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Ästhetische Erziehung
Wie lernen Kinder guten Geschmack?
Grell und schrill, bunt und glitzernd – Kinder lieben Ramsch. Leider. Wie nur kann man ihnen ein bisschen guten Geschmack beibringen?
Kampf gegen das Grelle und Schrille
Gestern Einhorn,heute Elsa. Ein ästhetisches Armageddon jagt das nächste. Derzeit müssen in den Kinderzimmern die Fabeltiere ein bisschen
zusammenrücken für die Eisprinzessinnen. Wo Pink war ist jetzt Blau. Eisblau. Gletscherblau. Frozen 2 blau. Ein Meer von Blau und Glitzer. Eiskristallglitzer. Gott, ist das alles hässlich. Die Abrissbirne des guten Geschmacks. Finde ich. Finden Millionen andere nicht.
Kinder erst recht nicht. Und da liegt das Problem. Denn als engagierte Mutter streckt man nur ungern die Waffen. Ist es wirklich unmöglich, den Kampf gegen das Grelle und Schrille, Billige und Bunte zu gewinnen? Gegen alberne Kinderbücher über das «Sommerfest im Zwerglein-Wald», Fortnite-Figuren, Pink, Dunkelpink, Hellpink und Hosen mit Camouflage-Muster. Wie bloss kann man seinem Kind wenigstens eine Prise guten Geschmack, einen Hauch Stilbewusstsein beibringen?
Was Geschmack mit Kultur zu tun hat
Oder ist allein die Frage schon elitär und arrogant? «Klar ist die Frage elitär und arrogant», lacht Winfried Menninghaus, Direktor des Instituts für empirische Ästhetik in Frankfurt und damit als Spezialist für das Gute, Wahre und Schöne schon von Berufs wegen vergnügt elitär. «Guter Geschmack ist halt eine normative Kategorie, geht also davon aus, dass man weiss, was gut und was schlecht ist.» Aber genau genommen sei das bei der Bildung auch nicht anders. Was Allgemeinbildung ist, mit welchem Wissen man als gebildet gilt – ist eine Festlegung. Und wie bei der Bildung sei auch Geschmack gekoppelt an Kultur; daran, viel Verschiedenes gesehen und kennengelernt zu haben. «Deshalb gehört zur Erziehung auch, wie schon Schiller sagte, eine ‹ästhetische Erziehung›.»

Was Geschmack mit dem «guten Ton» zu tun hat
Denn dass wir heute bei «Geschmack» und «Geschmackssache» an Willkürliches und Individuelles denken, ist genau genommen ein Missverständnis, stammt doch das Wort «Geschmack» vom lateinischen «sapere» ab. Das bedeutet «Verstand», aber eben auch «Geschmack». Der «gute Geschmack» war lange Zeit gleichbedeutend mit «sich verständig verhalten», dem «guten Ton». Ein bisschen klingt das noch immer nach. Bauchfrei und in Yoga-Pants besucht man weder Oma, Oper noch Beerdigung. Das wäre geschmacklos.
Kinder lernten all das, erklärt Menninghaus, weil sie «statistische Lerner» seien, also aufmerksam ihre Umgebung und die soziale Gruppe scannten, registrierten, was wann bei wem häufig vorkommt und dann ihre Schlussfolgerungen zögen. Je häufiger etwas gesehen wird, desto grösser die Chancen, für schön gehalten zu werden. «Familiaritätsprinzip» sagen Wissenschaftler dazu. «Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht» sagt der Volksmund dazu. Nur eben umgekehrt. Eine schlichte weisse Bluse hat schlechte Karten in einem Freundeskreis voller Rapper. Allerdings hat die schlichte weisse Bluse bei Kindern grundsätzlich schlechte Karten.
Studien belegen, dass kleine Menschen – ebenso wie kleine Primaten – knallige Farben bevorzugen. Warum? Weil Babys noch schlecht sehen können. Da helfen scharfe Kontraste und bunte Farben ungemein. Überhaupt mischen beim ästhetischen Empfinden nicht nur Werbung und Umfeld mit, prägen nicht nur Wohnzimmer mit Eames-Chair oder Window Colours die Vorlieben, sondern auch die Evolution hat ein Wörtchen mitzureden.

