Homöopathie bei Kindern
Hilfe aus dem Kügeli-Lager
«Der Anstoss kam von ihm», sagt Sonja Stämpfli, Mutter der zweijährigen Maeva, und deutet mit dem Kopf zu ihrem Mann. «Ich bin der Globulimann», nickt Philipp. Daran ist eine chronische Angina schuld, die er als Junge erst mit Homöopathie los wurde. Seither gibt es für Stämpfli keine Zweifel, dass die Globuli wirken. «Ich war vor 20 Jahren das letzte Mal bei einem Arzt. Aber ich bin nicht per se gegen die Schulmedizin. Wir haben unsere Tochter auch geimpft.»
Auf dem Küchentisch der Stämpflis liegt eine in Leder eingebundene Haus- und Notfallapotheke für Kinder. Bestückt ist sie mit den gängigsten 28 Mitteln: Chamomilla gegen Zahnungsbeschwerden, Bauch- und andere Schmerzen, Belladonna als klassisches Fiebermittel, Ferrum phosphoricum als Fieber- und Ohrenmittel. Töchterchen Maeva springt zum Tisch, sie hat mitbekommen, dass über «ihre Bonbons» gesprochen wird. «Wir haben ihr schon mehrmals Globuli gegeben», erzählt Sonja, die zu Beginn eher skeptisch war. Doch dann machte sie die Erfahrung, dass die Kügeli bei Zahnungsbeschwerden, Neurodermitis und bei einem Pseudokrupp-Anfall geholfen haben. «Klar doch! Alles andere hätte mich gewundert », meint Philipp Stämpfli.
Das wiederum überrascht: Schliesslich arbeitet der studierte Ingenieur als Informatiker an der ETH im Bereich der Hirnforschung. Nicht gerade das esoterisch angehauchte Umfeld, indem man überzeugte Homöopathie-Anhänger erwarten würde. Auf die Problematik des umstrittenen Wirksamkeitsbeweises angesprochen, antwortet er wie aus der Pistole geschossen: «Das wird bis heute falsch untersucht.» Die Wirkungsweise der Homöopathie beschäftigt die Medizin seit 200 Jahren: In einem Selbstversuch hatte der Arzt und Chemiker Samuel Hahnemann herausgefunden, dass eine Substanz, die bei einem gesunden Menschen Beschwerden auslöst, einen Kranken heilen kann. Hahnemann nahm daraufhin Chinarinde zu sich, die seinerzeit zur Bekämpfung der Malaria verwendet wurde, und stellte danach malariaähnliche Symptome bei sich fest. Daraus leitete er den Lehrsatz ab: Ähnliches kann mit Ähnlichem geheilt werden.
Sanfte Methode
Als Hahnemann etwa herausfand, dass Patienten auf das hochgiftige Schwermetall Thallium mit Haarausfall reagierten, setzte er den Stoff gegen Haarausfall ein. Natürlich verdünnt, was in der Sprache der Homöopathen «potenziert» heisst. Damit schuf er ein Paradigma, dessen Beweis bis heute fehlt: Hahnemann postulierte, mit der Verdünnung werde die Wirkung verstärkt. Bereits eine Hochpotenz aus D24 (siehe Box) enthält kein Molekül mehr. Und dennoch soll dieses «geschüttelte Nichts» wirken. Klar ist aber auch: Hahnemanns sanfte Heilweise war, gings ums Überleben, die bessere Alternative als die meisten anderen medizinischen Heilmittel. Aderlass, Klistier, Brech- und Abführmittel waren regelrechte Rosskuren. Kein Wunder, fand die Homöopathie schnell Fans und Anhänger.
Bis heute zählt die Homöopathie zu den beliebtesten komplementärmedizinischen Heilmethoden. Rund 60 Prozent der Schweizer haben Erfahrung mit Homöopathie. Dazu gehören neben klassischen Mitteln auch sogenannte Komplexmittel mit mehreren Wirkstoffen. Weil diese Präparate nur niedrig potenziert, also wenig verdünnt sind, und mehr als einen Wirkstoff enthalten, gelten sie nicht als «echte Homöopathie». Tatsächlich ist das A und O einer homöopathischen Therapie die richtige Mittelfindung, die einer detektivischen Spurensuche gleicht. Sowohl die momentane Stimmung als auch Vorlieben und Abneigungen sind wichtig, um das passende Mittel zu finden.
Homöopathen fragen in der Erstanamnese nach Ängsten, Träumen, nach dem Lieblingsfilm oder nach dem Lieblingsbuch. Bei den kleinen Patienten macht das nur bedingt Sinn. Kleinkinder sind zur Beantwortung all dieser Fragen nicht in der Lage. Der renommierte Kinderarzt und Homöopath Heiner Frei warnt denn auch davor, zu stark zu psychologisieren: «Die Konsultation bei einer akuten Erkrankung beinhaltet eine kurze Anamnese, dann die Untersuchung des Kindes, genau wie sie auch in der konventionellen Medizin praktiziert wird», erklärt er. Anschliessend erhalten die Eltern eine Checkliste, aus der sie die für die homöopathische Mittelbestimmung relevanten Symptome des Kindes herausschreiben. Mithilfe dieser Symptome erfolgt die computergestützte Repertorisation, die zum Mittelentscheid führt. Das Kind erhält das bestpassende homöopathische Arzneimittel direkt in der Praxis. Den Eltern wird zusätzlich das nächstähnliche Mittel als Reserve mitgegeben. Sie können dieses verabreichen, wenn sich die Symptome nach zwei Tagen nicht deutlich verbessert haben.
