Jürgen Oelkers
«Wer sagt, dass Kinder sich nicht anstrengen sollen?»
In nur wenigen Berufsgruppen sammeln sich so viele demonstrativ gute Menschen wie in der Pädagogik. Samthandschuhe und eine oft windelweiche Sprache sind Tagesgeschäft in einem Business, in dem es stets um korrektes Handeln, den richtigen Ton und das gute Vorbild geht. Professor Jürgen Oelkers, Erziehungswissenschaftler an der Universität Zürich, ist eine Ausnahme. Er spricht gerne Klartext.
wir eltern: Herr Professor Oelkers, Sie sind Pädagogikprofessor und vierfacher Vater. Was halten Sie vom Spruch «Pfarrers Kinder, Bauers Vieh, gelingen selten oder nie?»
Jürgen Oelkers In der Tat macht die allgemeine Erwartung, dass Pädagogikprofessoren-Kinder perfekt erzogen sein müssen, es für die eigenen Kinder nicht einfacher. Und natürlich ist diese Annahme Unfug.
Inwiefern? Sie als Fachperson müssten doch das theoretische Rüstzeug haben, um in der Erziehung alles richtig zu machen.
Das ist, als würde man von einem Arzt erwarten, dass er nie krank wird. Erziehung ist etwas Persönliches, sie passiert in unkalkulierbaren Situationen, Probleme müssen schnell gelöst werden, Charaktere prallen aufeinander … Da helfen abstrakte Theorien nicht weiter. Ausserdem ist es ja nicht so, dass die Kinder meiner Kollegen samt und sonders missraten wären.
Dass Theorien nicht weiterhelfen, wird die Pädagogik-Zunft nicht gerne hören. Streiten Sie gerne?
Nein, ich streite nicht gern, schon gar nicht, wenn es überflüssig ist. Was ich aber nicht leiden kann, und das ist im pädagogischen Bereich besonders beliebt, ist Kommunikation in Klischees. «Kuschelpädagogik », «Fördern und Fordern», «selbstbestimmtes Lernen» ... Da reiht sich Plattitüde an Plattitüde.
Könnten Sie das ein bisschen näher erläutern?
Es gibt ein paar heilige Kühe, besser gesagt eine bestimmte Rhetorik, bei der niemand fragt, was sie eigentlich bedeutet und ob das, was sich so toll anhört, tatsächlich effizient ist.
Beispiele?
Nehmen wir den Slogan vom «Fördern und Fordern», das klingt wunderbar. Aber wie sieht das oft im Schulalltag aus? Die guten Schüler, die «gefördert» werden sollen, dürfen noch zehn Aufgaben der gleichen Sorte mehr machen. Ich nenne das nicht Förderung, sondern Bestrafung. Weniger streitbar gesagt: Ohne Konzept kann man weder fordern noch fördern.
Oder nehmen wir das «selbstbestimmte Lernen». Der Begriff unterstellt, dass Schüler sich durch die Bank für alle Fächer interessieren und stets hochmotiviert sind. Sieht die Realität so aus? Nein. Kein Schultag ist so und kann so sein. Lernen in der Schule ist eben oft nicht selbstbestimmt, schon weil es einen verbindlichen Lehrplan gibt, der für alle gleich gilt. In der Art, wie der Begriff vielfach benutzt wird, ist er lediglich eine Mogelpackung.
Marvin Zilm
Jürgen Oelkers
Der 64-jährige Erziehungswissenschaftler hat an der Universität Hamburg studiert und ist heute Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Zürich. Schwerpunktmässig beschäftigt sich der Vater von vier Söhnen mit historischer Bildungsforschung, Erziehungsphilosophie und aktueller Bildungspolitik. Gerade ist sein neues Buch erschienen: «Eros und Herrschaft –Die dunklen Seiten der Reformpädagogik», Beltz, 32.90 Fr.
Also kein selbstbestimmtes Lernen, sondern Frontalunterricht?
