Reportage / Kinderheim
Zuhause auf Zeit
Wenn Uli Hammler aus dem einen Fenster sieht, fliesst da gemächlich der Rhein. Seit Jahrhunderten beschützt von den roten Sandsteintürmen des Basler Münsters. An die Füsse des romanisch- gotischen Baus kuscheln sich die Häuschen der Altstadt. Ein Bild kondensierter Ewigkeit, geeignet für einen Kupferstich. Wenig Ewigkeit, viel Augenblick tummelt sich dagegen unter dem anderen Fenster. Da treten sich Danilo* und Damjan beim Kicken auf dem neuen Kunstrasen des Fussballfeldes gegen die Schienbeinschoner, da übt ein Junge ebenso unverdrossen wie lautlos fluchend Körbe lässig aus dem Handgelenk zu werfen, zwei Mädchen bekichern irgendwas auf einem Smartphone und vier braune Ziegen knabbern an den noch winterkahlen Ästen ihres Geheges, als müssten sie den Schredder ersetzen. Uli Hammlers Büro bietet jede Menge Sicht.
Mittendrin und offen
Vielleicht ist das symbolisch. Denn wenn dem Leiter des Bürgerlichen Waisenhauses Basel eines wichtig ist, dann Transparenz. Das Wort benutzt er gern. Genauso wie «hinsehen». Offenes Visier, angucken was ist und sich nicht verstecken. Deshalb gefällt es dem 57-Jährigen besonders, dass sein 346 Jahre altes Heim in den Bauten des ehemaligen Karthäuserklosters mitten in der Stadt liegt, Kinder der Nachbarschaft die Tagesstrukturen innerhalb des 15 000 Quadratmeter grossen Heimareals nutzen, dass es hier eine Krippe für die Jüngsten des Wettstein-Quartiers gibt und – mal mehr, mal weniger – melodisches Klimpern aus den Klavierzimmern der eingemieteten Musikschule allen gleichermassen die grauen Frosttage mit hellen Pünktchen verziert. Von Heimen, die sich an Waldrändern verstecken – seien sie für alte oder andere Menschen, die Unterstützung brauchen – hält er nichts. Genauso wenig wie von Verdrängen und Schönfärberei. «Ich weiss, dass Kinderheime häufig als das Schlimmste überhaupt angesehen werden, ihr Image miserabel ist», er guckt dem Rhein ein wenig beim Fliessen zu, «aber es ist doch so, in einer solchen Institution macht man es in den Augen der Öffentlichkeit grundsätzlich falsch. Wird ein Kind zu früh aus einer Familie herausgenommen, sind die Behörden die Bösen, die den Eltern ihr Kind stehlen. Nimmt man es zu spät heraus, heisst es: Wie konnte man das Kind bloss in der Familie lassen …» Uli Hammler seufzt.
Ein Fall wie in Flaach, wo am Neujahrstag eine Mutter ihre beiden Kinder lieber umbrachte, als sie vom Weihnachtsurlaub zurück ins Heim zu schicken, liefert da ein weiteres Steinchen in diesem vermeintlichen Mosaik des Schreckens, das in neun von zehn Berichten über Kinderheime beschrieben wird. Missbrauch, Gewalt, Ausbeutung, dazu die Erinnerung an Oliver Twist als Schullektüre … Ein düsteres Bild aus zum Teil schon lang mit Spinnweben überzogenen Splittern entsteht beim Stichwort Heim in vielen Köpfen. Vielleicht auch, weil nicht in allen Einrichtungen «Offenheit» in so grossen Leuchtbuchstaben geschrieben wird wie hier in Basel. «PR liegt mir zwar nicht», sagt Uli Hammler lächelnd, aber man dürfe bei allen auch berechtigten Vorwürfen zum einen den zeitlichen Kontext nicht aus den Augen verlieren und zum anderen vor allem nicht, «dass in der überwältigenden Mehrheit ausgezeichnete Leute mit viel Engagement daran arbeiten, für Kinder mit holperiger Vergangenheit eine weniger holperige Zukunft zu gestalten.»
Roman Wipfli ist einer von diesen Zukunftsgestaltern. Durchschnittlich fünf davon kommen auf acht Kinder pro Gruppe. Mit seinen Strubbelhaaren, Sportjacke und winzigem selbstgestochenem Raute-Tattoo am Unterarm könnte der 54-jährige leitende Sozialpädagoge gerade so gut als Lead-Gitarrist einer angesagten Garagenband durchgehen. Seit nun schon zehn Jahren geht er mit den Kindern der «Excelsior»-Gruppe zum Arzt, wenns sein muss, kontrolliert ihre Hausaufgaben, bewundert die Werke, die sie in der Mittwochnachmittags-«handmade»-Gruppe in der hauseigenen Schreinerwerkstatt gefertigt haben, koordiniert Elternkontakte, erinnert an die «top-learn»-Nachhilfestunden, die Studenten an manchen Abenden anbieten. Er organisiert das Grümpelturnier, hört zu, wuschelt Haare, tröstet und vor allem lacht er viel mit seinen Mädchen und Jungen.
