Trennung
Wenn Mama einfach geht
Dass eine Frau den Mann verlässt, versteht man. Aber die Kinder? So ein Verhalten stösst auf eisiges Unverständnis. Nicht nur in der Familie, auch im Bekanntenkreis, ja in der ganzen Gesellschaft.
Es war kurz vor Weihnachten, am 16. Dezember. Schnee fiel in dicken Flocken vom Himmel. Es war bitterkalt, als Sonja* Mann und Kinder verliess. Sie wusste: «Ich komme nicht mehr zurück.»
Sonja, heute 44 Jahre alt, Mutter zweier Töchter, sagt im Rückblick: «Mein Mann und ich waren 17 Jahre verheiratet, verstanden uns gut, wir hatten die gleichen Gedanken, lebten eine offene Beziehung, es war ‹e suberi Sach›.»
Nach der Heirat kam das erste Kind. Sonja war damals 26 und wurde Vollzeitmama. Er arbeitete als Lokführer. Sie liebte ihre Kinder, ihren Mann. Sie hatte alles im Griff, alles musste perfekt sein: Kinder, Eigenheim, Garten, Ehe. Entscheidungen traf alleine sie, er hielt sich raus. «Für ihn stimmte, was ich wollte, alles ist so ‹gäbig gange›.» Manchmal wünschte sie sich schon mal so einen Kick von ihm, was Spontanes, Verrücktes. Doch das war nicht seine Art. Und das Leben war ja gut. Der Sex auch. Keiner wollte mehr.
«Du hast dich verändert»
Bis kurz vor 40. «Da ist es mir einfach passiert. So, wie andere ihr Schicksal haben, ist mir das passiert. Er schmeckte mir nicht mehr. Ich konnte ihn nicht mehr riechen.» Warum? «Ich kann es nicht erklären. Es war die Chemie, die nicht mehr stimmte.» Sein Rasierwasser, seine Zahnpasta, sein Haar, seine Haut. Sein Blinzeln, sein Lachen. «Ich konnte ihn nicht mehr ertragen.» Sie redete mit ihm darüber. Er sagte: «Ich kann nichts tun. Du hast dich verändert.»
Sie ging ins Fitnessstudio, nahm 15 Kilo ab, legte Wert aufs Äussere. «Ich fühlte mich super, fand mich total schön. Auch wenns blöd klingt, ich fühlte mich zum ersten Mal als Frau.» Doch mit ihm wollte sie ihr Frausein nicht mehr teilen.
Der andere sieht gut aus. Aufregend sein Interesse. Das schmeichelt. Er lässt nicht locker, ist charmant. Witzig, anders. Es ist spannend Sie will Bäume ausreissen. Ein Jahr lang geniesst sie. Dann will sie ihn. Sie sagt es ihrem Mann. «Ich dachte, vielleicht kommt jetzt mal was von ihm, vielleicht haut er mir eine runter, schreit mich an, blöde Kuh, ich will dich nicht verlieren. Vielleicht kämpft er jetzt um mich, mit Schwert und Rüstung.» Doch es gibt keinen Streit, keine Diskussionen, «kein Davonlaufen oder einen Tritt in den Arsch». Er ist einfach still. «Vielleicht dachte er, das geht vorbei. Das muss man aussitzen. » Sechs Wochen später will er wissen, was läuft. «Ich habs ihm gesagt, ich wollte nicht lügen.» Er wirft den Ring auf den Tisch.
Rabenmutter, Emanze, dürre Tusse
Sie weiss, sie geht. «Ich konnte kaum von ihm erwarten, dass er auszieht.» Er versucht nicht, sie umzustimmen. Nur einmal sagt er: «Wenn du willst, kannst du bleiben.» Sie will nicht, findet eine Wohnung im Nachbarort. Sie ist gespannt, nervös, unsicher, voller Lust aufs Leben. Doch dann ist die neue Beziehung auf einen Schlag zu Ende. «Es war ihm wohl zu viel. Er wollte nicht mitmachen. Das war sehr schmerzhaft. Ich habe ihn sehr geliebt.» An ihrem Entschluss ändert das nichts. Keine Sekunde lang. Ein paar Tage, bevor sie auszieht, erfährt Sonja, dass ihr Mann eine Freundin hat. «Da wusste ich, dass ich nur Teil eines Bildes war, den er jetzt durch eine andere ersetzt.»
