Interview
Wie lange geht es noch bis zur Elternzeit?
Von Anita Zulauf
«Eine Elternzeit von 38 Wochen ist ein Muss für eine demokratische Gesellschaft», sagt Nadine Hoch von der Eidgenössischen Kommission für Familienfragen. Und beantwortet im Interview warum das erst 2040 realistisch ist.
«wir eltern»: Nadine Hoch, 2021 hat das Schweizer Volk zwei Wochen Vaterschaftsurlaub genehmigt. Was sagen Sie dazu?
Nadine Hoch: Es ist ein sehr kleiner Schritt in Richtung gemeinsame Betreuungsverantwortung der Eltern.
Seit 13 Jahren fordert Ihre Kommission 38 Wochen Elternzeit, jetzt haben wir den Vaterschaftsurlaub. Ein Erfolg ist das ja nicht.
(Lacht). Nein, natürlich nicht. Es ist typisch für die Schweiz, das Land der kleinen Schritte. Sozialpoltische Fortschritte brauchen bei uns immer viele Anläufe. Ich sags ganz plakativ: Vielleicht müssen wir uns damit abfinden, dass alle vier Jahre die Elternzeit um eine Woche verlängert wird.
Warum ist das so?
Wir haben nach wie vor ein sehr traditionelles Rollenverständnis, vor allem im deutschsprachigen Teil der Schweiz. Wir beharren und verharren im Ein-Ernährer-Modell, einer ist fürs Geldverdienen zuständig, der andere für die Kinder. An dem wird festgekrallt, obwohl die Realität schon längst eine total andere ist.
Ein veraltetes Rollenbild, welches von rechten Kreisen noch gepusht wird.
Genau. Dieses traditionelle Werteverständnis halten konservative Kreise hoch, genauso wie die Haltung, dass Familie Privatsache sei. Dazu kommt, dass die Schweiz eine starke Wirtschaftslobby hat, welche sich massiv gegen mehr Elternzeit wehrt. Weil sie die Kosten scheut und den Nutzen nicht sehen will.
Trotzdem arbeitet Ihre Kommission an dem Szenario von 38 Wochen Elternzeit weiter, also zum aktuellen Mutter- und Vaterschaftsurlaub zusätzlich 22 Wochen. Seid ihr unverbesserliche Optimisten?
Nein, überhaupt nicht. Wir sind der Ansicht, dass sich auf nationaler Ebene dringend was bewegen muss. Es kann nicht sein, dass in den Kantonen 26 unterschiedliche Elternzeiten eingeführt werden, nur weil auf Bundesebene nichts geht.
Was passiert denn aktuell in den Kantonen?
Im Kanton Genf findet im Juni eine Abstimmung über 24 Wochen zusätzliche Elternzeit statt. In verschiedenen Kantonen sind Vorstösse hängig. Das Problem an kantonalen Elternzeiten ist die Koordination. Wenn man in einem Kanton lebt und in einem anderen arbeitet, ist das schwierig. Wir brauchen eine nationale Lösung.
Nadine Hoch (61) ist Mutter von zwei erwachsenen Kindern und Geschäftsleiterin der ausserparlamentarischen Eidgenössischen Kommission für Familienfragen, welche den Bundesrat und Verwaltungsbehörden berät.
Ihr Vorschlag sieht eine Aufteilung der Elternzeit vor?
Genau. Acht Wochen nach der Geburt sind für die Mütter reserviert. Danach stehen beiden Eltern je 15 Wochen zur Verfügung. Mütter können von ihren 15 Wochen auch bis zu sieben Wochen auf die Väter übertragen. Umgekehrt geht es jedoch nicht.
Warum nicht?
Man weiss aus anderen Ländern, dass Väter die Elternzeit vor allem dann nehmen, wenn sie nicht auf Mütter übertragbar ist.
Aktuell können sich eine privat finanzierte Verlängerung des 14-wöchigen Mutterschaftsurlaubs nur Gutverdienende leisten. Alle anderen Frauen müssen nach 14 Wochen wieder arbeiten gehen.
Ja, genau. Die Erfahrung hat gezeigt, dass Elternzeit Frauen motiviert, im Erwerbsprozess zu bleiben und ihren Beruf früher wiederaufzunehmen. Dazu braucht es jedoch qualitativ gute und bezahlbare Kinderbetreuung. Diese ist leider für viele Eltern immer noch zu teuer und Plätze für Babys sind rar.
Darum bleiben Mütter oft zu Hause.
Genau. Obwohl Frauen heute oft besser ausgebildet sind als Männer, geht man davon aus, dass sie das Erlernte erst mal auf Eis legen oder beim Wiedereinstieg in schlechter qualifizierten Jobs arbeiten. Das hat Auswirkungen auf Karrierechancen und Altersarmut. 70 Prozent der Ergänzungsleistungen gehen heute an pensionierte Frauen. Eine Elternzeit hätte also auch positive Konsequenzen für den Staat.
Grosse Unternehmen bieten von sich aus mehr Elternurlaub an.
Ja. Die Kosten dafür bezahlen sie aus dem eigenen Sack. Ihr Interesse ist es, qualifiziertes Personal behalten zu können. In Anbetracht des Fachkräftemangels ist das ein weitsichtiger Entscheid und für diese Firmen ein Wettbewerbsvorteil. Denn künftig dürfte es für junge Arbeitnehmende entscheidend sein, welche Firmen familienpolitisch fortschrittlich sind. KMUs werden das zu spüren bekommen.
Wie stellt man sich die Finanzierung der Elternzeit vor?
Über die Erwerbsersatzordnung EO, welche bereits den Mutter- und Vaterschaftsurlaub und den Militär- und Zivildienstersatz finanziert. Aktuell sind das pro Arbeitgeber und Arbeitnehmer 0,5 Prozent, die über den Lohn verrechnet werden. Mit der Elternzeit wären es insgesamt 0,8 bis 0,9 Prozent. Also durchaus bezahlbar.
Ist die Gesellschaft bereit für Elternzeit und Vereinbarkeit von Beruf und Familie?
Viele von uns sind es. Vor allem die Jüngeren. Manche Frauen überlassen den Männern aber auch gerne das Geldverdienen. Wir müssen unsere Rollen neu denken. Es muss normal werden, dass Väter sich auch um die Kinder kümmern und Mütter auch arbeiten gehen. Eltern, die Carearbeit und Geldverdienen teilen, sind Vorbilder für ihre Kinder. Das prägt die Gesellschaft. Irgendwann ist das einfach normal.
Wie dringlich ist die Elternzeit?
Für eine demokratische Gesellschaft gehört sie dazu. Wären wir in der EU, wäre Elternzeit Pflicht. Mit Ausnahme von Mexiko gibt es kein OECD-Land ohne Elternzeit.
Werden wir bis 2030 eine Elternzeit haben, die diese Bezeichnung verdient?
2040 ist realistischer.