Familienbegleitung
Eltern sind wie Muskeln...
... man kann sie stärken, damit die Last der Probleme die Familie nicht in die Knie zwingt. Daran arbeiten sozialpädagogische Familienbegleiter:innen. Aber was genau tun die?
Wenn sich hier eines lernen lässt, dann das: Elternsein ist sauschwer. Und manchmal – zu schwer. Dann knicken ganze Familien unter der Last ein. Aber lernbar ist auch: Für Eltern gilt das Gleiche wie für schwache Muskeln – man kann sie stärken. Daran arbeitet Maria Brokopp. Sozialpädagogische Familienbegleiterin im Kanton Zug.
Aber von Anfang an
Den Anfang macht Maria Brokopp an diesem Freitagmorgen um 8 Uhr. Dann kommt die 36-Jährige in ihr Büro bei «punkto Eltern, Kinder und Jugendliche» in Baar, holt sich in der Gemeinschaftsküche einen Kaffee, fährt den Rechner hoch, beantwortet Mails und SMS. Nur sind ihre Mails und SMS ein bisschen speziell. «Brief von Staatsanwalt für Sohn» heisst eine Nachricht. «XY ist nicht zum Elternabend erschienen, bitte um Rücksprache.» «Die Mutter von Y ist wegen des Rezeptes nicht zu erreichen», meldet eine Apotheke. Maria Brokopp arbeitet Mail für Mail und SMS für SMS ab. Sie macht Termine, führt Telefonate, regelt, plant. Das Leben anderer Menschen, genauer: das Leben stark belasteter Familien, so lange mitzuorganisieren, bis diese das vielleicht irgendwann selbst können. Das ist ihr Auftrag. Oder wie Maria Brokopp es erklärt: «Mein Job ist es, mich möglichst schnell überflüssig zu machen.»
Mehrere Hundert – exaktere Zahlen existieren nicht – sozialpädagogische Familienbegleiter:innen wie sie gibt es in der Schweiz. Zusammengeschlossen in 49 Institutionen und 13 Einzelanbietern. Wobei das nur diejenigen sind, die zum Fachverband gehören. Doch ob «freie» oder «organisierte» Anbieter: Allen gemeinsam ist, dass sie händeringend eines suchen: sozialpädagogische Familienbegleiter:innen. Denn der Bedarf wächst und wächst. Sowohl bei den Familienbegleitungen, die behördlich angeordnet sind, als auch bei denen, die empfohlen werden. Dazu kommen all jene Eltern, die sich aus eigenem Antrieb Unterstützung holen. Deren Zahl läge wohl höher, wäre bekannter, was das ist, Sozialpädagogische Familienbegleitung.
Flämmchen löschen
Tja, was ist das? Es ist eine Leitersprosse. Eine, die ein paar Sprossen höher liegt als eine Erziehungsberatung und ein paar tiefer als eine Fremdplatzierung des Kindes in Heim oder bei Pflegeeltern. Die nämlich wird notwendig, wenn Hilfe nicht fruchtet. Das Kindswohl gefährdet bleibt, weil das Feuer unterm Dach der betroffenen Familie zu hell lodert. Familienbegleitung löscht Flämmchen, bevor daraus Flammen werden.
Seit den 1980er-Jahren gibt es hierzulande professionelle Sozialpädagogische Familienbegleitung, SPF. Inzwischen ist sie, wie Forschende der Hochschule Luzern in einer Studie schreiben, die «wichtigste ambulante Grundleistung der Kinder- und Jugendhilfe in der Schweiz». Ambulant heisst nicht nur, dass die Kinder nicht stationär, sondern bei den Eltern aufgezogen werden. Es heisst auch, dass die Begleiter:innen zu den Familien nach Hause gehen und vor Ort nach dem Rechten schauen, erklären, helfen. Und «ambulant» ist auch deshalb ein gutes Wort, weil es nach Ambulanz und Blaulicht klingt und nach Herumsausen. Das passt.
Freitag, 9 Uhr:
«Die ganzen Anträge, Protokolle, Abrechnungen und Aktennotizen mach ich später», ruft Maria Brokopp: «Wir können gehen.» Sie streicht sich nochmal über den braunen Bob, schnappt ihren Rucksack, packt eilig den eingetupperten Tomaten-Mozzarella-Salat obendrauf, den sie heute Mittag essen will. Und dann: los.