Die Familie wird zum Dorfgespräch. Nur wenige sagen: «Du hast Mut, ich würde auch, wenn ich könnte.» Die Meisten sagen Rabenmutter, durchgeknallte Emanze, will sich verwirklichen, nachholen, was sie verpasst hat, ohne Rücksicht auf die Kinder. Wie kann man nur. Sie sagen es ihr nicht ins Gesicht, die Kinder hören es auf der Strasse. Es tut weh. Freunde distanzieren sich. Die beste Freundin redet kein Wort mehr mit ihr. Die sozialen Kontakte frieren ein. Der Druck ist gross. Sie hält ihm stand.
Sonja
Die Wohnung ist klein. Zweieinhalb Zimmer. Mehr kann sie sich nicht leisten. Die Möbel von Ricardo, die Küche aus den 80ern. Sie bekommt einen Job bei der Ärztenotrufzentrale. Vollzeit. «Ich musste ja Alimente zahlen.» Sie hatte die Kinder gefragt, ob sie mit ihr gehen. Sie hatte gehofft, dass sie es tun. Die Mädchen waren 12 und 16 Jahre. Sie wollten nicht. Sie zeigten sich solidarisch mit dem Vater, waren wütend. «Blöde, dürre Tusse», sagte die Ältere, aufgebracht. Sie wusste, dass sie einen anderen hatte, war traurig und verletzt. Die Jüngere weinte: «Warum bleibst du nicht. Vielleicht auch nur für mich?» Es ging nicht. Sie sagte: «Ich gehe weg, werde aber immer bei euch sein.»
Die Freiheit schmeckt gut
«Es hat wie Feuer gebrannt im Bauch. Ich musste den wichtigsten Teil von mir zurücklassen.» Trotzdem geht sie. Und als sie die Tür ihrer Wohnung aufschliesst, fühlt sie sich wie 20. «Ich fühlte mich befreit von ihm, so gut, so neu. Es war so richtig.» Die ersten Tage sind aufregend. Einrichten, Pfannen, Töpfe, Zahnputzglas anschaffen, alles neu machen, alles schön. Sie geniesst es, frei zu sein und zu wissen, den Kindern geht es gut, er kümmert sich. Doch sie hat auch ein schlechtes Gewissen. Ich dachte: «Freu dich ja nicht zu früh, du hast etwas Schlechtes getan.»
Die Wochen vergehen. Der Alltag zieht ein. Ihre Gefühle fahren Achterbahn. Einerseits die Freiheit, die gut schmeckt. Dort der Verlust der Kinder, der neuen Liebe. Sie weiss nicht wie aushalten.
Sie lebt isoliert. Nur die jüngere Tochter kommt regelmässig zum Essen. «Sie hat es genossen und ich auch.» Die Ältere kommt nicht, ihre Wut hält an. Feiertage sind der Horror, Wochenenden auch. «Wenn ich nicht gearbeitet hätte, wäre ich draufgegangen.» Monate vergehen. Dann kommt die ältere Tochter auf Besuch, schon bald öfter, schon bald gern. Doch bleiben, mal eine Nacht oder so, wollen die Mädchen nie. «Ich bin nur auf Besuch, hier ist nicht mein Platz», haben sie gesagt. Die Mutter träumt von einem Leben mit den Töchtern.
Ihre Schwester hält zu ihr, ihre Mutter auch. Das macht ihr Mut: «Versuche das, was du jetzt hast, zu nützen. Es ist eine Chance für dich, it’s your party. Mach was draus.» «Ich wollte meine Stärke und meine Fröhlichkeit zurück. Dafür musste ich kämpfen. Ich habe mich zum ersten Mal richtig kennengelernt. Wäre ich geblieben, dann wäre ich kaputtgegangen.»
Sonja
Den Kindern geht es gut beim Vater. Doch seine wechselnden Partnerinnen machen ihnen Mühe. Der Vater ist abends oft weg. Die Mädchen wollen keine fremde Frau. «Ich wusste, sie brauchen mich, vermissen mich.» Doch sie hält sich raus, hat nichts zu sagen, kann nichts sagen. Sie traut sich lange nicht auszusprechen, was sie sich wünschen würde. Doch dann tut sie es trotzdem, fragt ihren Mann: «Wie wäre es, wenn ich wieder ins Haus gehe und du ziehst aus.» Und er sagt: Okay. «Es war wie früher. Ich gab den Input und er war einverstanden. Vielleicht war er auch ein bisschen erleichtert. Denn sein Alltag mit Schichtjob und zwei pubertierenden Mädchen war sicher kein Zuckerschlecken. Vielleicht dachte er auch, dass es nur fair ist, wenn ich jetzt die Kinder übernehme.»
