Vereinbarkeit / Betreuung in Randzeiten
In der 24-Stunden-Kita
Von Text: Camilla Landbø / Fotos: Tabea Reusser
Wer nicht zu den üblichen Bürozeiten arbeitet, schätzt sich glücklich, wenn es gelingt, einen Platz in einer Kita mit erweiterten Öffnungszeiten zu ergattern. Zu Besuch in einer Pionier-Tagesstätte. Die Institution in Bern ist bereits seit mehr als 27 Jahren rund um die Uhr offen.
Der Bundesrat will mit 100 Millionen Franken die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit fördern: Die Drittbetreuung ihrer Kinder soll berufstätige Eltern weniger kosten. Zudem soll das Betreuungsangebot besser auf ihre Bedürfnisse abgestimmt werden. Künftig könnten damit innovative Projekte ausserhalb der üblichen Öffnungszeiten wie 24-Stunden-Kitas gefördert werden. Einen entsprechenden Gesetzesentwurf hat der Bundesrat im Juni 2016 ans Parlament überwiesen.
Wo übernachten Kinder von Paaren, die beide abends als Musiker in einem Orchester spielen? Wie sollen Eltern, die bis 19 Uhr arbeiten, er im Detailhandel, sie als Journalistin, um 18 Uhr in der Kita ankommen? Wohin bringen alleinerziehende Mütter, die am Samstag kellnern oder die im Spital operieren, ihre Kinder? Auch Schauspieler, Polizistinnen, Stewardessen, SBB-Personal und Krankenpfleger arbeiten oft zu einer anderen Tageszeit als Menschen mit einem Bürojob. Sie alle stehen vor verschlossenen Kitatüren.
Nicht aber die Eltern, die einen Betreuungsplatz im Kinderhaus Bernische Stiftung Elfenau bekommen haben. Hier sitzen jetzt vier Kinder um den Holztisch beim Znacht. «Hast du den Spinat in die Tortellini getan? », fragt Augusta die Betreuerin Vroni Eschler. «Nein!», lacht diese. Die 6-Jährige lacht zurück. Eine Zahnlücke blitzt auf. Die Zwillinge Tessa und Kiran reiben sich die Augen. Der bald 3-jährige Amaru mampft in Gedanken vor sich hin, schiebt mit dem Finger ein heraushängendes Tortellini-Zipfelchen in den Mund. Eschler lässt die Kinder vom Tag erzählen, schöpft Essen nach, schenkt Wasser ein. Es ist bald 19 Uhr. Gleich werden die letzten Kinder – die Zwillinge – von ihren Eltern abgeholt. Amaru und Augusta bleiben. Heute schlafen sie im Kinderhaus. Ihre Eltern arbeiten.
Das Kinderhaus Bernische Stiftung Elfenau ist eine der ganz wenigen 24-Stunden- Kitas in der Schweiz. Als Ergänzung zu den städtischen Angeboten wurde das Kinderhaus 1989 für Kleinkinder von alleinerziehenden Eltern mit unregelmässigen Arbeitszeiten eröffnet. Für die damalige Zeit höchst modern.
Genau genommen kann man das Kinderhaus heute noch als sehr fortschrittlich bezeichnen. Denn das Angebot in der Schweiz hat sich für Menschen mit Berufen in Randzeiten kaum weiterentwickelt. In Zürich findet sich die eine oder andere Kita, die an vereinzelten Wochentagen oder auf Anfrage eine Rund-um-die-Uhr oder Wochenend- Betreuung anbietet. Ansonsten gibt es als voll funktionierende 24-Stunden-Kita nur noch die im Sommer 2016 eröffnete Hotelkrippe in St. Gallen. Längere Öffnungszeiten bis 19 oder 20 Uhr findet man unterdessen in Städten ein bisschen häufiger.
Amaru und Augusta hüpfen vom Stuhl und rennen durch die Kita auf die Terrasse. Augusta wirbelt lachend im Kreis herum. Die Luft bläht ihr hellblaues Kleid. Während die Kinder spielen, räumt Vroni Eschler den Tisch ab und die Küche auf. Die Kinder sind schon wieder zurück im Wohnzimmer und werfen einander in der Leseecke Kissen zu. Amaru kreischt vor Vergnügen, richtet von Zeit zu Zeit seine Brille auf der Nase und lässt sich von Augusta auskitzeln. Die beiden drehen nochmals richtig auf.
Gesellschaft im Wandel
Das Kinderhaus Bernische Stiftung Elfenau betreut Kinder ab drei Monaten bis Schuleintritt und neu bis Ende zweites Schuljahr. Seit zwei Jahren stehen die Türen nicht nur Alleinerziehenden offen, sondern auch Eltern, deren Arbeitszeit auf Rand- oder Nachtstunden sowie Wochenenden fallen. Die Eltern können ihre Kinder bereits ab 6 Uhr bringen und bis 19.45 Uhr abholen. Wer zusätzlich Nachtbetreuung beansprucht, bringt sein Kind bis spätestens 18 Uhr und holt es am nächsten Morgen ab 9 Uhr ab. Vroni Eschler sagt: «Es gibt Eltern, die ohne diese flexible Betreuung ihren Beruf hätten aufgeben müssen, oder junge Frauen, die keine Aus- oder Weiterbildung hätten machen können.»
Die Kita ist an drei Sonntagen im Monat geschlossen und im Sommer macht sie eine Woche Betriebsferien. «Ansonsten haben wir sieben Tage die Woche offen, auch an Weihnachten, Auffahrt, Pfingsten oder Ostern», sagt Eschler. Denn die Leute müssten ja arbeiten und seien somit auch an Feiertagen auf Betreuung angewiesen.