Zeit, die Familie zu ordnen
Zwei Jahre beträgt die Durchschnittsdauer, die ein Kind im Heim verbringt. Danach, so der Plan, soll es möglichst in die dann hoffentlich geordnete Familie zurück. Roman Wipfli weiss, dass er so eine Art männliche Mary Poppins für die Kinder sein sollte, Unterstützer in einer schwierigen Phase, der aber wie das zaubernde Kindermädchen ohne Bedauern wieder aus dem Leben verschwindet, sobald der Wind aus einer günstigeren Richtung weht. Er weiss das. Aber weil das Leben, laut John Lennon, «das ist, was passiert, während man andere Pläne macht», wird das mit den zwei Jahren oft nichts. Denn Eltern mit Drogensucht werden nicht auf Fingerschnippen hin clean, überforderte Teeniemütter nicht über Nacht reif und Kuddelmuddel in einem Familien-Leben zu beseitigen, braucht mehr Zeit als das Ausmisten eines Kleiderschranks. «Die Kinder wachsen mir immer ans Herz», nuschelt Roman Wipfli eine Prise verlegen, eine Prise trotzig. Wenn das unprofessionell ist – dann bitte. Menschlichkeit, Wärme und authentisch sein sind die höheren Trümpfe. Mary Poppins kann ihn mal. «Manchmal werfen mir sogar meine eigenen Kinder vor, ich verbrächte mehr Zeit mit meinen Heim- Kindern als mit ihnen.» Balance-Akte gibts in jedem Leben.
Jetzt sitzt Wipfli mit den Excelsior-Kindern – eine der sechs Kinder- und Jugendgruppen – bei 20 gestapelten Omeletten, Gemüsesuppe und Salat beim Nachtessen am Tisch: Lukas zergelt mit Danilo um das Nutellaglas für die Pfannkuchen, siebenfaches Augenverdrehen beim Anblick der gesunden Gemüsesuppe und Katharina schnattert aufgelöst auf ihre Tischnachbarin ein. Ihr Handy hat den Geist aufgegeben. Für eine 14-Jährige offenbar in etwa das gleiche Katastrophenniveau wie Sintflut oder Pompejis Ascheregen. Hausaufgaben werden bestöhnt und besprochen, Ämtlis angemahnt und seufzend deren baldige Erledigung gelobt, es wird gekichert und gekleckert, getuschelt und geschwatzt, ein Witzchen gerissen und diskutiert, was nun ultimativ cooler ist, Ski- oder Snowboardfahren, schliesslich steht das Skilager an.
Diese Umdrehung mehr
Ein alltägliches Abendessen, wie es um sechs Uhr in Millionen von normalen Familien abläuft. Nur dass die Kinder hier wenig Erfahrung mit normalen Familien haben. Da ist Katharina (14), das einzige wirkliche Waisenkind des Heims, hübsch, lebendig, talentierte Rollschuhläuferin aus reichem Haus. Ungeklärt ist bis heute, warum ihr Vater so plötzlich starb und wie es zum Unfall der Mutter kam. Da ist Kevin (10), der im neuesten Familiengeflecht der blutjungen labilen Mutter irgendwie zu viel war. Lukas (11), der ab und an abhaute, weil das üble Hickhack einer Trennungsgeschichte zwischen überforderter Mutter und Stiefvater auch das Kind überforderte. Danilo (8) und Damjan (6), deren Mama sich umgebracht und deren Vater seitdem mit Depressionen zu kämpfen hat. Sie alle sind Kinder mit ganz eigenen Biografien und doch bis auf diese eine Umdrehung, die normal-kompliziertes Aufwachsen von bedrohlich-kompliziertem Aufwachsen trennt, typische Kinder der Zeit.
Laut dem Robert-Koch-Institut leiden 33,3 Prozent der Erwachsenen mindestens einmal im Leben an einer psychischen Störung wie Depression, Drogensucht, Manie. Bei jedem Dritten treten gleich mehrere davon gemeinsam auf. Während die Zahlen bei Männern im Wesentlichen konstant Frauen, besonders die der Mütter, seit Jahren kontinuierlich an. Ihren Höhepunkt erreichen die Erkrankungen, so Untersuchungen der Universität Ulm, meist ums 30. Lebensjahr herum. Genau das Alter, in dem sich Nachwuchs einstellt oder Kleinkinder herumwuseln. Kleinkinder, die erfahren sollten, dass das Leben schön ist und immer jemand da, auf den man sich blind verlassen kann, ein Fels in der Brandung. Jedes vierte Kind allerdings, so rechnen die Studien hoch, wächst in einem Zuhause auf, in dem ein Elternteil seelisch krank ist: kein Fels, sondern ein Steinchen, das es mal hierhin, mal dahin spült. Folge: 30 bis 40 Prozent der Kinder seelisch kranker Eltern werden selbst psychisch auffällig.
