmer, nur die Stimmen von «König der Löwen» sind zu hören. Schliesslich erklärt Staubli den Eltern, der Schnitt sei tief und das Nagelbett abgelöst, der Nagel werde aber mit grösster Wahrscheinlichkeit wieder normal nachwachsen. Um 21.40 Uhr beginnt Carlotta Ponzio, die Wunde mit wenigen Stichen zu schliessen. Raphael spürt immer noch keinen Schmerz, kann bald heim ins Bett. Würde aber eigentlich lieber noch «König der Löwen» fertig schauen.
In der Zwischenzeit wurde eine Ambulanz angemeldet, ein neunjähriges Mädchen mit Rücken- und Beckenprellung ist auf dem Weg ins Kinderspital. Laut Einschätzung der Sanitätsärzte handelt es sich nicht um einen akuten Notfall, die Triage beträgt den Mittelwert 3. Die Eltern jedoch stehen unter Schock – und möchten nicht, dass Journalisten bei der Untersuchung dabei sind. «Es kommt vor, dass Kinder auch mit vergleichsweise einfachen Verletzungen mit der Ambulanz oder sogar mit der Rega ins Spital kommen», sagt Staubli. Sie müssen dann warten, wie alle anderen auch. Für lebensbedrohliche Fälle gibt es am Ende des Gangs einen Schockraum mit sehr nahem Zugang zum Helikopterlandeplatz. Wird ein solcher Patient telefonisch angekündigt, steht in wenigen Minuten ein zehnköpfiges Team parat, bestehend aus Notfall-, Intensiv- und Anästhesieärzten, Pflegenden und allenfalls weiterer Disziplinen.
Mittlerweile ist es 22.20 Uhr. Am Empfang bei Nachtportier René Hummel, dessen Schicht um 21.45 Uhr begonnen hat und um 6.30 Uhr endet, ist es heute ruhig wie selten: «Bis Mitternacht ist hier in der Regel viel los. Kann ein krankes und leidendes Kind nicht schlafen, sind die Eltern oftmals beunruhigt. » Auch hohes Fieber und langes Weinen sei ein Grund für die Fahrt ins Kispi. «Am liebsten würden dann die Eltern die Verantwortung gleich hier am Empfang abgeben», sagt er lächelnd. Erfahrungsgemäss seien zwei Drittel der Fälle keine akuten Notfälle. Zum Glück! Für Laien ist es zudem nicht einfach abzuschätzen, ob eine sofortige Behandlung nötig ist. Lieber einmal zu viel als zu wenig in den Notfall, sagen sich die meisten Eltern. Und Staubli, der nach einem Kurzbesuch auf der Bettenstation zurückkehrt, ergänzt: «Wir sind für jedes Mami und jeden Papi da, die in Sorge um ihr Kind sind.»
Die Eltern dürfen bei der Untersuchung selbstverständlich dabei sein. «Sie sind eine Stütze für das Kind und eine Hilfe für die Behandelnden, aber nicht immer», sagt der Notfallarzt.
Zum Beispiel bei Luana*. Das neunjährige Mädchen hat vor vier Wochen den Arm gebrochen und am Morgen einen neuen Gips erhalten, der nun mehr weh tut als der alte. Wie ein Häufchen Elend sitzt es auf dem Behandlungstisch, der Gips ist weg, aber jede Berührung treibt neue Tränen in die Augen. Morgen soll Luana mit dem Vater für zwei Wochen nach Kroatien fahren und jetzt das, klagt die Mutter: «Ich bin gegen die Reise, kann sie aber nicht verhindern. » Während die Mutter nervös durch den Raum schreitet, sich Tränen wegwischt und geräuschvoll die Nase schnäuzt, stehen Staubli und zwei Pflegefachfrauen wie in einem Schutzkreis um das Mädchen herum, plaudern ungezwungen mit ihm, untersuchen die geröteten Stellen rund um die Schrauben und binden den Arm neu ein. Luana, zusehends zuversichtlicher, redet jetzt lauter und lacht sogar ein bisschen.
Es ist 24 Uhr. Ein letzter Blick auf den Bildschirm im Teambüro: Fünf Patienten sind im Moment hier. 60 wurden in den letzten 24 Stunden behandelt; an Spitzentagen sind es 190. Die Ärzte und Pflegefachfrauen der Abendschicht sind um 23 Uhr gegangen, bereits ist die Nachtschicht im Einsatz. Die Chancen stehen so gut wie selten, dass auch Georg Staubli seinen Arbeitstag wenige Minuten nach Dienstschluss um 24 Uhr beenden kann.
**Name geändert*