Freitag, 9.30 Uhr:
Irgendwo im Kanton Zug. Hier wohnt die Familie Yildiz*. Und weil alle übel husten, sind sie an diesem Vormittag daheim. Seit 18 Jahren lebt die Familie hier. Vor einem Jahr trennte sich Frau Yildiz von ihrem Mann. Schläge, Demütigungen, all das. In ihrem türkischen Bekanntenkreis bedeutete die Trennung das soziale Aus. Nicht für den Mann. Für Frau Yildiz. Denn den Ehemann verlassen, nein, das tut eine gute Frau nicht. Aber eine gute Mutter, die tut das trotzdem, fand Frau Yildiz. Weil nämlich sonst die Kinder leiden. Das Problem: Jahrelang hatte ihr Mann alles für die Familie geregelt: Geld verdient, die Steuer erledigt, Briefe von Ämtern beantwortet, Schulkram unterschrieben. Sämtliche Dinge gemacht, für die es dieses Deutsch braucht, das für die 51-Jährige noch immer so schwer verständlich ist. Doch unverständliche Post einfach monatelang ungeöffnet liegen zu lassen, sorgt auf Dauer für Ärger und dafür, dass Behörden aufmerksam werden.
Maria Brokopp, Familienbegleiterin
Jetzt steht sie da. Und mit ihr Malik und Kaya. Kaya kommt im Sommer aufs Gymnasium. Die Zeit, ständig Papierkram für ihre Mutter zu erledigen, hat sie jetzt nicht mehr und Lust, ihrem Bruder Malik, der sich in der Schule schwertut, Nachhilfe zu geben, auch nicht. Das führt zu heftigem Streit. Überhaupt, findet die 15-Jährige, sie brauche jetzt endlich ein eigenes Zimmer. Der Bruder müsse raus, ins Wohnzimmer auf die Couch. «Aber da war keine Couch», lacht Maria Brokopp. Nur zwei abgewetzte Sitzgelegenheiten. Deshalb lautete die Aufgabe der Familienbegleiterin: Spendengesuch stellen und gemeinsam mit den Yildizs eine Schlafcouch kaufen. Jetzt steht das günstige, aber gemütliche Schlafsofa da. Frau Yildiz streicht glücklich mit der Hand über den grauen Stoff.
Problem 1 gelöst. Problem Nummer 2 : «Malik, was ist das für Post von der Staatsanwaltschaft?», fragt Maria Brokopp freundlich. «Ich hab gar nichts gemacht», schüttelt der 13-Jährige schon mal prophylaktisch den Kopf, dass der Ohrring nur so blitzt. Oder ob das doch was mit der Zankerei neulich auf dem Schulhof zu tun hat? Seine Mutter guckt ängstlich. Bitte nicht noch weiteren Ärger. Die Trennung, die kaputten Knie, die zwei Jobs – in einer Küche und eine Putzstelle – die nicht genug Geld einbringen, die Formulare, von denen sie keines so recht versteht ... Und jetzt noch Staatsanwaltschaft. Maria Brokopp liest den Brief. «Nein, Malik, du bist nur Zeuge», beruhigt sie. Im Sommer wird er gegen seinen Vater aussagen müssen. Worum es genau geht, ist nicht klar. Aber dass Gewalt eine Rolle spielt, das steht fest. Was diese Aussage bei dem Jungen auslösen wird, nicht. Vielleicht wartet eine neue Aufgabe auf die Familienbegleiterin.
Die wöchentliche Stunde ist fast um. Maria Brokopp packt ihre Unterlagen wieder in den Rucksack. Wenn Frau Yildiz weiterhin selbstbewusst ihren Alltag anpackt und den Deutschkurs besucht, wird sie ihre Anträge und Briefe bald ohne Hilfe erledigen können. Auch ohne die der Kinder. «Denn Kinder müssen Kinder sein dürfen», sagt Maria Brokopp. Das klingt so einfach, und ist doch für viele Kinder in der Schweiz so schwer. Sechs Fälle parallel betreut Maria Brokopp gerade. Sechs Fälle, sechs Nationalitäten. Derart bunt gemischt ist ihre Klientel nicht immer. Stammen doch nach den Statistiken des SPF-Fachverbandes 55 Prozent der Betreuten aus der Schweiz. Auch ein roter Pass schützt nicht davor, als Eltern zu straucheln.
In 74 Prozent der Fälle geht es um Erziehungsschwierigkeiten, in 45 Prozent um Auffälligkeiten in der Schule, 43 Prozent haben Schwierigkeiten mit einer geregelten Tagesstruktur und jedes dritte Elternpaar streitet sich ohne Rücksicht auf Verluste. Und ohne Rücksicht aufs Kind. Dazu kommen in 16 von 100 Fällen Gewalt. Oder Drogen. Oder psychisches Schlingern. Oder kognitive Defizite. Oder alles zusammen. Oft schreitet dann die Kesb ein und ordnet Familienbegleitung an, mal melden sich die Schulen. Oder Beistände finden, dass konkrete Hilfe vor Ort, im Alltag, mittendrin in der kritischen Situation, nützlich wäre. 100 bis 150 Franken kostet so eine Stunde Begleitung. Manchmal reichen zwei Stunden pro Woche, manchmal sind es auch sechs. Mehrere Monate lang dauert die Massnahme in der Regel. Wer die Kosten trägt, ist von Kanton zu Kanton und von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich.
