Zahnfee, Storch und die bucklige Verwandtschaft
Kindheit ohne Magie ist langweilig, Erziehung auch. Ein bisschen Fantasie hat noch keinem Kind geschadet. Aber manche Mutter und manchen Vater vor unnötigem Erziehungsstress bewahrt.
Die Wahrheit? Völlig überbewertet! Wer Kinder hat, weiss: Lügen gehören zur Erziehung wie Münchhausen auf die Kanonenkugel. Erwachsene schwindeln mindestens 200-mal täglich, das haben britische Wissenschaftler herausgefunden. Ein «Drei Kilo zugenommen? Verteilen sich aber gut», zur mopsig gewordenen Freundin hier, ein «Hmmmmm, fein», zu Schwiegermutters drögem Kuchen dort, da läppert sich ganz schön was zusammen. Den Durchschnitt besonders in die Höhe treiben jedoch – Eltern. Rund 3000 Lügen tischen sie jedem Kind bis zum Beginn der Pubertät auf. Vermutlich eher mehr, denn wer gibt das schon ehrlich zu? Kurz: In Familien wird geschwindelt, gelogen und geflunkert, dass sich die Balken biegen. Zum Glück.
Denn wo käme man hin, wollte man das Bild seines Zweijährigen mit den – durchaus zutreffenden – Worten «Man erkennt ja gar nix!» bedenken, die Zwölfjährige auf diesen echt fiesen Pickel hinweisen? Nein, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit ist alles andere als eine Tugend. Flunkern und Faken sind die Stossdämpfer des Zusammenlebens. Und gerne darf es auch stärkerer Tabak sein. Was wäre schliesslich das Leben ohne eine Prise Fantasie, ohne Osterhase, Storch und Zahnfee? Arm an Poesie, reich an unnötigem Erziehungsstress. Ein Plädoyer für Magie im Kinderzimmer.
Zahnfee
Herkunft:
Kleines geflügeltes Wesen, das aus Amerika stammt. Manisch beobachtet sie Kinder im Einschulungsalter und deren Zähne. Fällt einer aus, legt das Kind seinen Zahn unter das Kopfkissen, die Zahnfee fliegt bei Nacht herbei, holt den Zahn und hinterlässt stattdessen ein kleines Geschenk. Ursprünglich soll es mal eine Goldmünze gewesen sein. Ein Rätsel ist, ob es nur eine einzige Zahnfee gibt oder ihre Familie verzweigt und vernetzt ist wie die sizilianische Mafia. Die Vermutung liegt nahe, stellen Kinder doch schon nach wenigen Zahnfee-Gesprächen unter ihren Gschpänli fest, dass Zahnfee-Geschenke mal kostbar, mal kümmerlich ausfallen. So ungerecht kann eine einzige gar nicht sein!
Erzieherischer Nutzen:
Hoch! Zum einen nimmt die Zahnfee Kindern aufgrund deren ausgeprägter Liebe zu Geschenken die Angst vor Wackelzähnen und Zähneziehen. Besonders geschäftstüchtige Mädchen oder Jungen ruckeln sogar festsitzende Zähne aus, um den Gewinn zu maximieren. Zum anderen bietet die Zahnfee erfreulichen pädagogischen Ermessensspielraum: Sammelt eine Zahnfee auch schlecht geputzte Zähne? Sucht sie an den verbleibenden nach Bonbonresten? Hinterlässt sie bei Beanstandungen lediglich eine Tube Elmex junior? Der elterlichen Fantasie sind da keine Grenzen gesetzt.
Warnung:
Der Zahnfee-Brauch geht wahrscheinlich auf Hexenrituale zurück, bei der die Hexe zum Verfluchen Fingernägel oder eben Zähne des Opfers benötigte. Das gilt es Kindern zu ersparen und stattdessen zu betonen, was für ein buchstäblich zauberhafter Moment es doch ist, wenn mit dem ersten ausgefallenen Zahn ein erster Schritt in Richtung Grosswerden getan wird.
Nuggifee
Herkunft:
Wahrscheinlich eine Cousine der Zahnfee. Ein typischer Fall von buckliger Verwandtschaft. Während die Zahnfee nur mitnimmt, was ohnehin ausfällt, ist die Schnullerfee eine zwielichtige Gestalt. Schnullerfeen kommen meist im dritten Lebensjahr und lehren Jungen und Mädchen durch «Schnuller gegen Teddy»: Jeder ist käuflich.
