Interview Tina Reigel
Wie Sexualerziehung in der Familie gelingt
Wie gelingt eine moderne Sexualerziehung? Sexualpädagogin Tina Reigel über Klitoris aus Knete, wertschätzende Begriffe für Genitalien und Masturbationszimmer in Kitas.
«wir eltern»: Tina Reigel, warum ist es gut, mit Erstklässler** *innen eine Klitoris aus Knete zu basteln?
Tina Reigel: So eine Klitoris ist höchst faszinierend: Der sichtbare und uns allen gut bekannte «Hügel» ist nur der Anfang. Die ganze Klitoris samt den Schwellkörpern und den Schenkeln ist rund zehn Zentimeter lang. Dank Knete können Kinder das spielerisch lernen.
Viele würden sagen, die zehn Zentimeter und Kitzlerschenkel seien zu viel Information für Kinder.
Das offenbart dann oft die eigene Haltung zur Sexualität. In der Sexualerziehung geht es stark darum, sich selbst zu reflektieren. Sprich: Woher kommt diese Idee, dass wir über Vulvas und Klitoris nicht reden sollen? Den Kindern können wir dieses Wissen sehr gut zutrauen. Je mehr sie über ihren Körper wissen, je früher sie ihn kennenlernen und sich in ihm wohlfühlen, umso besser können sie ihn schützen. Die Auseinandersetzung mit der Klitoris ist somit indirekte Prävention. Ganz besonders Mädchen müssen wir lehren, dass ihre Vulvas toll sind.
Weibliche Sexualität wurde über Jahrhunderte unterdrückt und beschämt. Können Eltern mit moderner Sexualerziehung dazu beitragen, das Patriarchat zu stürzen?
Absolut. Mädchen brauchen sich für nichts zu schämen und alle Kinder dürfen einen positiven Zugang zum weiblichen Genital lernen.
Ist es schlimm, wenn Eltern statt Vulva und Penis noch die alten Begriffe wie Pfiffli und Schnäggli verwenden?
Man darf von mir aus gerne eine Familiensprache haben und Pfiffli sagen, wenn sich das für alle Beteiligten gut anfühlt. Aber für die Prävention von sexuellen Übergriffen ist es wichtig, dass ein Kind weiss, was ein Penis und eine Vulva sind. Und dass es nichts zu tun hat mit einem Schnäggli, das auf der Strasse rumkriecht. Was ich kenne und schätze, schütze ich.
zvg
Tina Reigel (1986) ist Sozial- und Sexualpädagogin und beschäftigt sich vor allem mit kindlicher Sexualität und Elternarbeit. Sie gibt Workshops für Erwachsene rund ums Thema Sexualität und bietet sexualfreundliche Kurse, Schulungen und Beratungen an für Lehr- und Betreuungspersonen sowie Eltern.
Mit ihrem Instagram-Account @littlefellow will sie Eltern und auch Kinder und Jugendliche ansprechen und einen positiven Zugang zur Sexualität vermitteln. Tina Reigel wohnt mit ihrer Familie im Kanton Zürich. ➺ littlefellow.ch
Wie können wir wertschätzend «Schamlippen» oder «Schamhügel» nennen?
Der Schamhügel ist eigentlich der Venushügel. Die Schamlippen sind die Labien und wem das zu medizinisch ist, nennt sie Vulvalippen. Davon gibt es die äusseren und die inneren. Dann haben wir noch die Genitalhaare und den Genitalbereich oder die Genitalien.
Plädieren Sie für einen Konsens beim Wickeln?
Ja, ein Neugeborenes sollte man nicht einfach auf den Wickeltisch legen und kommentarlos die Windel aufmachen, sondern erst mal fragen: «Jetzt gehen wir deine Windel wechseln, ist das okay?» Und beim Wickeln dann alles kommentieren und richtig benennen: «Jetzt waschen wir sanft die Vulva» oder «Jetzt muss ich noch etwas Kot bei den Hoden wegputzen». Dabei gerne auch die Gefühle verbalisieren: «Oh ich sehe, du verziehst gerade dein Gesicht, hast du kalt oder ist es unangenehm?» So lernt ein Kind seine Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken. Und später dann eigene wie fremde Grenzen zu respektieren.
Ein solches Gespräch mit einem Baby dürfte sich für viele schräg anfühlen.
