Interview
Wie kann man Traumavererbung verhindern?
Therapeutin Ingrid Meyer-Legrand beschäftigt sich mit vererbten Traumata und sagt, was insbesondere Kinder, die von Kriegen betroffen sind, brauchen.
wir eltern: Sie haben das Buch «Die Kraft der Kriegsenkel» geschrieben. Was sind Kriegsenkel?
Ingrid Meyer-Legrand: Kriegsenkel sind Nachkommen der Jahrgänge 1928 –1946. Die Eltern der Kriegsenkel waren während des Nationalsozialismus und während des 2. Weltkriegs selbst Kinder. Die Kriegsenkel haben den Nationalsozialismus und den Krieg nicht selbst erlebt, sind aber oftmals mit traumatisierten Eltern aufgewachsen.
Die Epigenetik hat belegt, dass Traumata bis in die 4. Generation vererbt werden können. Könnte ich also die Traumata meiner Grosseltern, die Armut und den 2. Weltkrieg erlebten, in meinen Genen haben?
Vermutlich. Die Frage ist aber mehr: Werden diese Gene aktiv? Wir wissen, dass das Wichtigste bei der Bewältigung schlimmer Ereignisse die Unterstützung durch andere Menschen ist. Etwa durch ein Beziehungsnetz, das mich in meinem Leid sieht, mich tröstet und mir Zuversicht vermittelt. Damit haben wir einen Schlüssel in der Hand, um Traumata potenziell zu verhindern.
Menschen reagieren unterschiedlich auf traumatische Erlebnisse. Manche verarbeiten Traumata des Krieges besser als andere. Warum?
Ein schlimmes Ereignis selbst wirkt nicht traumatisch, sondern der Umgang damit. Es stellen sich also Fragen wie: Wie werden die Betroffenen aufgefangen? Werden sie in ihrem Leid gesehen? Viele Kinder des 2. Weltkrieges haben erlebt, dass ihre Gefühle nichts galten, auch die Bindung zwischen Eltern und Kind wurde damals relativiert. Es hiess zum Beispiel «Ein Säugling braucht keine Wartung». Für Menschen, die so aufwuchsen, war der Krieg traumatisierender als für Kinder mit einer guten Bindung zu nahen Bezugspersonen.
zvg
Ingrid Meyer-Legrand ist Psychotherapeutin, Sozialpädagogin und Coach mit eigener Praxis in Berlin und Brüssel sowie online. Sie ist Autorin mehrerer Bücher zum Thema Kriegsenkel: «Die Kraft der Kriegsenkel» (Europa Verlag, 2021) und «Kriegsenkel – endlich ankommen!» (erscheint im August 2022 im Europa Verlag).
Wie transportiert sich ein Trauma wie das des 2. Weltkrieges in die nächste Generation?
Die Kriegsenkel wuchsen mit traumatisierten Eltern auf, die emotional von ihrem Leid besetzt waren. Niemand hat sich für das Leid dieser Menschen interessiert. Stattdessen galt die Bewältigung der Kriegserlebnisse als privates Problem, das Zuhause gelöst werden musste. Die Kinder mussten also ihre Eltern trösten, ihr Sonnenschein oder die beste Freundin sein. Materiell wurden die Kriegsenkel zwar oftmals gut versorgt, emotional jedoch vernachlässigt. Auf diese Weise haben sich die Traumata der Kriegskinder auch auf die nächste Generation übertragen. Auch der spätere Lebensweg als Erwachsene ist bei vielen Kriegsenkeln geprägt von der Auseinandersetzung mit dem Leid der eigenen Eltern.
Was bedeuten diese Erkenntnisse für die aktuelle Situation in der Ukraine?
Mein Buch ist auch deshalb leider wieder sehr aktuell: es beschreibt die Auswirkungen von Krieg, Flucht und Vertreibung auf mehrere Generationen. Erneut sind Millionen Menschen von einem Krieg betroffen. Es muss jetzt unbedingt dafür gesorgt werden, dass die Betroffenen in ihrem Leid angehört werden. Dafür braucht es unter anderem professionelle Hilfe. Dies gilt in besonderem Masse für Kinder, die ein elementares Bedürfnis nach Schutz, Trost und Zuversicht haben.
Marah Rikli ist freie Autorin, Moderatorin, ehemalige Buchhändlerin und aktive Speakerin für Diversität und Inklusion. Sie lebt mit ihrer Patchworkfamilie in Zürich. Und lancierte kürzlich ihren eignen Podcast Podcast Sara & Marah im Gespräch mit…