Erzieherischer Nutzen:
Hoch! Besser die Schnullerfee ist das hartherzige Miststück als Mama. Da Abhandlungen über Nuggi bedingte Überbisse an Kindern abperlen wie Wasser an einem Entenbürzel, ist es besser, den vernünftigen aber fiesen Teil des Schnuller-Entzugs zu delegieren. Das Kind samt neuem Teddy in den Arm zu nehmen, gemeinsam auf die Nuggifee zu schimpfen und dabei warmen Kakao zu trinken, hat garantiert nachhaltigeren Erfolg als noch so eindrückliche Bilder von Zahnfehlstellungen.
Lerneffekt:
Mama ist auch in schweren Zeiten bei mir! Sobald das Kind allerdings beginnt, lange Wunschlisten für die Windelfee, die Daumennuckelfee, die trockene-Hose-Fee zu erstellen, gilt es, Gegenmassnahmen zu ergreifen: Ein tödlicher Feenvirus muss her oder – die Wahrheit.
Engelchen
Herkunft:
Hier befindet man sich auf schwierigem Terrain. Laut Bibel gibt es sie in mannsgross und flammenumzüngelt. Die kindgerechtere Variante: winzig, pummelig und goldlockig, tummelt sich in allen Advents-Bilderbüchern, veranlasst skeptische Kinder jedoch immer wieder zu Mäkeleien: «So ein kleines Mädchen kann mir doch zu Weihnachten kein Mountainbike mit Fox 32 Talas RL Federgabel bringen. Schafft das nie!» Schon allein deshalb:
Erzieherischer Nutzen:
Hoch. Erstens denken so schon Vorschulkinder über den Zusammenhang von Kraft und Masse nach. Zweitens lernen sie: Ämtli gibt es überall. Weihnachtgeschenke basteln im Himmel, Meerschweinchen ausmisten hienieden. Drittens ermöglicht ein fürs Engelchen auf die Fensterbank gelegter Wunschzettel die wichtige Erfahrung: Wünsche sind etwas anderes als eine Bestellung bei Amazon. Steckt doch in einem Wunsch mehr vielleicht und – mehr Glück. Ausserdem brauchen Eltern die Engelchen den Winter durch. Wer kann schliesslich schon schlüssig erklären, warum der Himmel in der Vorweihnachtszeit abends oft rot ist? Na? Wie war das noch mit der Lichtbrechung, der Luftfeuchtigkeit und dem kurzund langwelligen Licht? Dann doch besser Engelchen, die Plätzchen backen und Ofenglut, die den Himmel wunderbar rötlich verfärbt …
Storch
Herkunft:
Nordeuropa, vermutlich Schweden. Hier finden am Mittsommernachtstag besonders viele Hochzeiten mit dazugehörigen Hochzeitsnächten statt. Im Frühling, also etwa neun Monate später, kommen die Störche aus dem Winterquartier zurück – und viele Babys zur Welt. Ein lücksfall für verklemmte Erwachsene. Doch bei aller Liebe zu der hübschen Geschichte von Zucker auf der Fensterbank und Babys im Storchenschnabel muss man leider sagen: Der Storch hat ausgedient. In Zeiten, in denen im Supermarkt Noppenkondome neben der Sonnencreme sortiert sind und im Nachmittagsprogramm des Fernsehens Sexpraktiken diskutiert werden, die selbst die Eltern googlen müssen, ist das Risiko einfach zu hoch, dass Kinder vermuten, ein Storch müsse so eine Art Feder-Fetisch sein. Dennoch:
Erzieherischer Nutzen:
Hoch. Der Klapperstorch ist ein Klassiker. Aufklärungs-Allgemeinbildung sozusagen. Ausserdem eignet sich die Storch-Geschichte prima, um sich dem Thema «Wo kommen die Babys her?» behutsam anzunähern. Zusammen mit seinem Jungen oder seinem Mädchen lässt sich mutmassen, ob so ein Tier überhaupt ein Baby tragen kann, wo er die Kleinen findet und wo die Babys vermutlich wirklich herkommen – oder falls erstes Wissen vorhanden – wie in Mamas Bauch hinein. Gleichfalls empfehlenswert: Wolf Erlbruchs wunderbares Bilderbuch «Das Bärenwunder». Hier erfährt der überraschte Bärenjunge, dass Babybären nicht wie Kohlköpfe auf dem Feld wachsen. Wie übrigens Kindern aus dem Elsass weissgemacht wird …
Bölimann
Herkunft:
Der Bölimann stammt aus Luzern. Vielleicht auch aus Schwyz, Uri oder Unterwalden. Laut Alois Lütolfs Sagenbuch gehört er zur Familie der Kobolde, wohnt in Kornfeldern, lauert dort Kindern auf und versetzt sie durch Poltern in Angst und Schrecken. In städtischen Gebieten muss er mangels Kornfeld anderswo wohnen.
