Sexfrei
Wer keine Lust auf Sex hat, ist nicht gestört
Es gibt kein Recht auf Sex. Auch nicht in einer Partnerschaft, findet Paartherapeutin Annica Plaßmann. Ein Gespräch über das Glück eines sexfreien Lebens Penispumpen und Rosen-Rabatten.
Frau Plaßmann, ich habe für dieses Interview Ihr «Sexfrei»-Buch gelesen. Mein Mann hat leicht beunruhigt reagiert, als er es auf unserer Couch hat liegen sehen…
Anica Plaßmann (lacht) Ja, es ist schon erstaunlich, wie sehr allein das Wort «sexfrei» verwirrt und Emotionen schürt. Es scheint sofort der Gedanke aufzukommen: «Oh Gott, wenn sich der Gedanke verbreitet und ein sexfreies Leben Schule macht… Schrecklich.» Sex ist unserer Gesellschaft eine heilige Kuh, keinen Sex zu haben, ein Tabu.
Haben Sie deshalb das Buch geschrieben, wegen des Tabus?
Genau. Vor allem habe ich den Titel «sexfrei» bewusst ausgesucht, um mit «frei» die Freiheit der Wahl zu betonen. Es ist doch befremdlich, dass man heute zwar problemlos erzählen kann, man ginge in einen Swingerclub oder hätte einen schicken Fetisch, aber nicht sagen kann: Mir gibt Sex nicht genug. Ich bin da jetzt mal eine Weile raus.
Es geht Ihnen nicht um asexuelle Menschen, sondern um solche, die zwar im Prinzip nichts gegen Sex haben und vielleicht auch wieder welchen wollen, aber derzeit lustlos sind und eine Weile aussteigen möchten. Über welche Dauer reden wir da. Eine Woche? Zwei Jahre?
Das ist individuell. Es gibt Partnerschaften – bei Singles ist sexfrei oder ohne Partner*in gang und gäbe – da findet einer schon nach einer Woche: Boah, das ist mir zu wenig, ich krieg jetzt ganz schlechte Laune. Und es gibt Paare, da wird das erst nach Wochen oder Monaten ein Problem. Manchmal wird es auch gar keins, aber die Pärchen kommen natürlich nicht zu mir.
zvg
Anica Plaßmann (* 1975) ist promovierte Pädagogin, Paar- und Sexualtherapeutin. Sie lebt und arbeitet in Kiel. In ihrer Praxis erlebt sie immer wieder, wie sehr es als Makel empfunden wird, keine Lust auf Sex zu haben. Und: welcher Teufelskreis entsteht, wenn ein Paar verzweifelt versucht, den Sex wieder hinzuwürgen.
➺ A. Plaßmann: «Sexfrei – Weil es okay ist, keine Lust zu haben», Knaur, 26.90 Fr.
Welche Paare sind von dem Unlust-Problem am häufigsten betroffen und was raten Sie ihnen?
Am häufigsten: Eltern. Aber auch Paare so ums Rentenalter herum. Aber ich rate nicht vordringlich etwas, um «das Problem zu lösen». Das ist mir wichtig! Was ich vermitteln und generell mal klar machen möchte, ist: Es gibt kein Recht auf Sex. Das gibt es einfach nicht. Auch nicht in einer Beziehung. Jeder Mensch hat die Freiheit, jederzeit sagen zu dürfen «Nein, jetzt nicht» oder «hören wir auf». Ja, auch mittendrin darf man noch seine Meinung ändern und abbrechen. Der Notausgang muss jederzeit offen stehen. Das scheint ein No-Go zu sein. Besonders Frauen trauen sich nicht mittendrin abzubrechen, wenn der Sex für sie in die falsche Richtung läuft. Auch junge, sehr emanzipierte Frauen tun das nicht. Sogar diese Frauen denken: Wer A sagt, muss auch B sagen. So ein Unfug! Man darf auch sagen: Ich pfeif darauf, jetzt ist Schluss! Meine Beobachtung ist: Es ist nicht nur Humbug, es zu pathologisieren, wenn jemand keine Lust (mehr) hat. Es ist auch enorm schädlich.
