Serie | Der Hörsinn
Ein Winzling ist ganz Ohr
Bei den Mbuti, einem Pygmäenstamm im Kongo, Zentralafrika, zieht sich eine Schwangere zurück, sobald sie ihr Ungeborenes spüren kann. Sie beschreibt ihrem Kind singend die Welt, in der sie lebt und in die es geboren wird. Die Melodie und der Text sind das erste Erbe der werdenden Mutter an ihr Kleines. Und genau dieses Lied wird das Kind anschliessend durchs Leben begleiten, wird immer wieder gesungen, etwa bei wichtigen Ereignissen und Feiern.
Mozart und Poesie?
Bereits am siebten Tag, der Embryo ist gerade mal acht Millimeter gross, lassen sich unter dem Mikroskop erste Ansätze für Ohren erkennen. Mit zwanzig Wochen ist das Ohr fertig – als einziges Organ lange vor der Geburt. Jetzt kann das Baby hören.
Doch was genau es von seiner Aussenwelt mitbekommt, darüber scheiden sich die Geister. Das Lager der
Frühförderungsanhänger schwört auf Fötus-Berieselung mit Mozart und Bach, auf Tonsequenzen, Trommelklänge und poetische Gedichte zwecks Steigerung des IQs und zukünftiger verbesserter Lernfähigkeit des werdenden Sprösslings. Auf dem Markt gibt’s reichlich Geräte, mit denen Babybäuche beschallt werden können, der Verkauf entsprechender CDs und DVDs floriert.
Alles Humbug? Kritiker des pränatalen Coachings argumentieren, dass das laut pochende Herz der Mutter, die Atmung, das strömende Blut, der Darm, der gluckert, der Magen, der rumpelt und Geräusche verursacht, so laut wie eine Klospülung, so lärmintensiv sind wie ein Leben an der Autobahn. Vorgeburtlicher Unterricht, so Experten, bringe nichts, mache die Kinder weder schlauer noch besser. Kurt Hecher, Direktor der Uniklinik für Pränatalmedizin in Hamburg sagt in einem Interview in «Die Zeit», dass die fötalen Nachhilfestunden schlicht «jenseits jeglicher rationaler Überlegungen» seien.
In einem aber sind sich alle einig: Die Stimme der Mutter, ihr Herzschlag, beim Einschlafen, beim Aufwachen, sind es, was der Fötus hört, das gibt Sicherheit, Geborgenheit. Die sonore Stimme des Papas, die regelmässig und nah am Bauch zu ihm spricht, ist Gehörtes und Erlebtes, weckt Vertrauen. Die Sprechmelodie und der Rhythmus, an diese Informationen erinnert es sich, die erkennt es nach der Geburt.
Hören können ist jedoch nicht selbstverständlich. Eines von 1000 Kindern hat laut Universitätsspital Bern bereits bei der Geburt eine Hörstörung, die behandlungsbedürftig ist. Gründe dafür können Infekte der Mutter während der Schwangerschaft sein wie zum Beispiel Röteln oder Toxoplasmose, aber auch Komplikationen während der Geburt wie beispielsweise Sauerstoffmangel. Und: Selbst wenn beide Eltern normal hören, sind genetische Ursachen für Hörstörungen möglich. Um festzustellen, ob das Gehör des Babys in Ordnung ist, wird heute ein paar Tage nach der Geburt ein NeugeborenenGehörscreening durchgeführt. Der Test dauert etwa zwei Minuten und ist absolut schmerzfrei.
«Ohne das Screening ist es gar nicht so einfach, Hörprobleme früh genug zu bemerken», sagt Martin Kompis, Professor und leitender Arzt Audiologie der HNOKlinik am Inselspital Bern. «Bevor das Screening eingeführt wurde, wurden viele Kinder erst im Alter von zwei bis drei Jahren zur ersten Abklärung gebracht», so Kompis. Dabei wären frühe Massnahmen wichtig. «Bei angeborener Schwerhörigkeit sollte das Kind mit etwa sechs Monaten mit Hörgeräten versorgt sein, wobei man heute häufig schon früher beginnt.»
Taubheit gibts nicht mehr
Gründe für später auftretende Hörprobleme können unter anderem Infekte wie Mumps oder Hirnhautentzündungen, Belüftungsstörungen des Mittelohrs oder Unfälle sein, die das Ohr betreffen.