Maria Brokopp, Familienbegleiterin
Ist das teuer? Ist das günstig? Das ist Ansichtssache. Teuer finden das Mütter und Väter, die aufgrund ihres Lohnausweises die Kosten selbst tragen müssen. Günstig ist die SPF, wenn man, wie Studien belegen, die Kosten der Familienbegleitung in Relation zu den Kosten setzt, die entstünden, würde nicht interveniert. Dann nämlich, so eine Untersuchung der Hochschule Luzern, würde es – etwa durch die Kosten von Fremdplatzierungen – fürs Sozialsystem gleich bis zu 50-fach teurer. Die Stunde bei Familie Yildiz ist vorbei. Die Mutter winkt. Maria Brokopp muss weiter.
Hastig wird sie ihren Tomaten-Mozzarella-Salat auf einem Mäuerchen vor dem Schwimmbad essen und den Rest der Mittagspause für Aquafit nutzen. «Das muss ich als Ausgleich fest für mich einplanen» sagt sie. Sonst könnten auf Dauer solche Fälle beginnen, an ihr zu nagen, wie der des neunjährigen Schweizer Mädchens, das das Haus nicht mehr verlässt. Nicht zum Spielen, nicht zur Schule. Ihre Mutter ist machtlos, weil deren Depressionen es ihr selbst an schlechten Tagen unmöglich machen, aufzustehen. «Die beiden hängen aber sehr aneinander. Soll die Kesb etwa die Polizei ausrücken und das Mädchen gewaltsam aus der Wohnung holen lassen?» fragt Maria Brokopp.
Jetzt hat die Kleine erst mal Homeschooling. Und ein Training gemeinsam mit der Mutter. Erste Etappe zum Endziel Schulbesuch: morgens aufstehen und sich anziehen. «Kleine Schritte sind okay», sagt die 36-Jährige. Schliesslich gehe es darum, stets die beste Lösung für das Kind zu finden. «Dazu muss ich nicht alles verstehen.» Noch immer ist ihr etwa das wohlhabende und heillos zerzankte Trennungspaar ein Rätsel, bei dem zu den Besuchswochenenden eine Art Blauhelm-Einsatz vor ihr gefordert war, damit das Kind nicht wieder hässlichste Szenen erlebt, wenn die Eltern aufeinandertreffen. Kostenpunkt: 150 Franken geteilt durch zwei pro Übergabe für die Eltern. Nein, längst nicht alle Familien seien Sozialfälle. Aber viele. Denn wenn sich auf Geldsorgen und Existenzängste noch weitere Schwierigkeiten türmen wie Ehekrisen, Sprachprobleme oder psychische Schlagseite, dann verstellt der Berg von Problemen den Blick aufs Kind.
Mittwoch, 16.30 Uhr:
Zug, Bahnhofsvorplatz. Ashta* kommt mit dem Bus aus einer heilpädagogischen Schule. Die 14-Jährige hat eine starke Sprachstörung und unkontrolliertes Händezittern. Vor acht Jahren flüchtete ihre Mutter mit Ashta und der jüngeren Schwester dem Vater hinterher aus dem Iran. Kranke Mädchen im Iran: Welche Zukunft haben die? Ashta hüpft vor sich hin, dass der dunkle Zopf wippt. Sie freut sich. Heute geht sie mit Maria Brokopp eine Brille kaufen. Eine himbeerrote hat sie sich ausgesucht. Das ganze Mädchen ist ein einziges Strahlen. Auch die Optikerin strahlt. So viel Begeisterung über eine Brille zeigt ihre Kundschaft selten. «Bitte langsam die Tragezeit steigern», erklärt die Optikerin und weiss nicht genau, wem sie das jetzt sagen soll. Dem Mädchen, das auf ihrem assistierenden Sprachcomputer herumdrückt, oder der Begleiterin. «Ich werde es der Mutter ausrichten», sagt Maria Brokopp. Für einen Brillenkauf hätten die Sprachfähigkeiten von Ashtas Eltern nicht gereicht. Vielleicht auch nicht die kognitiven. Vater und Mutter, beide sind in dem Bereich eher schwach. «Bei dieser Familie hat der Blitz gleich mehrfach in denselben Baum eingeschlagen», seufzt sie. Endlich hätte die Familie aus der Flüchtlingsunterkunft in eine eigene Wohnung ziehen können, Möbel angeschafft und im Dorf Freunde gefunden – da sei das Haus abgerissen worden. Das hiess: zurück ins Flüchtlingsheim. Zurück auf Los. «Das hat mich so richtig sauer gemacht», sagt Maria Brokopp. Aber was hilfts.
