Wildcampen
Wild zelten in der Schweiz
Eiswasser, Sternenhimmel und wilde Tiere – draussen übernachten schweisst zusammen. Was eine Familie beim Campen in einem wilden Walliser Hochtal erlebt.
Mit vollbepackten Rucksäcken stapfen wir zu fünft Schritt um Schritt den Berg hinauf. Nur wandern werden wir an diesem Julitag im Sommer 2020 aber nicht, sondern auch zelten. «Aber wild!», hatte Anushka beim Planen gerufen. Für unsere zwölfjährige Tochter war sofort klar, dass wir nicht auf einem Campingplatz übernachten, sondern in der freien Natur. Auch Jonathan (6) war von der Idee angetan. «Und Grossvater ist auch dabei!», tönte es unisono. Denn mein Vater (80) ist in Sachen «Wild zelten» ein alter Hase und hat seinen Grosskindern genug oft von seinen Abenteuern vorgeschwärmt.
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Beim Aufstieg in ein abgelegenes Walliser Hochtal interessiert sich Jonathan für die Landkarte und will immer wieder wissen, wo genau wir uns befinden und wie viele Höhenmeter wir bereits hinter und noch vor uns haben. Als wir ein Viehgehege durchqueren, schielen wir hinüber zu den Kühen (mit Hörnern!) und denken unweigerlich an eine mögliche Kuh-Attacke. «Sollte ich mein rotes T-Shirt nicht auswechseln?», fragt Anushka, «die haben es doch auf solche Farben abgesehen!»
Derweil spielt Jonathan eifrig den Torwärter und öffnet und schliesst die Absperrungen. Wir lassen die (braven!) Kühe hinter uns und durchqueren blühende Alpweiden mit einer erstaunlichen Vielfalt an Bergblumen. Die Kinder entdecken die geschützten Männertreu, die so herrlich nach Schokolade duften, die Alpen-Anemone, die mit ihrem struppigen Schopf auch als «Wilder Mann» bezeichnet wird und mit dem man sich gegenseitig auskitzeln kann. Am längsten verweilen sie aber beim Leimkraut und «chlöpfen» mit deren Blütenköpfen gegen ihre Handrücken um die Wette.
Die Gegend wird einsamer und als der Weg ansteigt, geraten wir bald ins Schwitzen. Jonathan experimentiert an seiner neuen Zip-off-Wanderhose und macht im Nu aus Lang Kurz. Hinter einer Alphütte entdecken wir ein schmuckes Seelein umgeben von Wollgras. Jonathan ist überzeugt, dass wir unseren Zeltplatz erreicht haben, aber ich muss ihn enttäuschen: «Unser See ist viel grösser, dort werden wir zelten.»
Um sich die Zeit zu vertreiben, überlegt sich Jonathan, wer mit wem in welchem Zelt übernachten wird. Die Frage wird zum Thema des Nachmittags und es werden alle Varianten durchdacht: Soll er mit der Schwester oder mit Papa im Zelt übernachten? Oder vielleicht doch lieber mit Grossvater?
Wie richtet man sich am besten ein zu fünft mit einem Zweier- und einem knappen Dreierzelt? Papa nimmt sich schon bald aus dem Spiel und eröffnet uns, dass er unter freiem Himmel schlafen wird. Plötzlich wollen alle draussen schlafen und ich frage mich unter der Last meines Rucksacks, wieso wir dann überhaupt zwei Zelte stundenlang den Berg hochschleppen.
Nach drei Stunden Aufstieg erreichen wir «unseren» See – und sind überwältigt. Idyllisch und umgeben von alpinen Wiesen und Felsen liegt er eingebettet in der stillen Gebirgslandschaft. Die Schneefelder am Ufer lassen erahnen, dass ein Bad wohl nur für Hartgesottene in Frage kommt.
Beim Aufstellen der Zelte ist die Debatte um die Schlafplatzverteilung neu lanciert. Damit endlich Ruhe einkehrt, treffen wir die Schlussentscheidung: Anushka und Grossvater schlafen im einen, Jonathan und ich im anderen Zelt. Und mein Mann Martin bleibt unter dem freien Himmel.
Unter dem Schweiss des Aufstiegs hat Grossvater erklärt, dass er schwimmen werde, falls das Seewasser nicht kälter als 15 Grad Celsius ist. Um dies zu überprüfen, hat er extra ein Thermometer mitgenommen. Jonathan ist an vorderster Front dabei und schaut gebannt auf das Thermometer, das aus dem Wasser gezogen wird. «Und, wie kalt ist das Wasser?», fragt er gespannt. «14,5 Grad», verkündet mein Vater mit einer Miene, die nicht verrät, ob er nun enttäuscht oder erleichtert ist.
Fürs Baden fehlt nun ohnehin die Zeit, denn wir müssen jetzt geeignete, einigermassen flache und windgeschützte Grasplätze suchen, die Zelte aufstellen, das Abendessen zubereiten. Die Kinder helfen freudig mit. Mit den Pfannen eilen sie zum See, um Wasser zu holen, und verweilen dort anschliessend bei der Suche nach Kaulquappen.