Gegen Frontalunterricht ist, richtig eingesetzt, nichts einzuwenden. Auch gegen wirklich selbstbestimmtes Lernen habe ich nichts, sofern man es nicht zum Dogma erhebt. Es gibt zum Beispiel ausgezeichnete Computerprogramme, mit Hilfe derer die Schüler tatsächlich in ihrem eigenem Tempo lernen können und direkt zu jedem Lernschritt ein Feedback bekommen. So etwas kann ein Lehrer gar nicht leisten. In 10 bis 15 Jahren wird das, besonders in Fremdsprachen, der Schulalltag sein. Meine Generation will das noch nicht so recht einsehen. Technophob, wie die meisten von uns sind.
Als Klischee bezeichnen Sie auch den Begriff «Kuschelpädagogik». Was ist daran so klischeehaft?
Auch das ist so ein furchtbar abgenutztes Wort ohne Inhalt. Haben Sie «Kuschelpädagogik » schon mal in der Anwendung gesehen? Ich finde das Denken in Phrasen schrecklich. Da fällt mir gerade noch eine Phrase ein: «Man darf das Kind grundsätzlich nicht stören», hat tatsächlich einmal eine Referentin auf einem Podium gesagt, bei dem ich anwesend war.
Und? Wie haben Sie darauf reagiert?
Ich habe höflich gefragt: «Und was machen Sie, wenn das Kind um acht in der Schule sein muss und um halb acht noch schläft? Da wäre doch stören keine schlechte Lösung, oder?»
In der Pädagogik ist häufig die Rede davon, dass man «vom Kind ausgehen» soll. Nur – gefragt werden die Kinder nie, ob sie das wollen. Beispielsweise kommt immer wieder die Diskussion auf, dass die Schreibschrift vereinfacht werden muss, damit es für die Kinder nicht so schwierig ist, sie zu lernen. Ich meine – wo steht geschrieben, dass Kinder sich nicht anstrengen dürfen? Ich finde, sie dürfen das sehr wohl. Vermutlich tun sie es sogar gern. In dem gleichen Kontext ist auch dieses «Wir lassen Schulanfänger einfach mal drauflos schreiben, ohne auf die Rechtschreibung zu achten», zu sehen.
Hört sich so an, als hielten Sie davon nicht viel …
Schüler prägen sich durch falsches Schreiben die eigenen Fehler ein. Unsere Söhne haben nach diesem Prinzip schreiben gelernt. Aber meine Frau und ich haben das zu Hause einfach immer korrigiert.
Von dem methodischen Prinzip wird aber in einigen Schulen sehr viel gehalten.
Welche meinen Sie? Steiner-Schulen? Montessori-Schulen? Es wäre nicht schlecht, da auch mal die Frage nach der Effizienz zu stellen. Aber generell gilt leider die Doktrin: «Grosse Pädagogen dürfen nicht stürzen.» Ich finde, man darf sie vom Sockel holen, wenn es notwendig wird.
Nehmen wir doch mal die Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule. Wer sich mit Reformpädagogik beschäftigt, hätte schon lange vor den Zeitungsberichten wissen können, dass an diesen Schulen manches problematisch ist und war. Aber grosse Namen wie Hermann Lietz und Peter Petersen galten als sakrosankt. Trotz einer eigenartigen Vergangenheit, die zum Teil antisemitisch war wie bei Lietz, militaristisch, schrullig und im Fall von Gustav Wyneken, dem Leiter der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, durch grosse Zutraulichkeit gegenüber Jungen geprägt – wie das Gerichtsverfahren gegen ihn aus dem Jahr 1921 zeigt.
Sie sprachen von der Effizienz etwa von Steiner-Schulen. Was ist damit?
Rudolf Steiner ist auch einer von denen, die sonderbar unantastbar sind. Dabei ist vieles von dem, was er geschrieben hat, völlig ab von dieser Welt. Das heisst allerdings nicht, dass man auf der Grundlage einer merkwürdigen Theorie nicht trotzdem passablen Unterricht machen kann.