Moment, ist Sex kein Trieb, so wie Essen? Da stuft man ja auch als «krank» ein, wer damit aufhört…
Seit den 50er-Jahren weiss man, dass Sex kein Trieb wie Essen ist. Man braucht ihn nicht zum Leben, man stirbt nicht ohne. Der gute, alte Freud ist heute überholt. Nein, wer keine Lust auf Sex hat, ist nicht gestört. Auch nicht, wer in einer Partnerschaft keine Lust auf Sex hat. Das darf so sein.
Ähm, ja. Aber ist das in einer Partnerschaft nicht ein bisschen, als träte man einem Tennisclub bei und dann wäre der Platz dauernd gesperrt…
(Lacht) So denken viele. Man glaubt, das gehöre unbedingt dazu und wenn man nicht will, dann stimme mit einem was nicht, dann müsse man an sich und dem Sexleben arbeiten. Dabei ist es genau dieser Druck, Sex wieder irgendwie hinzuwürgen, Schuld an einer Menge Elend. Diese ganzen Sex-Tipps in Magazinen «So wird es wieder heiss im Schlafzimmer» und so...
Wie meinen Sie das? Sollte man gar nicht erst versuchen, das lahme Liebesleben wieder flott zu machen?
Ich sag Ihnen was: Exakt diese Versuche können dafür sorgen, dass viele Frauen oder Männer gänzlich aussteigen. Sie machen lange Zeit mit, obwohl sie keine Lust haben. Und lernen durch solche unbefriedigenden Erlebnisse nur: «Ich wusste es ja, Sex bringts nicht.»
Aber man hört und liest doch immer «Der Appetit kommt beim Essen» oder «Man ist doch kein Stück Seife und nutzt nicht ab».
Aber wenn er nicht kommt, der Appetit? Und: Doch, in gewisser Weise ist der Mensch ein Stück Seife. Er nutzt sehr wohl ab. Erfahrungen machen etwas mit einem. Auch erotische. Menschen sind Lernwesen. Durch lustloses Mitmachen beim Sex und damit oft einhergehende schlechte Erfahrungen kommt eine traurige Spirale in Gang. Deshalb ist Gnadensex Mist. Der macht etwas kaputt. Sie ahnen ja nicht, wie viele – durchaus selbstbewusste – Frauen im Bett Dinge tun, die sie nicht mögen. Dem Verkehr zustimmen, obwohl sie dabei Schmerzen haben. Und für Schmerzen gibt es sehr viele Gründe. Oder Mütter, die es «einfach hinter sich bringen», obwohl sie unendlich müde sind oder mit den Gedanken ganz woanders. Das sollte nicht sein. Das macht aus etwas, das eigentlich schön sein könnte, gemeinsame Erotik nämlich, Stressiges, Belastendes, Problembehaftetes.
Wir reden hier mehr über Frauen als über Männer. Ist «sexfrei» eher ein Frauending?
Nein. Natürlich nicht. Es zeigt sich nur anders und später. Frauen halten lange einfach hin. Faken Orgasmen, damit es schneller vorbei ist und all so was. Männer reagieren schnell – und panisch. Zwei, drei Mal keine vernünftige Erektion und sie sind im Alarmmodus. Dann wird zügig das ganze Programm abgespult: Viagra vom Arzt oder vermeintlich hilfreiche Drogen aus dem Netz. Oder Experimente mit Penispumpen. Ich sag Ihnen, wenn so ein Penis ganz blau aus einer Penispumpe kommt, das ist kein schöner Anblick…
Okay, ja. Aber das ist nicht «sexfrei».
Danach läuft es so: Klappt es mit der Erektion dann immer noch nicht – denn auch Viagra ist ja kein Garant – dann behaupten Männer, sie seien zu müde und der Stress auf der Arbeit sei schuld. Bei den Partnerinnen – ich bleibe der Einfachheit halber mal beim heterosexuellen Paar – kommt dann, zack, der Gedanke: «Ich bin nicht attraktiv.» Und dann wird die nächste Eskalationsstufe gezündet. Die Frau denkt, sie sei nicht schön, wittert eine Affäre… Dann werden alle Tipps aus Netz und Medien beherzigt, sie wartet dann etwa nackt oder in einem Hauch von Schwarz zu Hause auf dem Sofa, wenn er nach Hause kommt, er fühlt sich gedrängt, lehnt ab, sie fühlt sich zurückgewiesen und gedemütigt…. Es wird so richtig schlimm.