Geschützt vor Wind und Kinderfüssen köchelt in einer Felsnische das Steinpilz-Risotto. Die einfache Mahlzeit mit einer Extraportion Parmesankäse schmeckt wie ein Festessen. Als die Sonne sich hinter den Bergspitzen verabschiedet, wird es schnell kühler und wir verkriechen uns in unsere Zelte. Ich spiele mit Jonathan noch ein paar Runden «Biberbande», dann stecke ich ihn zum wiederholten Mal in seinen Schlafsack.
Da kommt ihm in den Sinn, dass er Papa noch nicht richtig Gute Nacht gesagt hat. Also nochmals nach draussen! Jonathan rennt zum Vater, der wie eine Mumie verpackt im Schlafsack liegt, und hüpft auf dem Rückweg zum x-ten Mal über die Zeltschnüre. Mit scheinbar endloser Energie. Wieder im Schlafsack, raschelt es vor dem Zelteingang. Anushka steckt den Kopf zur Zeltöffnung hinein. Sie will den Schlafsack tauschen in der Meinung, meiner sei wärmer.
Im Gegenzug bietet sie mir die komfortablere Matratze an. Der Deal ist gemacht, was Jonathan auf die Idee bringt, diese nun mit mir zu tauschen, weil bei seiner Matratze anscheinend die Luft ausgeht. Das lasse ich aber nicht gelten, seine Matte ist doch brandneu!
An Nachtruhe ist erst zu denken, als es dunkler wird. Nach einer Weile höre ich Jonathan gleichmässig atmen. Fast gleichzeitig ist aber auch noch ein anderes Geräusch zu vernehmen. Ich stecke den Kopf durch die Zeltöffnung und spähe hinaus in die schwarze Nacht.
In der Dunkelheit erkenne ich den Umriss eines Tiers, das sich an unseren Rucksäcken zu schaffen macht. «Das ist ein Fuchs», ruft mir Martin zu. Ein Fuchs? Das hat Jonathan im Halbschlaf mitbekommen und ist sofort hellwach. Das Tier lässt sich auch durch unser Zurufen nicht aus der Ruhe bringen. «Hoffentlich ist es kein Wolf», entfährt es mir leise. Jonathan hat es gehört und beginnt zu weinen. «Nein, nein», versuche ich, ihn zu beruhigen, «das Tier ist kleiner, es kann nur ein Fuchs sein.»
Der mutmassliche Fuchs bleibt hartnäckig und uns wird bald klar, dass wir die Rucksäcke ins Zelt holen müssen, wenn wir in dieser Nacht noch schlafen wollen. Mein Vater stellt sein Gepäck ins Aussenzelt, ich gehe auf Nummer sicher und nehme unseres ins Innenzelt. Ans Einschlafen ist vorerst nicht zu denken. «Der kommt todsicher wieder», sagt Jonathan.
Ich beschwichtige ihn erneut: «Der hat nur unsere Hauswurst gerochen, weisst du, Füchse haben eine feine Nase.» «Wir sollten ihm alles geben, dann geht er bestimmt», sagt Jonathan müde und Minuten später ist er wieder eingeschlafen. Ich dagegen lausche noch lange nach verdächtigen Geräuschen und werweisse, ob es nicht doch ein junger Wolf gewesen sein könnte.
Gefühlsmässig erwartet man einen Wolf eher im Wald. Wie Bären. Auf einer Höhe von 2600 Metern haben diese Tiere eigentlich nichts verloren, oder? Da kommt mir in den Sinn, dass ich mich in Alaska oberhalb der Waldgrenze auch schon einmal vor Grizzlys in Sicherheit gewähnt habe – bis ich einen solchen frischfröhlich über den Gletscher trotten sah. In der Wildnis ist alles möglich. Martin lässt sich dagegen nicht aus dem Konzept bringen und bleibt unter dem Sternenhimmel.
Es vergeht keine Stunde und schon bin ich wieder hellwach. Der Reissverschluss des Zeltes öffnet sich und Martin steckt den Kopf herein. «Habt ihr noch Platz? Der Fuchs lässt mich nicht in Ruhe, schnüffelt ständig an mir herum.» Als er die Unordnung in unserem Zelt sieht – Rucksäcke, die sich stapeln, und Jonathan, der quer ausgestreckt über den Matratzen liegt –, begnügt er sich mit dem Aussenzelt. Für die restlichen paar Stunden der Nacht.
Wir erwachen mit den ersten Sonnenstrahlen. Neugierig untersuchen wir unseren Zeltplatz nach den Spuren des nächtlichen Unruhestifters. «Schau», ruft Jonathan, «da liegt ja Grossvaters Rucksack hinter dem Felsen!» Tatsächlich: Das geheimnisvolle Tier hat seinen Rucksack aus dem Aussenzelt gerissen und sich über die Chips in der Aussentasche hergemacht. «Seht her, auch der Korkgriff meines Wanderstocks ist angeknabbert», ruft mein Vater dazwischen.