Die Narben bleiben – bei allen
Sonja lebt jetzt wieder daheim. Die Möbel von Ricardo sind aufgestellt, die Schachteln ausgepackt. «Jetzt sehe ich meine Mädchen wieder am Morgentisch sitzen, mit verstrubelten Haaren und im Pyjama, wortkarg, und weiss, das ist es, wovon ich geträumt hatte.» Wie ist es, zurückzukommen? «Ich hatte grossen Respekt, und es ist auch nicht immer einfach. Es gibt oft Zoff, die Kinder verzeihen wohl nie restlos.» Doch sie sind froh, dass die Mutter wieder da ist: «Es ist halt einfach das Mami», sagt die Jüngere.
Nachbarn und Bekannte nehmen ihre Rückkehr zur Kenntnis, kommentiert aber wird sie nicht. Ist ihr Mann jetzt der Rabenvater? «Wir haben ‹nüüt söttigs ghört›.»
Das Leben ist heute ein anderes. «Ein befreites», sagt sie. Trotzdem hat die Geschichte Narben hinterlassen. Bei ihr, den Kindern, und wahrscheinlich auch bei ihrem Mann. Würde sie es wieder machen, so? «Genau so.»
In dieser Geschichte gibt es nicht diesen einen Tag, an dem sie gegangen ist, für immer. Es waren eher immer länger werdende Absenzen. Sie ging und kam und ging. Sie nannten es Beziehungsferien, bemühten sich, zu kitten, gingen zum Paartherapeuten, wollten es hinkriegen. Zuletzt nahm sie sich eine Wohnung. Zwar war auch da die Hoffnung noch nicht ganz tot. Erst am Tag der gerichtlichen Trennungsverfügung. Da wusste Georg, jetzt ist es so und es bleibt so. «Wie wenn man aus einem Word ein PDF macht.»
Tiefe Trauer
Es war Liebe auf den ersten Blick. Er war 18. Sie etwas älter. Er wusste, sie war es, mit ihr wollte er zusammenbleiben, lieben und leben. Und wenn man weiss, was man will, warum warten? Das erste Kind kam bald, kurz vor dem zweiten heirateten sie. Da war er zweiundzwanzig und Student. Sie in Ausbildung. Zwei Jahre später dann das dritte Kind. «Es waren gute Zeiten», so Georg Mattmüller.
Doch Kinder, Studium und Job fordern, machen Arbeit, lassen wenig Zeit. «Die Probleme kamen schleichend», sagt er. In allen Bereichen: bei der Betreuung der Kinder, der Belastbarkeit, dem Geld. «Ihre Vorstellung von Familie haben sich nicht erfüllt», sagt Mattmüller. Und irgendwann fing sie an, wegzugehen. Bis sie dann wegblieb. Die Kinder waren drei, fünf und acht Jahre. Zwei Mädchen, ein Junge. Sie blieben beim Vater. Er war 27 Jahre alt.
«Ich fühlte tiefe Trauer darüber, dass wir gescheitert waren», sagt Georg Mattmüller. Doch mit der Endgültigkeit kam auch Erleichterung, Entlastung. «Im dauernden Zerwürfnis zu leben, brauchte enorm viel Energie.» Nun konnte er durchatmen, sich auf sich selber verlassen. «Es gab wieder Verbindlichkeiten, das Leben wurde auf eine gewisse Weise einfacher.» Auch für die Kinder, die gelitten hatten, weil die Eltern sich ständig stritten, und weil die Mutter immer wieder wegging. «Als es definitiv war, spürte ich auch bei ihnen eine gewisse Entlastung», so Mattmüller. Doch sie waren traurig, verunsichert. Wo ist Mama jetzt, wie geht es weiter? Und wenn Mama gegangen war, geht Papa dann auch, irgendwann, einfach so? «Die Verlustängste waren gross», so Mattmüller.
Harter Alltag
Sie wohnten am Stadtrand von Basel. In einem Einfamilienhaus, das er von seiner Mutter mieten konnte. Alimente wurden ihm vom Gericht keine zugesprochen. Eine Bevorschussung hätte er gerichtlich anstreben müssen. «Doch dazu fehlte mir die Kraft», so Georg. Aus dem Studium ist er bald rausgeflogen. «Ich hatte weder Zeit dafür und auch keinen freien Kopf», sagt er. Er hat gejobbt, hat für die Kirche Alterswohnungen geputzt und bei der Post Pakete gestapelt. Durch diese Teilzeit- und Schichtjobs hatte er mehr Zeit für die Kinder. Trotzdem war er auf Fremdbetreuung angewiesen. «Ich hatte Glück mit tollen Nachbarn, dem Freundesnetz und meiner Familie.» Die Ex-Frau wohnte zwar ganz in der Nähe, ein regelmässiger Kontakt wäre möglich gewesen, habe aber nicht stattgefunden. Der Alltag mit den Kindern war eine grosse Organisiererei, enorm anstrengend. «Hin- und herseckle zwischen Job, Schwimmunterricht, Schule, Kindergarten und Hausarbeit, waschen, saugen, kochen », zählt Georg auf und zieht das Fazit: «Man ist immer am rennen, jeden Tag von neuem.» Und trotzdem hat er das Gefühl, dass es nie reicht; er kennt das schlechte Gewissen, dass die Kinder trotz allem zu kurz kommen.
