Kinder & Spitzensport
Drillen für eine Medaille - geht gar nicht!
Wenn Kinder und Jugendliche Leistungssport betreiben, sind auch die Eltern gefordert. Ein Gespräch mit zwei Sportmüttern und Fachpersonen über einen Alltag voller Engagement, Mitfiebern und Zweifel.
«wir eltern»: Natina Schregenberger und Aline Steinbrecher – in der Sportwelt duzt man sich. Ist es ok, wenn wir das hier auch so handhaben?
Natina und Aline: Klar!!
Eure Kinder betreiben Leistungssport. Welche Sportarten sind das?
Aline: Ich habe drei Kinder zwischen 13 und 17, die alle Spitzensport machen. Die älteste Tochter trainiert im nationalen Leistungszentrum Ski alpin, die mittlere ist im nationalen Synchronskaten und der Jüngste im kantonalen Judo-Kader.
Natina: Ich bin Mutter von zwei Töchtern, die bis vor Kurzem auf hohem Niveau Eiskunstlauf trainierten. Mittlerweile sind beide erwachsen und haben aufgehört mit dem Leistungssport.
Vor zwei Jahren habt ihr eine Interessengruppe für Sporteltern gegründet. Was wollt ihr damit bewirken?
Natina: In meiner sportärztlichen Praxis bin ich teilweise mit erschreckendem Missbrauch von sporttreibenden Kindern und Jugendlichen konfrontiert, es geht dabei um vermeidbare Körperschädigungen oder psychischen Terror. Meine Motivation liegt in der Missbrauchsprävention im Sport.
Aline: In der Sportwelt herrscht schon bei den Kindern enormer Druck und Konkurrenz. Als Sportmutter fehlt mir teilweise der Austausch mit anderen Eltern. Ich möchte auch ab und zu jemandem sagen können, dass es mir nicht gut geht, dass ich nervös bin. Als Mentalcoach erlebe ich zudem viele andere Sporteltern, die sich mit vielen Fragen alleingelassen fühlen. Sie wissen nicht, wie sie mit den ganzen Anforderungen umgehen sollen. Ich hoffe, dass sich auf unserer Plattform Eltern von leistungssportbetreibenden Kids über den eigenen Club hinaus vernetzen können.
Ist es Zufall, dass zwei Sportmütter und nicht zwei Sportväter die Plattform gegründet haben? Oder anders gefragt: Ist die Sportförderung der Kinder Müttersache?
Aline: Das ist abhängig von den Sportarten. Beim Eiskunstlauf stehen fast nur Mütter in der Halle, beim Fussball oder Skifahren überwiegen die Väter.
Natina: Dass wir Mütter eine soziale Vernetzungsplattform gründen, ist sicher kein Zufall. Da sind wir alten Rollenmustern verhaftet. Sich mit Problemen zu outen ist ein weibliches Phänomen. Sportväter haben erfahrungsgemäss mehr Mühe, mit einem bedrückenden Thema auf andere Väter zuzugehen. Es klingt plakativ: Aber auch im Sportbereich tauschen sich Frauen mit anderen Frauen aus, Männer fressen die Probleme in sich hinein. Die Konfliktlösungsstrategien sind halt verschieden.
Die Sportmütter Aline Steinbrecher (51, im Bild links) und Natina Schregenberger (51) lernten sich in der Eishalle kennen. Als sie realisierten, dass Sporteltern sich mit vielen Fragen allein gelassen fühlen, gründeten sie die Plattform
➺ sporteltern.info, auf der sich Eltern von Leistungssport orientierten Kids informieren und vernetzen können.
Am 26. September 2023 findet ein Sportelterntreffen in Zürich statt. Anmeldung unter info@sporteltern.info
Weitere Links für Sporteltern:
➺ swissolympic.ch
➺ sportintegrity.ch (Meldestelle)
➺ sporteltern.zh (Podcast)
➺ zh.ch (Toolbox für Sporteltern)
Ein grosses mediales Thema waren die Magglingen-Protokolle, in denen der physische und psychische Missbrauch von Kindern und Jugendlichen im Kunstturnen publik und angeprangert wurde. Hinter den Misshandlungen können unmöglich bloss bösartige Trainer*innen gesteckt haben, sondern auch Eltern, die über Jahre die Augen verschlossen hielten …
Natina: Da lief tatsächlich lange vieles schief. Aber klar: Wenn man wegschaut, ist man mitschuldig. Und es ist tatsächlich ein Elend, dass es Eltern gab, die die Missstände wissentlich ignorierten, womöglich aus eigenen Ängsten heraus.