Wieso hinkt das Angebot in anderen Betreuungsstätten der Realität in der Arbeitswelt so sehr hinterher? «Vor allem in konservativen und ländlichen Kreisen findet man Kitas mit erweiterten Öffnungszeiten oder 24-Stunden-Betrieb nicht nötig», sagt Eschler, die auch Mitglied der Betriebsleitung des Kinderhauses ist. Aber die Gesellschaft sei nun mal im Wandel. Alles daure länger, sei immer später offen, in der Berufswelt werde zunehmend mehr Flexibilität verlangt. «Die Nachfrage ist auf jeden Fall da», sagt Eschler. In letzter Zeit würde das Kinderhaus im Übrigen vermehrt von Pädagogen aus anderen Städten angefragt. «Sie wollen wissen, wie eine solche Kita funktioniert.»
Ohne Subventionen gehts nicht
Auch bei Kibesuisse, dem Verband Kinderbetreuung Schweiz, findet man, dass es alltagsnahe Betreuungsangebote brauche. Nadine Hoch von der Geschäftsleitung sagt: «Ich glaube allerdings nicht, dass es eine grosse Nachfrage nach 24-Stunden-Kitas gibt.» Flexiblere Öffnungszeiten jedoch, die wären wichtig. Dies sei aber eine finanzielle Herausforderung, da es mehr Personal brauche. Und an der Finanzierung scheiterten neue Betreuungsangebote und andere familienpolitische Projekte in der Schweiz ja meistens. «Ohne Subventionen geht es aber nicht. Die Eltern können die Mehrkosten nicht tragen», sagt Hoch.
Das Kinderhaus im Mattenhof hat nur leicht höhere Elternbeiträge. Das Betriebsdefizit übernimmt die Bernische Stiftung Elfenau. Eschler teilt die Meinung von Hoch: «Der Ausbau von flexibleren Betreuungszeiten ist in erster Linie eine finanzielle Frage.» Aber es ginge auch darum, dass ein Kita-Betrieb die Bewilligung für ein solches Angebot erhalte und dass die Bereitschaft bei einem Betreuungsteam dafür da sei. «Denn für eine 24-Stunden-Kita muss die Struktur einer Stätte umgekrempelt werden, und die Betreuerinnen und Betreuer haben unregelmässige Arbeitszeiten.»
Fixe oder flexible Kita-Tage
Schnell ins Pyjama geschlüpft, dann schnappt sich Augusta ihr rosarotes Kätzchen, Amaru seinen schwarzweissen Panda. Im Schlafzimmer dürfen sie eine Bettdecke auswählen. Augusta zieht die mit den rosa Herzchen aus dem Schrank. Auf der Matratze versucht sie auf dem Kopf zu stehen. Amaru macht Purzelbäume. Als die Betreuerin mit der Gute- Nacht-Geschichte eintritt, schlüpfen die Kinder rasch unters Duvet. «Abrakadabra», liest Eschler und erzählt von der Geschichte einer Hexe, die ihren Zauberstab in die Waschmaschine gesteckt hat. Gewaschen und getrocknet verwandelt dieser Zauberstab alles verkehrt. Amaru und Augusta hören den Zaubertrickstrapazen der Hexe gebannt zu und knabbern an ihren Bettmümpfeli.
42 Kinder werden in drei altersgemischten Gruppen auf drei Stockwerken betreut. Die Eltern geben den Kita-Betreuern alle vier Wochen den Arbeitsplan für den kommenden Monat ab. Es gibt Eltern, die fixe, andere die flexible Betreuungstage beanspruchen. Wenn Eltern wissen, dass der nächste Monat arbeitsintensiver wird, können sie in Absprache mit der Kita möglicherweise zusätzliche Betreuungstage oder -nächte beziehen, je nachdem wie ausgelastet die Stätte ist. Im Kinderhaus schauen 12 teilzeitarbeitende Betreuerinnen und Betreuer zu den Sprösslingen.
Die Zahl der Kinder, die in der Kita übernachten, variiert von Nacht zu Nacht. Insgesamt können 5 Kinder pro Nacht betreut werden. Würde der Bedarf an Übernachtungen in Zukunft steigen, könnte die Kita diesem Bedürfnis nachkommen und mehr als 5 Schlafplätze anbieten. Die letzten Auswertungen aus dem Jahr 2014 zeigen, dass durchschnittlich 2,5 Kinder pro Nacht im Kinderhaus Bernische Stiftung Elfenau geschlafen haben.
Jetzt noch Zähneputzen! Man staunt, die Kinder rufen «yeah!». Im Badezimmer hilft Eschler den Kindern, die Kariesmonster zu jagen. Augusta sperrt ihren Mund weit auf, die Betreuerin putzt mit der Zahnbürste nach. Zurück im Schlafzimmer kuscheln sich Augusta und Amaru samt Stofftierchen in die Decken. «Mein Colo», sagt Amaru und drückt seinen Panda beherzt an sich. Augusta wirft gleich nach: «Mein Kätzchen heisst Curu.» Eschler schmunzelt. Und knipst das Licht aus. Sie singt für jedes Kind ein Schlaflied. Und bleibt bei ihren Schützlingen, bis sie eingeschlafen sind. Gute Nacht. Bis zum nächsten Morgen. Wenn um 6 Uhr die ersten Kinder in die Kita kommen.