Schwangerschaft / Alkohol
«Die Kinder haben ihr Leben lang eine Behinderung»
zvg
Gisela Michalowski ist Sozialarbeiterin, Vorsitzende des Vereins «FASD-Deutschland» und Mutter von acht Kindern. Vier leiblichen, einem Adoptivkind und drei Pflegekindern zwischen 31 und 11 Jahren. Vier der vier angenommenen Kinder leiden unter angeborenen Alkoholschäden.
wir eltern: Frau Michalowski, können Sie die Phrase «Ein Gläschen in Ehren, kann niemand verwehren» noch hören?
Gisela Michalowksi: Nicht wirklich. Ich habe absolut nichts gegen feiern. Meinetwegen auch mit Alkohol. Aber bitte nicht, wenn man schwanger werden will, schwanger ist oder stillt. Und was heisst schon «Gläschen»? Es gibt auch Halblitergläser. Darf man die dann voll Likör machen?
Selbst Mediziner beschränken sich beim Thema «Alkohol in der Schwangerschaft» oft auf ein «dass Alkohol nicht gut ist fürs Baby, wissen Sie ja.»
… noch schlimmer wirds, wenn der Rotwein als «gut fürs Blutbild» ins Feld geführt wird. Und wenn dann ein Kind mit FAS (Fetales Alkoholsyndrom) auf die Welt kommt, wundert sich die Mutter, weil sie es doch nur gut gemeint hat.
Sie selber haben vier angenommene Kinder, die durch Alkohol geschädigt sind. Wussten Sie das im Vorfeld und wie machte sich das bemerkbar?
Bei unserem ältesten Sohn wusste ich es nicht. Erst im Kindergarten sind wir stutzig geworden. Er war anders als andere Kinder. Irgendwie unkoordiniert und schwierig im Sozialverhalten. Erst als die Mädchen, die das Vollbild FAS hatten, als Baby und Kleinkind zu uns kamen, haben wir gewusst, dass seine Probleme ebenfalls ganz andere sind.
Bei Ihren Mädchen wussten Sie es?
Ja. Ihre Mütter waren starke Trinkerinnen und die Mädchen wiesen – anders als der Grosse – auch optisch sämtliche Merkmale auf: kleiner Kopf, zu leicht, etwas schlitzige Augen, schmale Oberlippe – manchmal sind sie für Down-Kinder gehalten worden.
Was ist vom Verhalten her typisch für Kinder mit Alkoholschäden?
Alle über einen Kamm scheren kann man natürlich nicht. Aber ich erzähl Ihnen einfach ein bisschen von uns. Bei uns daheim geht es zu wie in dem Film «Und täglich grüsst das Murmeltier». Wir können nie davon ausgehen, dass das, was die Kinder gestern gelernt haben, heute noch sitzt. Der Grosse beispielsweise mochte es sehr, wenn ich Kuchen gebacken habe. Er hat dann die Backofentür abgeleckt. Ein normales Kind macht das – wenn überhaupt – ein einziges Mal. Aber sicher nicht nochmal, wenn es die Zunge am Ofen kleben hatte. Und dann nochmal, trotz der Blasen auf der Zunge. Bei den FAS-Kindern muss man aber jeden Tag von Null anfangen. Deshalb wird ihnen oft fälschlicherweise böse Absicht unterstellt. Zudem brauchen sie besonders feste Tagesstrukturen. Sie sind sehr impulsiv und gefährden oft sich und andere.
Vielen der leichter Beeinträchtigten wird ADHS attestiert.
Ja. Das war bei unserem Grossen auch so. Er wurde auch entsprechend therapiert. Natürlich ohne Erfolg. ADHS wird häufig diagnostiziert. Das stigmatisiert ja auch nicht.
Wird deshalb auch oft gegenüber angehenden Pflege- oder Adoptiveltern nicht angesprochen, dass Alkoholschäden vorliegen können?
Vielleicht. Ich halte es aber für völlig falsch, nicht mit offenen Karten zu spielen und so zu tun, als könne man mit Liebe und Geduld diese Kinder zu «ganz normalen» machen. Das ist nicht so. Die Kinder haben lebenslänglich eine Behinderung. Das muss man wissen und dem muss man sich gewachsen fühlen. Sonst scheitern Pflegeverhältnisse. Und das ist für ein Kind sehr, sehr schlimm.
Wissen Ihre Kinder, welche Erkrankung sie haben?
Ja. Ich bin generell für Offenheit. Sie müssen wissen, warum so viele Dinge im Leben für sie schwierig sind.
Aber belastet das nicht das Verhältnis zur leiblichen Mutter?
Meiner Erfahrung nach nicht. Das gibt der Mutter doch die Möglichkeit zu sagen: Tut mir leid, aber weisst du, damals, als du schon in meinem Bauch warst, wusste ich von dir noch nichts und Silvester habe ich zu viel getrunken… Das braucht Fingerspitzengefühl. Klar.
Erstaunlich, dass so viele alkoholgeschädigte Kinder auf die Welt kommen. Dabei wird doch überall aufgeklärt.
Nein, wird es nicht. Über Komasaufen von Jugendlichen wird aufgeklärt. Über Alkohol am Steuer. Aber über Alkohol und Schwangerschaft? Darüber wissen junge Frauen längst nicht genug. Es interessiert sie vielleicht auch nicht, bevor Familie zum Thema wird.
Sie sind in Ihrem Verein sehr engagiert. Was sind die Ziele?
Überflüssig werden. Auch wenn wir Warnhinweise auf Flaschen durchsetzen könnten – wie bei Zigaretten – das wäre schon mal ein Schritt.
Warum eigentlich haben Sie sich die schwierigen Kinder freiwillig – ich sag mal «angetan»?
Ich hab mir gar nichts «angetan»! Beim Grossen brauchte es schnell eine Lösung übers Wochenende. Aus dem Wochenende sind ein paar Jahrzehnte geworden. Und bei allen Kindern war es so: Man hilft, weil es nötig ist − und dann geht einem das Herz auf. Der Grosse hat seine Kochlehre abgeschlossen und neulich für uns gekocht. Auch wenn er für uns alle sechs Kilo Schollen zubereitet hat, aber nur drei Kartoffeln. So ist das halt. Ich war trotzdem total stolz auf ihn.
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