Erzieherischer Nutzen:
Tja. Pädagogen spucken einem vor die Füsse, wenn man nur das Wort benutzt. Der Bölimann ist bäh. Ausgeburt der schwarzen Pädagogik, fieses Instrument, um Kinder einzuschüchtern. Haben sich doch ganze Generationen davor gefürchtet, vom Bölimann in einen dunklen Sack gesteckt zu werden. Trotzdem: Ganz ohne Bölimann ist auch doof. Wenigstens in Mamas und Papas Erzählungen von der eigenen ach so harten Kindheit, als man bekanntlich für jeden trockenen Kanten Brot dankbar war, Bescheidenheit flächendeckend und ekliges Nasebööge noch gar nicht erfunden war, darf der Bölimann nicht fehlen. Das sorgt für kindliche Bewunderung und wohliges Grausen. Mamas Kopfsprung vom Dreimeterbrett, Papas spitzenmässige Furzgeräusche mithilfe der Achselhöhle oder eine selbst erfundene Gespenster-Geschichte erfüllen allerdings den gleichen Zweck.
Osterhase
Herkunft:
Der Osterhase war in seinen Anfängen ein Osterkuckuck, ein Osterhahn, ein Osterfuchs oder auch ein Osterstorch – je nach Region. Aber schon allein wegen der Verwirrung mit dem Storch musste das anders geregelt werden. Die Geschichte des Osterhasen ist drei Wikipediaseiten lang. Fest steht aber, irgendwie ist der Hase – vielleicht aufgrund seines munteren Liebeslebens – mit dem Fruchtbarkeitsfest in Verbindung gekommen. Die Sache mit dem Ei ist unlogisch. Kinder stört das nicht. Erstens sind sie von der Entwicklung her mindestens bis zum Schuleintritt dem magischen Denken verhaftet und halten Zwerge, Zauberer oder sprechende Butterbrote für kein bisschen verwunderlich, und zweitens scheint es ihnen die Geschichte «das Baby kommt aus Mama» nicht weniger bizarr als «das Ei kommt aus dem Hasen»
Erzieherischer Nutzen:
Hoch! Welches Kind steht auf harte Eier? Welches Kind sucht gerne? Den verschwundenen zweiten Socken beispielsweise? Na, bitte. Der Osterhase machts möglich. Ausserdem sind Eiertütschen, Eiersuchen und eine Karotte auf die Fussmatte legen, um den Osterhasen anzulocken, ohne Hase öde, mit Hasenglauben liebenswert, lustig und – stiften eine schöne Familientradition.
Nikolaus
Herkunft:
Die Verwandtschaftsverhältnisse der Wintergestalten sind unübersichtlich. Ist der Weihnachtsmann der Zwillingsbruder vom Nikolaus? Ein und derselbe? Gibt es Anzeichen für eine Persönlichkeitsspaltung? Ungeklärt ist auch die Herkunft der weihnachtlichen Spielsachen: Werden sie von Engelchen hergestellt oder von spitzohrigen Elfen? Verlagern die europäischen Engel etwa, ganz Unternehmer, die Produktion ins Elfenland, weil Arbeitskräfte dort billiger sind? Egal. Fest steht:
Erzieherischer Nutzen:
Hoch. Denn sich durch die weihnachtlichen Geschichten, Legenden und Ungereimtheiten zu ackern, schult kindliche Phantasie, logisches Denken und wichtiger noch: die Fähigkeit zu staunen. Zudem werden die Stiefel mal endlich für den Nikolausmorgen gründlich geputzt. Und später, wenn die Kinder längst keine mehr sind, wird Mama sich noch an jedem 6. Dezember daran erinnern, wie sie früher alle gemeinsam mucksmäuschenstill in die Dunkelheit gehorcht haben, ob der Nikolaus klopft. Manchmal hat sie dann einen komischen Kloss im Hals.
Ja, aber die ungeschminkte Wahrheit? Die Realität? Die Vernunft? Sind ganz wichtig. Aber müssen sie deshalb schon im Kinderzimmer das Kommando übernehmen? Gewiss nicht.
Denn: «Es gibt nichts Schöneres als das Mysteriöse. Aus ihm entspringt alle wahre Kunst und Wissenschaft», fand schon Albert Einstein. Und der war immerhin Physiker.