Natürlich. Aber das ist die Wahrnehmung von uns Erwachsenen. Genauso unverkrampft, wie wir über ein Ohr und ein Ohrläppchen reden würden, können wir über die Klitoris und Eichel reden. Ein Kind kann es nur so lernen. Wir dürfen kindliche Sexualität nicht durch unsere Brille der erwachsenen Sexualität sehen. Wenn wir unverkrampft und ehrlich mit der Sexualität umgehen, können Kinder einen freien und genussvollen Umgang mit dem eigenen Körper lernen. Dazu gehört auch, dass wir Eltern uns mit unserer eigenen Sexualität auseinandersetzen.
Die wenigsten Eltern haben damals in der ersten Klasse eine Klitoris geknetet. Viele eignen sich diesen positiven Zugang zu Vulvas auch gerade erst an. Wie bleibt man da im Dialog mit seinen Kindern authentisch?
Als Eltern beginnt man am besten bei sich selbst. Eine Mutter kann einen Spiegel in die Hand nehmen und genauer hinschauen: Wie sieht meine Vulva eigentlich aus? Bin ich im Reinen mit ihr? Habe ich Mühe sie anzuschauen? Ein Vater darf sich seiner Körper- und Gefühlswahrnehmung bewusst zuwenden und sich fragen, was er persönlich als lustvoll empfindet. Wer hier selbstsicher ist, geht auch sicher mit seiner eigenen Sexualität um und lebt das seinen Kindern vor.
Und wenn Eltern dann merken «Mist, ich bin noch recht verklemmt im Umgang mit Sexualität»?
Dann ist das ein Prozess, den man Kindern authentisch kommunizieren kann. Indem man vielleicht erzählt: «Als ich noch Kind war, hatten wir keine solche Aufklärung. Ich finde das alles zwar sehr spannend, aber muss da erst noch Worte finden oder möchte mich selbst erst mal informieren.» Das Angebot dazu ist vielfältig: von feministischen Pornos und Hörbüchern bis zu Dokumentationsfilmen hin zu Gruppenkursen und Workshops für einen schamfreien Austausch. Und was Gespräche mit Kindern dann angeht: Da gibt es heute ganz wunderbare Aufklärungsbücher und Sexualpädagog* innen, die Familien beratend zur Seite stehen.
Kann man sich in Sexualerziehung auch überengagieren?
Ja, wenn Eltern denken: Bei mir war das in der Kindheit viel schambehafteter und ich will jetzt alles ganz anders machen als meine Eltern. Damit das nicht passiert, ist es wichtig, immer wieder die Perspektive des Kindes einzunehmen und sich stets von seinen Fragen und Interessensgraden leiten zu lassen. Die Kinder sind nicht umso besser aufgeklärt, je mehr Fakten ihnen ihre Eltern ungefragt präsentieren.
In Deutschland sorgte eine Debatte um Masturbationszimmer in den Kitas für rote Köpfe. Eine Idee, die ihrer Zeit voraus ist?
Ich finde nicht, aber ich würde es anders nennen. Den Begriff Masturbation – da sind wir wieder bei der Erwachsenenbrille – assoziieren viele mit einem Trieb, damit Befriedigung zu holen. Aber Kinder haben eine eigene Denkweise über Sex: Sie entdecken sich und berühren sich, denken dabei aber an all die Erwachsenendinge überhaupt nicht. Die einen stimulieren sich ab Geburt, die anderen später. Wichtig ist, dass Erwachsene sich dessen bewusst sind. Und wenn die Kinder das tun wollen, ist es wichtig, dass man achtsam damit umgeht und ihnen dafür einen geschützten Ort bietet.
Also nicht auf dem Schaukelpferd reiben lassen, wo sie ältere Kinder auslachen könnten?
Genau. Und in der Kita nicht unter anderen spielenden Kindern intensiv an einer Stuhllehne reiben lassen. Sondern respektvoll aufzeigen: «Wir sehen dein Bedürfnis, das ist auch voll okay, das darfst du, das entspannt, ist schön. Aber schau, hier ist der richtige Ort dafür. Hier bist du beschützt vor anderen Kindern und Mitarbeitenden.» Gerade für Kinder, die viel Zeit in der Kita verbringen und denen man nicht erklären kann, «Guck mal, das kannst du auch zu Hause machen», ist es wichtig, einen solchen Rückzugsort zu bieten.
Wie kann ich mir diesen vorstellen?