Beispiel Mittelohrentzündung
Wie können Eltern verhindern, dass eine rechtzeitig eingeleitete konventionelle Therapie nicht verpasst wird? «Das lässt sich am besten am Beispiel der Mittelohrentzündungen beantworten. Da diese in der Regel sehr schmerzhaft sind, muss die Homöopathie schnell Abhilfe schaffen. Tritt innerhalb von sechs Stunden nach der Einnahme des ersten homöopathischen Arzneimittels keine signifikante Besserung ein, verabreichen die Eltern das Reservemittel. Hat das Kind nach weiteren sechs Stunden immer noch Schmerzen, geben sie dem Kind ein Antibiotikum, das sie vorsorglich ebenfalls mit nach Hause bekommen haben.» Auf diese Weise können 72 Prozent der Kinder mit Homöopathie geheilt werden und die restlichen 28 Prozent ebenfalls, ohne dass irgendwelche Risiken eingegangen werden. Natürlich gebe es Erkrankungen, etwa eine Hirnhaut- oder Blinddarmentzündung, bei denen das Kind sofort schulmedizinisch behandelt werden muss. Bei den nichtärztlichen Homöopathen stellt Frei sehr grosse Qualitätsunterschiede fest. Das Hauptproblem ortet er in den mangelnden schulmedizinischen Kenntnissen. «Es ist ein Kunstfehler, homöopathisch zu behandeln, wenn Schulmedizin die bessere Behandlungsmethode ist. Aber es ist auch ein Kunstfehler, schulmedizinisch zu behandeln, wenn Homöopathie die bessere Methode ist.»
Besonders Kinder sprechen gut auf Homöopathie an. Wahrscheinlich deshalb, weil Kinder weniger belastet und weniger dem Stress ausgesetzt sind als Erwachsene. Martin Frei-Erb, Hausarzt und Dozent für Komplementärmedizin an der Kollegialen Instanz für Komplementärmedizin (Kikom) der Universität Bern, sagt: «Homöopathie ist ein ausgezeichnetes Werkzeug. Patienten nur homöopathisch behandeln zu wollen, ist jedoch ein völlig falscher Ansatz.»
Individuelle Mittelwahl
Der Wirksamkeitsnachweis allerdings bleibt: Stichwort placebokontrollierte Doppelblindstudien. In diesen Versuchsreihen bekommt ein Teil der Patienten die zu untersuchende Arznei verabreicht, eine Kontrollgruppe schluckt ein Placebo, also Pillen ohne Wirkstoff. «Doppelblind» heissen die Studien, weil weder der Arzt noch die Patienten wissen, wer das Placebo bekommen hat und wer die Arznei. Erst beim Auswerten wird das Geheimnis gelüftet. Noch vor wenigen Jahren jaulten die meisten Homöopathen bei diesem Wort auf. Mit gutem Grund: Die Hahnemannsche Lehre ist eine ganzheitliche Methode und die Medikamente werden individuell ausgesucht. Kopfschmerzen zum Beispiel können ganz unterschiedliche Ursachen haben. Weshalb unterschiedliche Patienten auch mit unterschiedlichen Mitteln behandelt werden. Während Verlaufs- und Beobachtungsstudien die Erfolge der Homöopathen gut dokumentieren, verflüchtigen sie sich in den meisten Doppelblindstudien. Inzwischen gibt es aber einige qualitativ gut gemachte Doppelblindstudien, welche die spezifischen Umstände berücksichtigen und den Beweis erbringen, dass sich die Wirkung der Homöopathie von derjenigen von Placebo unterscheidet. «Die Homöopathie ist aber gefordert, die Präzision ihrer Verschreibungen zu verbessern, damit solche Studien auch erfolgreich durchgeführt werden können», meint Heiner Frei.
Fortschreitende Globulisierung
Kalkuliert
♦ 110 Millionen Franken wurden nach Schätzung des Schweizerischen Verbands für komplementärmedizinische Heilmittel (SVKH) 2010 mit Globuli und Co. umgesetzt.
Anerkannt
♦ 275 Ärztinnen und Ärzte haben den Homöopathie-Fähigkeitsausweis, der von der Ärztegesellschaft FMH anerkannt ist.
Registriert
♦ 1078 Homöopathen sind beim Erfahrungsmedizinischen Register (EMR) in Basel registriert. Daneben gibt es eine Gruppe «wilder» Therapeuten aus der paramedizinischen Szene, die auch noch Homöopathie anbieten.
Verdünnen und verschütteln
♦ Die verwendeten Substanzen sind pflanzlichen, tierischen oder mineralischen Ursprungs. Sie werden nach einem komplizierten Verfahren zu einem Auszug, auch Urtinktur genannt, verarbeitet. Diese wird durch stufenweises Verdünnen mit Wasser und Alkohol und durch Verschütteln (Potenzieren) immer mehr von ihrem materiellen Teil befreit.
♦ Bei der Potenz D1 kommt ein Tropfen Wirkstoff auf neun Tropfen Lösungsmittel. Hier wird die Substanz in Zehnerschritten verdünnt. Wird die 1:10-Verdünnung neunmal wiederholt, entspricht das der Potenz D9. Ab der Potenz D 24 ist rein statistisch kein Molekül der ursprünglichen Substanz mehr vorhanden. Wird im Verhältnis 1:100 verdünnt, nennt man das Ergebnis C1, C2 usw. Bei den Q-Potenzen ist das Verhältnis sogar 1:50 000. Je höher die Zahl hinter dem Buchstaben, desto stärker und dauerhafter soll die Wirkung sein.