Georg
Trotzdem: «Es war schön, das Leben mit den Kindern. Wir haben intensiv und nahe zusammengelebt, haben viel unternommen, sind oft rausgegangen, hatten einen grossen Freundes- und Bekanntenkreis. Ich habe ihre Kindheit hautnah miterlebt. Wären wir eine ganz normale Familie gewesen, wäre ich wohl ein Vollzeitjob-Papa geworden, der vieles verpasst hätte.»
Wachsen Mädchen, die beim Vater leben, mit Indianerfedern statt Spängeli in den Haaren auf? Georg lacht: «Nein, nein, bei uns gabs das ganze Programm mit Puppen, Rüschenröckli und Nagellack.» Und die typischen Teenagerdinge wie Schminken, Frisieren oder die erste Periode «konnte ich an Freundinnen der Familie abgeben».
Den Mädchen fehlte das Vorbild
Doch Unterschiede, findet Georg, gibt es schon. Männer erziehen vielleicht freier, unbeschwerter, weniger gluckenhaft. Etwa wenn die Kinder an kühlen Tagen ohne Mütze rumlaufen, wenn die Schnürsenkel rumflattern, oder wenn er sich aus Sandkastenreibereien der Kinder erst mal rausgehalten hat. Dann gabs immer mal wieder ungefragte Inputs, gutgemeinte Tipps, Bemerkungen und Ratschläge. «Von Frauen, natürlich. Wohl einfach darum, weil Männer ja nicht wissen, wie das mit den Kindern geht.» Und er hat sich geärgert, hat gekontert und es irgendwann einfach ignoriert.
Trotzdem: Eine Ausnahme war er allemal, der alleinerziehende Papa mit den drei kleinen Kindern. «Die Schulfreunde- Mamis waren gierig auf Rabenmüttergeschichten und stürzten sich förmlich auf Infos aller Art», erzählt er. Der Papa stand im Rampenlicht. «Leute, die ich überhaupt nicht kannte, wussten, wer ich war und glaubten, meine Geschichte zu kennen.» Diese Geschwätzigkeit und dieses Getuschel wurden ihm zu viel. Doch die Bewunderung vieler Frauen hat ein alleinerziehender Mann auf sicher. «Irgendwie ist man interessant. Das schmeichelt einem natürlich schon. Will man aber eine Frau kennenlernen und nicht eine Stiefmama, hat man eben schon drei Kinder im Schlepptau und ist bald nur noch mässig bis nicht mehr interessant.»
Georg
Georg ist heute 43 Jahre alt. Er sitzt in seinem Büro in Basel. Die Geschichte, wie er zum alleinerziehenden Vater wurde, ist jetzt bereits 17 Jahre alt. «Es ist die Trauer, die bleibt, weil wir es nicht geschafft haben als Familie.» Narben? «Ja, die gibt es. Bei den Kindern wie bei mir.» Für den Sohn sei es wohl am wenigsten schlimm gewesen. «Er war schon etwas älter, konnte das alles besser verarbeiten.» Die beiden Mädchen hat es härter getroffen. «Ihnen fehlte die Mutter sehr, das weibliche Vorbild, das Abgucken, Nachmachen, Abgrenzen, die Auseinandersetzung, alles, was es braucht zum Frauwerden.» Und die Tatsache, dass die Mutter so nah wohnte und trotzdem so weit weg war, schmerzte. Die Pubertät der Mädchen war dann auch heftig. «Es gab Streit und Gezänke von morgens bis abends. Da bekommt man als Alleinerziehender die ganze Ladung ab. Ich fühlte mich wie aufgefressen, die Kinder brachten mich an den Rand meiner Kräfte.»
Die Erlebnisse prägten ihn sehr. So wollte er nicht gleich wieder mit einer Frau zusammenziehen. «Das hätte ich meinen Kindern nie antun können.» Er wollte ihnen nicht eine Ersatzmutter organisieren. Und sich keine Ersatzpartnerin. Auch heute noch lebt er in einer Zweiraumpartnerschaft. Ist da auch die Angst, wieder zu scheitern? «Sicher. Man sucht sein Unglück nicht ein zweites Mal.»