Bei duftendem Kaffee und Nutella-Brötchen lassen wir die Nacht nochmals Revue passieren und einigen uns auf die Fuchs-These. Nun wollen wir aber nicht zu viel Zeit verlieren, denn der Tag soll genutzt werden. Wir bauen unsere Zelte ab, errichten ein Depot und ziehen mit leichten Rucksäcken bergwärts. Der Himmel ist klar, die Morgenluft frisch und wir erreichen unser Tagesziel über einen grobblockigen Grat in knapp zwei Stunden.
Stolz tragen die Kinder ihre Namen in grossen Buchstaben ins Gipfelbuch, das in einer Metallhülle am Gipfelkreuz festgenagelt ist. Vor uns breitet sich die Weite der Hochgebirgslandschaft aus und ein langer Abstieg, den wir, erfüllt vom Gipfelglück, unter die Füsse nehmen.
Darf man wildcampen in der Schweiz?
In der Schweiz ist Wildcampen kantonal geregelt, zuständig sind die Gemeinden. In der Regel ist Wild-Zelten ausserhalb von Naturschutzreservaten und oberhalb der Waldgrenze erlaubt. Verboten ist Wildcampen in eidgenössischen Jagdbanngebieten und Wildruhezonen. In der Nähe von Hütten und Alpbetrieben sollte um Erlaubnis gefragt werden.
Grundregel: Keine Spuren hinterlassen! Ein rücksichtsvoller Umgang mit der Natur ist eine Selbstverständlichkeit, genauso wie das Mitnehmen aller Abfälle – auch kompostierbare, denn sie verrotten im Hochgebirge wesentlich langsamer. Die «Geschäfte» sind abseits von Gewässern zu verrichten, das Toilettenpapierzu verbrennenoderzu vergraben.
Eine Zelttour erfordert eine gute Planung. Die Konsultation des Wetterberichts ist ebenso ein Muss wie das Mitnehmen von analogem Kartenmaterial, denn nicht überall gibt es Handyempfang. Der Zeltplatz sollte sorgfältig gewählt werden: Sensible Zonen wie Auen- und Feuchtgebiete oder die obere Waldgrenze meiden, in der Nähe (Trinkwasser), aber nicht direkt am Gewässer (Gefahr bei Gewitter oder Hochwasser), in einer Senke vor Wind und Wetter geschützt.
Wichtigster Grundsatz: Die Koordinaten des Wildcampingortes nicht über soziale Medien wie Instagram verbreiten, um unnötige Besuchermassen zu vermeiden. Damit Wildcampen auch in Zukunft wild bleibt, sind auch bei dieser Reportage keine Ortsangaben erwähnt. Infos zu Schweizer Schutzgebieten und naturverträglichem Bergsport:
➺ map.geo.admin.ch
➺ sac-cas.ch/bergsport-naturschutz
Wildcampen: Die Packliste
Für eine vierköpfige Familie
«Weniger ist mehr» bzw. weniger ist tatsächlich weniger Gewicht! Bei allem die minimale oder Light-Variante vorziehen. Rucksäcke von Kindern bis acht Jahre sollten nicht mehr als drei Kilogramm wiegen. Neun- bis Zwölfjährige können sich rund fünf Kilogramm auf den Rücken schnallen.
♦ 1–2 Leichtgewichtszelte
♦ 4 leichte Zeltmatratzen*
♦ 4 leichte, aber warme Schlafsäcke*
♦ 1 Gas- oder Benzinkocher und Feuerzeug (ev. Ersatzpatrone)
♦ 4 Schüsseln und Klappbesteck, 2 Sackmesser
♦ 1 Thermos- und 3 Feldflaschen
♦ Abfallsack und Flickzeug (Klebeband, Schnur)
♦ Ausreichend Proviant (auf Gewicht achten)
♦ Kleidung nach «Zwiebelprinzip» inkl. Regenschutz und Mütze
♦ 2 Stirnlampen, Ersatzbatterien
♦ Sonnen- und Mückenschutz (Brille, Hut, Crème, Spray)
♦ Erste-Hilfe-Set (Desinfektionsmittel, Verband, Pflaster, Schmerzmittel)
♦ Toilettenartikel (All-in-one-Seife, Toilettenpapier)
♦ Landkarten und GPS
♦ Spielkarten
*Es gibt auch kürzere Kindermatratzen und -schlafsäcke
Françoise Funk-Salamí hat Glaziologie an der ETHZ studiert und arbeitet als freie Fotografin und Autorin für diverse Medien zu den Themen Alpinismus, Outdoor, Reisen, Familie und Gesellschaft. Sie hat sich dem Eis und der Kultur der Inuit verschrieben und ist für ihre Fotoprojekte regelmässig in Grönland unterwegs. Als Mutter von vier Kindern lebt sie in Zürich und in ihrer Walliser Heimat.