Solche Durchschnittszahlen interessieren Roman Wipfli und seine Kindergruppen- Kollegin Katja Novinsky (30) nur am Rande. Im Mittelpunkt steht für sie nicht der Durchschnitt, sondern dieses einzelne Kind. Nicht das Prinzip, sondern die Frage «warum», nicht «logische Konsequenzen» und die markig gesetzten Grenzen, die derzeit in der Pädagogik so schick sind, sondern der Halt, den ein in der Vergangenheit herumgewirbeltes Kind an einer Leitplanke finden kann. «Das Individuum ist wichtiger als Ideale», sagt Katja Novinsky und lässt prüfend einen Blick über ihren Gruppenraum gleiten. Schliesslich ging es da vor ein paar Tagen hoch her: Kindergeburtstag. Mit der Geburtstagskind-Mama als Besuch und gleich der ganzen Schulklasse als Gäste.
Bisschen viele, bisschen laut, aber was solls. Offen zu sein auch für jede Menge Gschpänli der Kinder, zählt mehr als ein paar festgetrampelte Kuchenkrümel. Dass die Kinder so glücklich sind wie möglich – trotz des Rucksacks, den sie halt haben – ist das höchste Ziel.
Höher als Dutzende von Reissnägeln in der Wand. Die nämlich hat Mara in ihrem Zimmer angepinnt, obwohl es eigentlich verboten ist, die Wände so zu durchlöchern. Aber wie sollten die zahllosen Justin-Bieber-Poster sonst halten, die jeden freien Millimeter im Mädchenzimmer der 17-Jährigen tapezieren? Justin Bieber von der Seite, Justin Bieber von vorne, Justin singend, Justin ohne Hemd. «Ich mag den sehr», sagt Mara so ruhig, als zeige ein Kunstkenner den aufgehängten späten Monet und nicht ein schwärmender Teenie sein Idol. «Roman hat es ausnahmsweise erlaubt.» Sieben Jahre ist die Fachmittelschülerin jetzt hier, da dürften Wände auch schon mal nach Zuhause aussehen, habe ihr Gruppenleiter gefunden. Und auch, dass sie in der Excelsior- Gruppe bleiben dürfe. «Ich müsste längst in einer Jugend-Wohngruppe sein, aber ich hab mich hier und bei Roman doch so eingewöhnt …», sagt sie mit feinem Lächeln. «Ich fühl mich wohl hier.» Inzwischen.
Denn die erste Zeit im Waisenhaus sei natürlich schlimm gewesen, erzählt sie mit leiser Stimme. «Damals war ich ja noch klein und habe nicht recht verstanden, warum ich hier hin muss.» Die Kokainsucht der Mutter, deren Alkoholprobleme, verschlafene Schultage, klar habe sie das irgendwie mitbekommen und sich allein gefühlt, aber andererseits war das damals die einzige Welt, die sie kannte und – ihre Mama.
Hilfe und viel eigene Kraft
«Mir geht es hier sicherlich besser», sagt Mara vernünftig. Nach der Fachmittelschule will sie vielleicht Laborantin werden, das Praktikum, das sie gerade absolviert, macht ihr Spass: «Da ist alles so ordentlich, sauber und korrekt – das gefällt mir.» Vielleicht aber studiert sie später auch Chemie, noch weiss sie das nicht. Was da in naher Zukunft alles wartet: Auszug, Berufseinstieg – manchmal macht ihr das ein bisschen zu schaffen. Genauso wie die Tatsache, dass ihre Mutter sich seit einem Jahr nicht mehr meldet. Den gerahmten Schriftzug «Mami» zwischen all den Justin Biebers an Maras Wand kann die Mutter ja nicht sehen. «Aber das wird schon», sagt Mara und strafft – ganz die Yoga-Novizin – den Rücken. Wenn sie eines gelernt hat, dann dass das Leben mit ein bisschen Hilfe und eigener Kraft zu schaffen ist. Trotz Aufwachsen mit drogensüchtiger alleinerziehender Mutter, trotz früherer Geldnot, Tränen, einer Kindheit ohne Kindheit, trotz, trotz, trotz. Justin Bieber hat es schliesslich auch daraus geschafft.
**Namen der Kinder geändert*