Es muss nicht ein separates Zimmer sein, sondern eine Art Ruhe-Ecke. Eine Matratze, vielleicht im Schlafbereich, mit einem kleinen Vorhang, wo nicht jeder Blick hergerichtet ist. Wichtig ist dabei, dass das gesamte Personal aufgeklärt und geschult ist und es ein entsprechendes sexualfreundliches Konzept in der Kita gibt. Dasselbe gilt übrigens für die «Dökterle»-Spiele im Kindergarten.
Erzählen Sie weiter.
Kinder kennen die Regeln im Kindergarten: Sie müssen Finken anziehen, dürfen sich nicht hauen. Aber für ein sehr relevantes Thema, das Kinder gerade im Kindergartenalter stark interessiert, gibt es oft keine ausgesprochenen Regeln. Dürfen wir zueinander auf die Toilette? Dürfen wir «Dökterle» spielen? Statt hier einfach zu verbieten, ist es besser, klare Regeln aufzustellen und einen Ort zu ermöglichen. «Hier könnt ihr dökterlen und es ist ok, wenn ihr ein Kleidungsstück auszieht.» Dabei ist wichtig, dass die Eltern wissen: Die Erziehungspersonen sind vertraut mit dem Thema und können entsprechenden Schutz bieten.
Sie sind Mutter von zwei Buben. Worauf achten Sie in der Erziehung?
Jungs sehen ihr Genital und haben daher von Anfang an einen anderen Zugang zu ihrem lustorientierten Körper. Daher ist es wichtig, bei Jungs mehr auf Gefühle einzugehen, statt auf die Funktion des Genitals. Wir müssen Jungs weinen lassen, sie viel mehr in den Arm nehmen. Studien zeigen, dass Eltern ihre Töchter mehr in den Arm nehmen als ihre Söhne, um sie zu trösten. Und Jungs holen sich ihren Körperkontakt durch Rangeln oder Schubsen. Wir interpretieren das oft falsch. Aber eigentlich ist das eine Aufforderung: «Ich brauche Körperkontakt.»
Haben es Buben schwerer als Mädchen?
Die heutigen Jungs können nichts fürs Patriarchat. Die Bewegung der Vulva ist sehr bestärkend und wichtig. Aber Jungs dürfen auch gleichwertig aufwachsen. Wenn sich ein Mädchen wehren kann, heisst es oft: «Super, sie ist tough.» Und bei Jungs: «Oh, er ist zu wild.» Diese Zuschreibungen sind stigmatisierend in beide Richtungen.
Sie haben mal geschrieben, dass Sexualerziehung auch die Art und Weise sei, wie sich Eltern im Spiegel betrachten. Erzählen Sie mehr.
Paul Watzlawick sagt in Bezug auf Kommunikation «Man kann nicht nicht kommunizieren». Das gilt auch für Sexualerziehung. Auch wenn Eltern Sexualität nicht thematisieren, lernt das Kind: «Aha, darüber wird bei uns nicht gesprochen.» Und sucht sich andere Wege, sei es Peergroup, Lehrpersonen oder Internet. Eine wichtige Frage dabei ist auch: Wie gehen Eltern mit ihrem eigenen Körper um? Wenn ein Vater sich vor dem Spiegel unzufrieden an den Bauch tätschelt oder die Mutter seufzend auf der Waage steht, registrieren Kinder ein Gefühl von Unzufriedenheit. Sie können es zwar nicht formulieren, aber sie beobachten und merken, da ist kein wohlwollender Blick oder Zuwendung zum eigenen Körper.
Zusammengefasst: Sexualerziehung kann sowohl heissen, sich als Eltern gemeinsam einen feministischen Porno reinzuziehen oder aber einfach mal wieder Joggen zu gehen?
Wenn wir unseren Kindern beibringen wollen, einen guten Umgang mit ihrem Körper zu haben, auf ihre Gefühle, Bedürfnisse und Grenzen zu achten, können wir das zu einem grossen Teil durch das Vorleben. Es kann schon damit beginnen, dass man beim Duschen wirklich bewusst das Wasser auf seiner Haut wahrnimmt. Oder auf der Toilette nicht schnell, schnell macht, sondern ganz langsam ein- und ausatmet. Da wären wir beim nicht-sexuellen Teil der Sexualerziehung. Da geht es nicht um Körperflüssigkeiten oder Fortpflanzung. Sondern um die Frage: Wie gerne habe ich mich selbst?
Ellen Girod hat mit Tina Reigel auch zwei Mal im Rahmen ihres Podcasts «Go Hug Yourself» über moderne Sexualerziehung gesprochen. Die Podcastfolgen sind hier zu hören.