Schönheit kann definiert werden
Irgendwo im Inneren des Menschen ist der Prototyp des Schönen eingepflanzt. Dieses gewisse Etwas, was alle Menschen, jeden Alters, jeder Kultur und jeden Geschlechts, ansprechend finden. Janek Lobmaier, Sozial-psychologe an der Universität Bern, hat das mithilfe vieler Studien erforscht. Und festgestellt, der Satz «Schönheit liegt im Auge des Betrachters» ist Quatsch. Schön ist schön.
Zumindest schon mal bei Gesichtern. Als absolut schön gilt für Frauengesichter: möglichst weiblich, ebenmässige Haut, grosse Augen, volle Lippen, hohe Stirn, relativ grosser Kopf, der ein bisschen das Kindchenschema bedient. Für Männergesichter: maskulin, aber nicht zu sehr. Vom Körperbau her: Grösse. Grösse. Und Grösse. Für Babys: Kulleraugen, Stupsnase, Pausbäckchen, rundes Gesicht, grosser Kopf. Es gibt sie also, die angeborene Wünschelrute fürs Schöne. Und daraus resultierende irrationale Verhaltensweisen:
♦ Babys schauen ein schönes Gesicht länger an als ein weniger schönes.
♦ Mütter, so eine Untersuchung der Psychologin Judith Langlois von der University of Texas, beschäftigen sich umso ausdauernder und liebevoller mit ihrem Baby, je stärker es den gängigen Niedlichkeitskriterien entspricht.
♦ Hübsche Schulkinder bekommen bessere Noten, wie eine Studie der University of Rochester ergab, in der Lehrern identische Aufsätze mit Fotos mal hübscher mal weniger hübscher Schülerinnen und Schüler vorgelegt wurden.
♦ 50 Prozent der deutschen Topmanager sind über 1,90 gross, obwohl die Männer-Durchschnittsgrösse bei 1,77 liegt.
♦ Und Marketingforscher haben festgestellt, dass Menschen nicht nur lieber bei der hübscheren Verkäuferin einkauften, sondern zudem das erworbene Produkt im Nachhinein als hochwertiger einstuften.
Stil als politisches Element
Tja. Sinn macht das nicht, belegt aber, dass der Mensch intuitiv die Gleichung schön=gut=schlau=nett erstellt. Und der schöne Schein entfaltet nicht nur bei körperlicher Attraktivität, sondern ebenso bei Mode und Möbeln machtvolle, ja, politische Wirkung. Denn Style ist immer Distinktionsmittel, ein Code, der zeigt, zu welcher Gruppe man gehört, wer dabei sein darf, wer nicht – und wofür man steht. Gegen die Prunksucht des Adels setzte das Bürgertum die Schlichtheit. Die spartanische reformierte Kirche steht im Kontrast zum Gold der katholischen. Punk verschreckt Bünzlis. Und Brahms Fans sind keine von DJ Bobo. Gezeigter Geschmack hebt Gräben aus und sichert Grenzen. Wer je in einem von Oma gelismeten Pulli zwischen Klassenkameraden in Lederjacken gesessen hat, weiss, wovon die Rede ist.

Ästhetik lernen
«Jedes Kind sollte in der Schule das Unterrichtsfach Ästhetik haben», soll der inzwischen verstorbene Bündner Architekt Rudolf Olgiati mal gesagt haben. Warum? Damit es später in der Lage ist, Traum-Häuser für Skigebiete zu entwerfen? Nein. Sondern damit es die Sprache des Schönen lernt, den Code des Ästhetischen dechiffrieren kann und einen inneren Kompass entwickelt: Ist dieses teure Kleid da wirklich so toll, obwohl aus einem Material, dass man drin schwitzt wie im Bratschlauch? Gefällt das Elsa-Etui auch noch nächsten Sommer, wenn der Frozen-Hype abgeschmolzen ist? Und ist ein T-Shirt mit dem Aufdruck «Ey, Frau, wo bleibt mein Bier» lustig oder doch dämlich?