Wie aber merkt man eigentlich, dass ein Kind nicht gut hört? Zeichen dafür können verzögerte Sprachentwicklung sein, eine gepresste Stimme, hohe Stimmlage, vermehrter Blick auf die Lippen des Sprechenden (s. Box). Martin Kompis betont aber, dass Babys, die bei zuschlagenden Türen erschrecken, auf Klatschen oder Fingerschnippen reagieren, nicht zwangsläufig gut hören würden. «Auf diese Signale reagieren auch viele schwerhörige Kinder.» Fachleute empfehlen, bei Verdacht auf Hörschwierigkeiten einfach mal einen Kinderarzt aufzusuchen. Denn auch bei neu erworbenen Hörstörungen gilt: je eher, je besser.
Interessant ist: Die absolute Taubheit gibt es praktisch nicht mehr. «Sogar vollständig gehörlosen Kindern kann mit CochleaImplantaten zu einem Sprachverstehen und meist auch zu einem normalen Schulbesuch verholfen werden», so der Spezialist. In der Berner Universitätsklinik werden jährlich rund 2500 Kinder behandelt. Die Erfolgsbilanz sieht gut aus. Kompis: «Mit den heutigen technischen Möglichkeiten können fast alle Kinder wieder hören, egal, wie gut oder schlecht ihr Gehör an sich ist.» Doch nach wie vor gebe es Fälle, bei denen auch die Spezialisten an Grenzen stossen würden: «Es gibt zum Beispiel Familien aus anderen Kulturkreisen aber auch Schweizer Eltern, die grundsätzlich Mühe haben, ihrem Kind mit einem sichtbaren, wenn auch unauffälligen Hörgerät, zu helfen. Sie zu überzeugen ist schwierig. Solche Herausforderungen bleiben.»
Hörtest beim Neugeborenen
Screening mit Minisonde
Das Neugeborenen-Gehörscreening findet am zweiten oder dritten Lebenstag auf der Wochenbettstation statt. Die Untersuchung dauert ungefähr zwei Minuten, ist absolut schmerzfrei für das Neugeborene und kann durchgeführt werden, während es schläft. Dabei wird eine zierliche Sonde, die leise Klicklaute erzeugt, in das Ohr eingeführt. Wenn die Ohren gesund sind, reagieren sie darauf mit «otoakustischen Emissionen». Diese werden von dem angeschlossenen Messgerät registriert und gemessen. Das Screening gilt als bestanden, wenn mindestens ein Ohr normale Werte aufweist.
Hörprobleme erkennen
Pränatale Hörprobleme
- Genetisch bedingte Erbleiden.
- Infektionen während der Schwangerschaft wie Toxoplasmose, Röteln.
- Sauerstoffmangel oder Hirnblutung während der Geburt
Erworbene Hörprobleme
- Verstopfter Gehörgang durch Ohrenschmalz (Cerum)
- Mittelohrentzündung bei Grippe, Hirnhautentzündung, Mumps oder Masern.
- Akustisches Trauma z. B. Abfeuern von Spielzeugpistolen oder Feuerwerk.
Mögliche Anzeichen
- Dreht mit 6 Monaten seinen Kopf nicht in die Richtung der Schallquelle.
- Keine Fortschritte in der Sprachentwicklung nach 9 Monaten.
- Erwacht oder erschrickt bei lauten Geräuschen wie Türenschlagen nicht.
- Antwortet auf Ansprechen nur verzögert oder gar nicht.
- Hat häufig Ohrenentzündungen oder Schnupfen.
- Hat nur wenige soziale Kontakte oder wirkt verträumt.
Hörgeräte und Implantate
Die Klassiker
Die klassischen Hörgeräte werden, je nach Hörstörung, je länger je mehr von den technischen Neuheiten verdrängt. Schöner, kleiner und vor allem erfolgsversprechender sind die modernen Geräte.
Die Speziellen
Knochenverankerte Hörgeräte (BAHA). Bei sogenannten Schallleitungs-Schwerhörigkeiten kann das Hörvermögen mit diesem speziellen Hörgerät, bei welchem die Schallübertragung über eine kleine, hinter dem Ohr implantierte Halteschraube erfolgt, verbessert werden. Der notwendige, kleine chirurgische Eingriff erfolgt in der Regel in lokaler Betäubung.
Implantierbare Hörgeräte
Bei implantierbaren Hörgeräten befindet sich ein Teil der Hörhilfe im Inneren des Körpers. Dadurch kann der Gehörgang freigehalten werden.
Cochlea-Implantate
Wird bei beidseitiger an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit angewandt. Cochlea-Implantate stimulieren den Hörnerv direkt elektrisch und können sowohl für Erwachsene als auch für Kinder ab dem 2. Lebensjahr einen grossen Hörgewinn bringen.