Von welchen Ängsten sprichst du?
Natina: Eltern befürchten, ihr Kind werde von den Trainern oder vom Verband benachteiligt, wenn sie kritische Fragen stellen. Das ist wie bei Missbrauch innerhalb der Familie: Da haben die Zeugen von Übergriffen auch Angst, sich zu äussern, weil sie sich vor negativen Konsequenzen für sich selber fürchten. In meinen sportärztlichen Sprechstunden sehe ich Kinder, die etwa in eine Magersucht getrieben, oder die dermassen in eine Dehnung gedrückt werden, dass es zu Muskelfaserrissen und Rückenverletzungen führt. Die Eltern kommen dann mit ihren Kids zu mir und wollen Physiotermine. Die Kinder weinen, somatisieren, klagen über Kopfweh, verschliessen sich, haben Angst vor der Trainerin oder dem Trainer – während die Eltern einen Tunnelblick haben und nichts anderes verlangen als Physioverordnungen, Ernährungsberatung und Mentalcoaching. Anstatt sich laut und deutlich zu wehren gegen das übergriffige Verhalten der Trainierenden.
Und wie gehst du mit den betreffenden Eltern um?
Natina: Ich reagiere konfrontativ, frage sie, ob sie sich auch schon überlegt haben, dass die Symptome des Kindes möglicherweise ein Zeichen sind. Bei einigen Eltern bricht ein Damm, andere kehren mir wütend den Rücken zu und kommen nicht wieder.
Aline: Als Sportmutter weiss ich, dass es nicht sein kann, dass man das Leiden des Kindes nicht mitbekommt. Für mich ist dieses Verhalten unverständlich. Wenn ich Kenntnis davon habe, dass ein Trainer oder eine Trainerin bekannt dafür ist, die Kinder missbräuchlich zu drillen, verbiete ich meinen Kindern, bei dieser Person zu trainieren. Als Mentalcoach spreche ich solche Themen mit den Eltern an – was natürlich auch zur Folge haben kann, dass ich die Familie nie mehr sehe.
Was ist, wenn Sporteltern ein schlechtes Gefühl haben bezüglich des Trainingsumfeldes ihres Kindes?
Aline: Wenn Kinder sich beschweren, bedeutet das schon Stufe Rot, dann ist es fast schon zu spät. Sie trainieren in Peer Groups mit enorm hohem Leistungsdruck. Oft ist es halt so, dass ein Kind, das aufmuckt, vom Trainer zur Seite geschoben wird. Sobald ein Kind nicht mehr gerne zum Training geht, ist es als Eltern wichtig, nachzufragen, was genau der Grund ist. Bei Missständen kann man sich auch bei der Ombudsstelle Sportintegrity.ch (auch anonym möglich) melden.
Natina: Das möchte ich Sporteltern wirklich nahelegen: Guckt hin, behaltet den emotionalen Kontakt, lasst immer alle Türen offen. Auch ein Aussstieg aus dem Sport muss jederzeit als Option offengehalten werden.
Die Identifikation der Eltern mit dem Nachwuchs ist beträchtlich. Ich schämte mich ab und zu fremd für meinen Mann, der an Fussball-Matches unseres Sohnes vom Spielfeldrand aus lauthals Schiedsrichterentscheide kritisierte … Aber Eltern projizieren halt eigene Wünsche auf die Kinder.
Aline: Man muss an sich arbeiten. Wenn ich als Mutter nicht damit umgehen kann, wenn meine Kinder verlieren, spüren sie das. Ich muss mir ehrlich eingestehen können, dass mich Niederlagen stressen. Dann setze ich mich damit auseinander. Nur so kann ich meinem Kind ein gutes Gegenüber sein.
Natina: Die Identifikation ist deshalb so gross, weil man als Sporteltern viel investiert. Meine Jüngere begann mit 3 Jahren auf dem Eis zu laufen, ich hatte damit zwei Mädchen auf dem Eis. Für mich bedeutete das jahrelang 12-Stunden-Tage mit Pendeln zwischen Arztpraxis und Eishalle. Die Eishalle war meine Stube – respektive meine zwei Stuben, denn die Mädchen trainierten teils in unterschiedlichen Hallen. Dort hatte ich meine Sozialkontakte mit anderen Eltern und dort verbrachte ich meine Wochenenden. 90 Prozent der Themen an unserem Familientisch drehten sich ums Eiskunstlaufen. Da besteht automatisch die Gefahr einer gewissen Überidentifikation, weil ich damals selber gar keine Zeit fand, eigenen Hobbys nachzugehen und Freundschaften zu pflegen. Kommt dazu noch eine vielleicht etwas symbiotische Beziehung zum Kind – und schon ist man drin.