«Kinder entwickeln Geschmack im Gespräch», sagt Winfried Menninghaus. «Dann, wenn man Ästhetik mit ihnen thematisiert, sie fragt: Was gefällt dir an dieser ‹Sommerfest im Zwerglein-Wald›-Geschichte? Was an diesem Lied? Warum?» Dann wird aus dumpfem Gefühl differenzierte Wahrnehmung. Kriterien fürs Schöne versucht auch Katrin Luchsinger von der Zürcher Hochschule der Künste ihren Studenten zu vermitteln. Ein Gespür für Farbe, Proportionen, Harmonie – und Spass daran, quer zu denken. «Geschmack entwickelt sich aus dem Weiten des Blicks. Und, ja, auch durch die Auseinandersetzung mit Kunst.»
Frankreichs Umgang mit Geschmack
Fatal findet sie, dass bildnerisches Gestalten in den Schulen so ein Mauerblümchen-Dasein führt. «Dabei ist das doch eines der wenigen Fächer, in dem Kinder nicht nur Aufnehmen, sondern sich auch ausdrücken dürfen. Frei, mutig und wild.» Mut ist der Bruder von Stil. «Und von Genuss», ergänzt Barbara Vinken, Professorin für Französisch an der Uni München, Spezialistin für Mode und Fachfrau für die schönen Seiten des Lebens. «Aber in Deutschland – und wohl auch in der Schweiz – gilt das Vergnügen an Schönem und am Genuss oft als oberflächlich.»
In Frankreich sei das anders: gutes Essen, hübsche Kleider, das gehöre zum savoir-vivre, werde geschätzt und Kindern beigebracht. «Die Jungen und Mädchen in Frankreich werden ernster genommen», meint Vinken. Keine französische Mutter fände beim Kinder- Kleiderkauf «Aussehen egal, Hauptsache praktisch». Wenn Maman schick ist, warum sollte es das Kind nicht auch sein dürfen? «Sogar die Ratgeber zur Kinderernährung sind bezeichnenderweise völlig anders: in den deutschen geht es darum, was gesund ist, in den französischen darum, was schmeckt.» Genuss, Leichtigkeit und Spass – ohne die drei würde das nichts mit dem guten Geschmack.
Ein bisschen Erziehung schadet nicht
Und ohne ein bisschen Manipulation, vorsichtig unter die Erziehung gehoben, wohl auch nicht. Schliesslich wollen Kinder nicht nur pinke Einhörner, sondern auch lieber Bonbons als Spinat. «Um Erziehung kommt man leider nie herum.» Ja, aber was ist mit den Geschenken? Dem vom Götti mitgebrachten Murmeltier, das «Anton aus Tirol» singen kann? Dem Frozen Flitter vom Grosi, dem ganzen grellen Gelumpe, das ständig von irgendwoher ins Kinderzimmer flutet? Darf man das heimlich wegwerfen oder ist das gemein?
Barbara Vinken räuspert sich für ein Geständnis: «Ich habe mal – offiziell ‹aus Versehen› – ein fürchterliches Furzkissen meines Sohnes kaputt gebügelt. Das war wirklich furchtbar gemein.» Aber immerhin, lacht sie, sei ein sehr eleganter junger Mann aus ihm geworden. Und sie selber mittlerweile ästhetisch weniger streng. «Ich finde inzwischen, eine Prise Trash macht einen Stil spannend. Aber bitte nur eine Prise.»
Caren Battaglia hat Germanistik, Pädagogik und Publizistik studiert. Und genau das interessiert sie bis heute: Literatur, Geschichten, wie Menschen und Gesellschaften funktionieren – und wie man am besten davon erzählt. Für «wir eltern» schreibt sie über Partnerschaft und Patchwork, Bildung, Bindung, Erziehung, Erziehungsversuche und alles andere, was mit Familie zu tun hat. Mit ihrer eigenen lebt sie in der Nähe von Zürich.