Eltern wollen für ihre Kinder nur das Beste: die beste Schule, den besten Unterricht, den besten Umgang. Ja, die Eltern selbst wollen die besten sein.
Die Eltern machen ihren Erziehungsjob doch im Wesentlichen gut. Sie können sich Panik ausserdem gar nicht leisten, weil ihnen jeden Tag etwas einfallen muss. Nur herrscht derzeit leider die Vorstellung, dass bei so enorm hohen Investitionen, die Eltern in ihr meist einziges Kind tätigen, absolut alles perfekt laufen muss. Tut es das mal nicht, stehen ja diverse Therapieangebote parat ...
Höre ich da Vorbehalte Therapien gegenüber?
Hm. Natürlich gibt es echte Indikationen für Therapien. Dann sind sie sinnvoll. Aber gewiss ist nicht jede minimale Abweichung therapiebedürftig. Gerade in der Pubertät wirkt bei grossen häuslichen oder schulischen Schwierigkeiten ein Auslandsaufenthalt manchmal Wunder. Ganz ohne Therapie. Aber das ist meine ganz persönliche Meinung.
Pubertät – zu dem Thema fluten gerade Erziehungsratgeber die Buchhandlungen.
Wie viele von diesen Büchern dann allerdings gelesen werden, steht auf einem anderen Blatt. Ausserdem verkaufen sich einige Ratgeber vor allem aufgrund von Provokationen. Nehmen wir «Die Mutter des Erfolgs» – das Buch von Amy Chua. Erstaunlich, dass es als Aufforderung zum Drill rezipiert wurde. Die dadurch ausgelöste Empörung war höchst verkaufsfördernd. In Wahrheit aber ist es auch ein Protokoll des Scheiterns. Die jüngere Tochter hat sich aus der autoritären Erziehung ihrer Mutter schlicht ausgeklinkt. Jedenfalls zeigt das – übrigens süffig zu lesende – Buch, dass autoritäres Verhalten in liberaler Zeit nicht funktioniert. Versuanchen Sie doch mal, ein Kind 100 Mal schreiben zu lassen: «Ich bin blöd.» Nach dem dritten Satz ruft es die Telefonseelsorge an. Es passt einfach nicht in die heutige Zeit. Aber wir waren bei der Pubertät stehen geblieben.
Ist es heute schwieriger oder leichter, jung zu sein als früher?
Die Frage kann man so nicht beantworten. Früher zählte die Rebellion gegen Eltern und Lehrer, heute hat die Peergroup einen deutlich höheren Stellenwert: Facebook , andere Communities, angesagte Modemarken, wie das Aussehen von Gleichaltrigen eingestuft wird … Auch fallen heute viele Rituale und Strukturen weg. Zu meiner Zeit gab es übliche Abläufe: Konfirmation, dann Tanzschule, dann Freundin. Dass heute alles offen ist, alles selbst bestimmt werden muss, macht die Pubertät schwierig. Dafür ist anderes leichter geworden. Das Verdruckste in der Sexualität ist beispielsweise in den meisten Elternhäusern nicht mehr da.
Jürgen Oelkers
Apropos Elternhäuser: Was ist denn eine gute Mutter oder ein guter Vater?
DIE gute Mutter, DEN guten Vater gibt es nicht. Fehler machen gehört dazu. Nützlich ist es sicher, seinen Kindern zu vermitteln, dass sie akzeptiert werden und dass sie auf Verlässlichkeit bauen können.
Und Sie, haben Sie in der Erziehung Ihrer vier Söhne Fehler gemacht? Ist etwas schiefgelaufen, das Sie heute anders machen würden?
Das werde ich Ihnen hier nicht im Detail erzählen. Nur so viel: Fehler macht man in der Erziehung immer, wichtig ist, dass man sie korrigiert.