Das klingt nach unvorstellbar grossem Einsatz der Eltern …
Natina: Ganz ehrlich: Manchmal brach ich fast zusammen. Ich lag nach Wettkampfwochenenden kaputt in der Badewanne und rutschte irgendwann fast in ein Burn-out.
Aline: Ich bin zwar belastbar, aber wenn ich nach solch intensiven Wochenenden niemanden habe, bei dem ich emotional abladen kann, geht es mir auch nicht gut.
Welche Rolle spielt das Geld in Familien, in denen die Kinder Leistungssport betreiben?
Natina: Sportarten wie Tennis oder Eiskunstlauf sind je nachdem auch für Gutverdiener teuer. Ich kenne Tennis-Eltern, die bezahlen 5000 Franken pro Monat, beim Eiskunstlaufen bezahlten wir 28 .000 bis 50. 000 Franken pro Jahr. Das ist viel Geld und man hinterfragt sich schon immer wieder, was das alles soll.
Ist Leistungssport in der Schweiz elitär und nur für Kinder aus begütertem Elternhaus möglich?
Aline: Ja, in gewissen Sportarten bestimmt: Reiten, Tennis, Eiskunstlauf, Golf, Skifahren – das wird schnell teuer. Sportler und Sportlerinnen werden in der Schweiz öffentlich nur marginal unterschützt.
Es garantiert einem auch niemand, dass es irgendwann einen Return on Investement gibt, trotz aller Investitionen …
Natina: Genau. Die Formel «Je mehr Einsatz, desto mehr Erfolg» gilt nicht. Niemand kann Eltern garantieren, dass sich die zeitlichen und finanziellen Investitionen in ein Kind in sportlichem Erfolg auszahlen.
Was braucht es, um Weltspitze zu werden?
Natina: Alles! Talent, Kind, Eltern, Umfeld, Fleiss und vielleicht auch ein Quäntchen Glück.
Aline: Eltern sind unglaublich wichtig. Um zeitlich alles unterzubringen, um alle Physio- und Arzttermine wahrzunehmen, um die weinenden Kinder aufzufangen. Gewinnen können die Kinder allein, aber Mama und Papa sind gefragt, wenn es nicht so gut läuft.
Bei den allermeisten Kindern und Jugendlichen zerplatzt der Traum der grossen Karriere früher oder später. Gibt es sportkompatible Ausbildungsmöglichkeiten, damit sie nicht plötzlich vor dem Nichts stehen?
Aline: Das ist kantonal unterschiedlich. Im Kanton Zürich gibt es sehr wenige Plätze an Sportschulen. Andere Kantone sind im Verhältnis besser bestückt. An öffentlichen Schulen kann man Sportdispensen beantragen. Generell knapp sind Lehrbetriebe für jugendliche Leistungssportler*innen. Das ist ein politisches Problem.
Natina, deine Kinder hörten auf mit dem Spitzensport. Wie erging es dir dabei?
Natina: Unsere beiden Töchter stiegen vor zwei Jahren aus. Das bedeutete, dass ich mich selber, und wir als Paar und Familie uns neu erfinden mussten. Plötzlich hatten wir Freizeit am Wochenende, wir mussten alle auch neue soziale Kontakte suchen. Die Übergangszeit war richtig schwierig.
Ein leistungsorientiertes Kind zu begleiten, macht bestimmt auch Spass, oder?
Natina: Natürlich! Ich war meinen Kindern sehr nahe, wir haben viel erlebt, auch in der Pubertät. Wir hatten schöne Wochenenden, reisten zusammen ins Ausland, es waren intensive Zeiten. Die Kehrseite ist, dass die pubertäre Ablösung etwas zu kurz kam und meine Töchter diese nachholen mussten … Sie können sich eigentlich erst jetzt, nach Ende der Zeit als Leistungssportlerinnen, ablösen und eigene Welten ohne Mama und Papa aufbauen.
Aline: Für mich ist das Positive am Leistungssport, dass ich oft einzeln mit jedem meiner Kinder unterwegs bin. Da können wir vieles zusammen besprechen und unternehmen.