So, fertig für heute. Die 36-Jährige wirkt zufrieden – und erschöpft. Abends geht sie deshalb gerne mit ihrem Labrador spazieren. Das macht den Kopf frei.
Frei für den Fall, der am nächsten Tag ansteht. Der ist rechtlich verzwickt und deshalb ist es auch nicht möglich, sie dabei zu begleiten. Ein sechsjähriger Schweizer Junge soll nach einer Fremdplatzierung wieder zurück zu seinen Eltern. Eine perfekte Lösung wird es für diese Familie nicht geben. Aber vielleicht eine lebbare.
Samstag, 11 Uhr, Bahnhof Baar:
Die Sonne scheint, im Café am Baarer Bahnhof sitzen die Leute beim ersten Glace des Jahres. Maria Brokopp steht am Gleis und grummelt: «Sie sollte doch hier sein, versteh ich nicht.» Dabei hätte sie mit ihrer pubertierenden Klientin so einiges zu besprechen. Etwa die ungeklärte Herkunft der Süssigkeitsmengen, die die Jugendliche stets bei sich hat, obwohl in der Familie das Geld knapp und von Taschengeld nicht auszugehen ist. Um das heikle Thema soft anzumoderieren, hat Maria sich überlegt, dass sie in ihrem Büro erstmal ein Spiel spielen. Nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Aber jetzt: nix. Zweiter Anruf: nix. Anruf bei der Mutter: nix. Inzwischen ist die zweite S-Bahn durch. Und die dritte. «Tja, dann ist der Termin heute wohl geplatzt», seufzt Maria Brokopp. Sowas komme halt ab und an vor. Schliesslich sind, laut Statistik, Struktur, Pünktlichkeit und Verlässlichkeit Dauerbrenner unter den Erziehungsthemen der Klient:innen.
Mittwochnachmittag, 13.20:
Ceylin* bekommt zum ersten Mal in ihrem Leben Besuch. Von Dunia, ihrer Klassenkameradin aus der heilpädagogischen Schule. Die will sie zu Hause abholen. «Wir wollen zusammen spielen», freut sich die 15-Jährige und trippelt aufgeregt von einem Fuss auf den anderen. Noch nie hatte sie eine richtige Freundin, noch nie war ein anderes Mädchen bei ihr daheim. Na, wenn das nicht aufregend ist. Endlich mal nicht auf die kleine Schwester aufpassen, sondern eine Verabredung – allein. Maria Brokopp ist an diesem Nachmittag das Sicherheitsnetz. Sie geht mit, um zu sehen, ob alles klappt oder Ceylin irgendwo im Kanton Zug strandet. Aber das tut Ceylin trotz ihrer Entwicklungsverzögerung nicht. Die Lehrerin in der Schule hat ihr eine Karte gebastelt. Auf der zeigen Fotos, wie die Zahl vorne auf dem Bus aussieht, wie die Häuser, an denen sie vorbeifahren wird, der Umsteigebahnhof und Dunias daheim. Ja, das hier ist der richtige Bus. Genau, jetzt aussteigen. Der Plan wird aufgeregt geknetet. Da! Dunias Haus! Hurra! Fix und fertig steht ihre Freundin schon da. Rückfahrt zu Ceylin. Die beiden strahlen, kichern, flüstern sich in die Ohren – wie das zwei Freundinnen halt so machen. «Super hast du das gemacht, Ceylin», lobt die Familienbegleiterin. «Nächstes Mal schaffst du das ganz allein.»
In der kommenden Woche ist Maria Brokopp in den Ferien. Die Ankündigung, dass dann ein Ersatz kommt, sorgt für lange Gesichter. Aber an weniger Maria werden sie sich irgendwann gewöhnen müssen. Schliesslich heisst ihr Arbeitsauftrag: überflüssig werden.
*Alle Angaben zu Personen sind geändert.
Caren Battaglia hat Germanistik, Pädagogik und Publizistik studiert. Und genau das interessiert sie bis heute: Literatur, Geschichten, wie Menschen und Gesellschaften funktionieren – und wie man am besten davon erzählt. Für «wir eltern» schreibt sie über Partnerschaft und Patchwork, Bildung, Bindung, Erziehung, Erziehungsversuche und alles andere, was mit Familie zu tun hat. Mit ihrer eigenen lebt sie in der Nähe von Zürich.