Also kein guter Gedanke: Kinder zum Grosi, rein in die sexy Dessous und los geht’s?
So lange es keine Probleme gibt, ist alles okay. Aber bei Schwierigkeiten kommt ebendieser fatale Mechanismus von Drängeln, sich zurückziehen, noch mehr Drängeln, noch weiter zurückziehen in Gang. Die Gedrängelten meiden dann irgendwann jede liebevolle Berührung und jedes Küssen, weil sie befürchten, damit schlafende Hunde zu wecken und zu weiterem ermuntert zu haben. Bei einem so verhakten Paar gibt es dann keinerlei Zärtlichkeit mehr und auch keinerlei Bestätigung des Selbstwertgefühls des zurückgewiesenen Partners oder der zurückgewiesenen Partnerin… Beide fühlen sich dann unattraktiv, was auch nicht erotikfördernd ist.
Nun ja, es ist ja auch ein herber Schlag, nicht begehrt zu werden
Wieso eigentlich? Das muss man sich doch mal fragen. Wieso ist es fürs Selbstwertgefühl so wichtig, dass der andere einen anbetet, und findet, man sei eine Sexgöttin oder ein Sexgott? In einer Partnerschaft muss es doch wohl auch anderes geben, was verbindet und worauf man sein Selbstwertgefühl gründen kann. Da gibt es ja hoffentlich mehr als nur die Performance im Schlafzimmer. Da gibt es doch auch noch andere Qualitäten etwa als Mutter oder Vater, als Verbindendes die Kinder oder gemeinsame Hobbys…
Nicht für jeden ist gemeinsames Werkeln an den Rosen-Rabatten ein adäquater Ersatz für Sex.
Stimmt. Aber ich finde, man muss miteinander darüber reden. Und ganz klar sagen «Ich will das jetzt gerade nicht. Kannst du damit leben? Wie können wir uns einigen? Wie finden wir einen Kompromiss?
In Ihrem Buch schlagen Sie – wenig romantisch – einen Tauschhandel vor. Etwa: zweimal Bügeln gegen einen Handjob.
Ach, diese Romantik. Die ist sowieso eine Erfindung der Neuzeit. Aber ich finde es eigentlich auch nicht unromantisch, mit der geliebten Person ehrlich über seine tiefen Gefühle zu sprechen. Darüber, dass man sich vielleicht gerade unsexy fühlt, weil der Bauch von der Geburt schlabberig ist; darüber, dass einem im Büro alles über den Kopf steigt; über die Überforderung als Eltern... Das zeugt von Vertrauen. Vertrauen ist romantisch und nur so lässt sich eine Lösung erreichen.
Für eine kurze Zeit würde ich Ihnen recht geben. Aber auf Dauer? Da habe ich meine Zweifel.
Klar, wird das schwierig. Da muss man über Verlustängste reden. Darüber, ob man das Treue-Prinzip aufgibt, die Beziehung für Dritte öffnet. Ob Swingen eine Option sein könnte, Sextoys oder der Rat: Da ist das Badezimmer. Mach die Tür zu und dann viel Spass mit dir selbst…
Eine Trennung steht aber auch im Raum.
Ja, tut sie. Das ist so. Aber Sex, der freudlos betrieben wird, nur damit man ihn hat, führt langfristig auch zur Trennung und beschädigt zudem massiv die Person, die nur aus Pflichtgefühl mitmacht. Deshalb finde ich: Reden wir über Sex. Aber reden wir genauso darüber, wenn wir keinen Sex haben oder keinen wollen. Nur das ist frei.
Caren Battaglia hat Germanistik, Pädagogik und Publizistik studiert. Und genau das interessiert sie bis heute: Literatur, Geschichten, wie Menschen und Gesellschaften funktionieren – und wie man am besten davon erzählt. Für «wir eltern» schreibt sie über Partnerschaft und Patchwork, Bildung, Bindung, Erziehung, Erziehungsversuche und alles andere, was mit Familie zu tun hat. Mit ihrer eigenen lebt sie in der Nähe von Zürich.